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Die Zeit ist abgelaufen
Dieter stand der Schweiß im Gesicht und der Hass in den Augen. Seine Adern gerieten in Wallung, es schien als poche der gesamte Hals. An der linken Hand hing eine fast geleerte Flasche Wodka, das Etikett überflossen von dem allmählich versiechenden Blutstrom, der in der Mitte von Dieters Unterarm seinen Ursprung nahm. Nackt stand er da, torkelnd, unsicher und starrte auf das weiße Porzellanwaschbecken auf das er sich mit dem anderen Arm aufstützte.
Er hatte heute Abend Kopfweh gehabt, erinnerte er sich. Den Kopf vor Schmerzen haltend war er ins Bad gelaufen. Das Klo, er hatte gebrochen. Was falsches gegessen oder so was! Im Schrank hatte er nach Pillen gesucht.
Dieter griff zu dem kleinen Möbelstück oberhalb des Waschbeckens, versuchte ihn zu öffnen, konnte aber nicht. Müde war er, er wollte schlafen, möglichst lange. Vielleicht ein Tag, vielleicht zwei. Mal sehen.
Gleich nach dem Einnehmen war es ihm besser gegangen. Aspirin, toll! Braucht jeder! Noch schwach war er dann, im Laufen die Klamotten ausziehend, ins Schlafzimmer getorkelt. Er war so unendlich müde gewesen, doch noch wacher als er es in diesem Moment war.
Die Tür hatte einen Spalt weit aufgestanden. Geräusche, er hatte Geräusche gehört. Da war doch nur seine Frau, Editha?! Sie hatte doch schon geschlafen, als er zum ersten Mal ins Bad gewandelt war. Sie hatte sich unruhig bewegt, hatte er im dunkeln erforschen können. Lautes Atmen, stöhnen. Warum?
Dieter konnte sich nur noch schemenhaft erinnern. Unzählbaren Qualen belasteten sein Erinnerungsvermögen. Er griff sich mit beiden Händen an die Stirn. Die Flasche wurde losgelassen und zerplatze auf den weißen Badzimmerkacheln. Da war etwas gewesen! Nur was?
Die Tür hatte er aufgerissen. Das Flurlicht wurde dadurch plötzlich in einem Viereck auf die Seite seiner Frau geworfen, welche hochschrak und verängstigt in sein Gesicht geblickt hatte.
Da war doch was gewesen. Hatte sie jemanden versteckt? Eine Bewegung unter der Decke. Sie hatte jemanden versteckt. Dieses Kopfweh, da hatte es noch einmal angegriffen. Sie weinte; die Vase, das Gesicht, die Scherben, sein Blut, ihr Blut. Ihr Blut! An seinem ganzen Körper klebte es nun. Die rote Flüssigkeit bedeckte beide Arme, seinen Brustkorb bis zum Ansatz der Schamhaare. Kein Zweifel, sie war tot. Er hatte sie zerfleischt. Nicht nur einmal aus Versehen gestochen. Abgeschlachtet hatte er sie.
Was war mit dem anderen geworden? Er erinnerte sich nicht. Sein Schrei rauschte durch den Flur und die Zimmer der zweistöckigen Wohnung irgendwo in Berlin Mitte. Irgendwo war da noch etwas. Etwas in den Winden seines Gehirnes, was er bisher nicht wiedererleben konnte. Eine Synapse, die sich in diesem Moment nicht öffnen lies, ein minimaler Stromstoß, der nicht zum Laufen zu bringen war.
Da war einer. Einer hatte sie immer wieder heftig gestoßen, immer wieder, im ruhigen, konstanten Rhythmus, hatte gestöhnt. Er hatte das Gesicht gesehen. Irgendwie hatte er ihn in einem Augenblick erfasst. Da war einer.
In dem Bild auf dem Nachttisch neben dem Bett hatte es sich wiedergespiegelt. Durch die Lampe hinter ihm hatte sich sein Gesicht in ihrem Hochzeitsphoto gespiegelt. Er kannte ihn. Er erkannte ihn gerade wieder, als er in den Spiegel des Badezimmerschranks gegenüber von ihm blickte.
Halbwegs besonnen schaffte er es den Schrank zu öffnen.
Dieter hatte sich wohl geirrt. War gar kein anderer da. Kein Wunder, das Haltbarkeitsdatum von den Tabletten war bereits abgelaufen."Ärgerlich!"