Was ist neu

Die Zeit

Mitglied
Beitritt
30.07.2009
Beiträge
2

Die Zeit

Immer wenn sich unsere Welt mal wieder zu schnell für mich dreht, verlasse ich sie. Dann halte ich für einen Moment inne, mitten im Leben, auf der Arbeit, im Bus, im Cafe, beim Zeitung lesen, beim Fernsehen, kehre in mich, werde ruhig, bewegungslos. Und dann wandere ich los.
Ich wandere an meinem Tag vorbei, an den Dingen die ich gerade getan habe, an den Dingen die ich am Vortag gemacht habe, vor einer Woche, vor einem Monat, vor einem Jahr. Schließlich komme ich in meiner Kindheit an. Ich stehe dann vor einem Birnbaum, meinem Birnbaum, der mir früher die schönsten Geschichten erzählt hat. Aber ich bin jedes mal zu müde mich an eine von ihnen zu erinnern, lehne mich nur kraftlos gegen den Stamm des Birnbaums und schlafe ein. Wenn ich wieder aufwache, bin ich in der Realität. Ich mache dass, was ich sowieso den ganzen Tag mache, höre und sehe das, was um mich herum passiert. Aber in dieser Realität ist alles anders. In dieser Realität vergeht die Zeit langsamer, so langsam, dass ich lange genug Zeit habe, alles zu beobachten, zu sehen, zu genießen. Deshalb kann ich dort immer Kraft schöpfen für die Wirklichkeit. Wenn ich dann an meinem Baum gelehnt aufwache, nehme ich mir die Zeit mich an eine von seinen Geschichten zurückzuerinnern. Auf dem Rückweg in die Wirklichkeit gehe ich dann an den Dingen vorbei, die ich verpasst habe, die ich das letzte Jahr, den letzten Monat, die letzte Woche nicht getan habe. Schließlich komme ich in der Wirklichkeit, im Leben an.
Es ist jetzt fast zwei Wochen her, dass ich mich das letzte mal auf die Suche nach meiner Realität machte. Ich hatte mir für über ein viertel Jahr nicht mehr die Zeit dafür genommen, als mir plötzlich der Himmel über dem Kopf einstürzte. Alles wurde zu viel, die Welt drehte sich zu schnell. Doch dieses mal, als ich meine Realität suchte, sollte ich sie nicht finden.
,,Madita, kannst du vielleicht auch noch die Nebenkostenabrechnung für den Chef eben machen?“, hörte ich meine Kollegin rufen. Das war zuviel, wie sollte ich das auch noch machen? Ich hatte doch genug zu tun. ,,Er braucht sie bis morgen Mittag“ ,setzte sie nach. Mir wurde schwindelig, alles um mich herum drehte sich. Der Terroranschlag gestern in New York, mein Schulabschluss, Tsunami in Thailand vor zwei Wochen, Steuererhöhungen in Deutschland, Studium vor einem Jahr, Krieg in Irak, Mauerfall drei Jahre her?, Doktorarbeit, Flüchtlinge in Afrika, arbeitslos, Informationen aus Australien, Kapitalismus, neuer Job, neue Wohnung, Finanzkrise, Kalter Krieg heute?, erstes Fahrrad, ich war doch gerade erst 18 geworden. Zu viele Informationen, zu wenig Zeit. Wann war ich 20 geworden? Wie alt war ich jetzt? Alles flog weg, dahin, im Strudel, ich sah keinen Anfang mehr, keine Ordnung, keine Zeit. Und dann tauchte er auf, erst nur ein sachter Schatten, dann konnte ich seine Umrisse immer deutlicher sehen: mein Birnbaum. Er war das einzige, was sich nicht drehte. Ruhig und fest stand er da. Ich kämpfte mich durch den Strudel, wurde zurückgerissen, konzentrierte mich auf den Birnbaum, nahm alle Kräfte zusammen, konnte ihn fast berühren, wurde wieder weggespült. Meine Kräfte schwanden, im letzen Moment erreichte ich ihn, klammerte mich an ihn, der Birnbaum war meine letzte Rettung, einzige Insel im tosenden Ozean.
Für einen Moment konnte ich durchatmen, ich war jetzt in Sicherheit, gleich würde ich wieder einschlafen und endlich meine Realität wiederfinden. Doch ich schlief nicht ein, um mich herum toste immer noch der Strudel aus Zeit und Raum, lenkte mich ab, immer wieder sah ich Fetzen von Ereignissen an mir vorbeifliegen. Wo war die Ruhe, wo die Idylle? Ich sah an meinem Birnbaum hoch. Seine Rinde war alt und bröckelig geworden, an einigen Stellen sogar morsch, kein Gras wuchs an seinen Wurzeln und seine Blätter hingen verwelkt von den teilweise abgebrochenen Ästen hinab. Alles war braun und gelb, sterbend, kein hoffnungsbringendes grünes Blatt wehte mehr im Wind.
,,Madita, du musst mich retten“ ,hörte ich eine raue Stimme flüstern. Konnte das die Stimme meines einst so kräftigen Birnbaums sein?
,,Kehre in dich, suche nach mir, suche nach der Zeit mit mir. Du musst sie finden, sonst ist alles zu spät. Die Erinnerung an mich wird sterben, die Geschichten werden sterben, die Zeit wird alles verschlingen...“, seine Stimme war kaum noch hörbar, nur ein leises Krächzen, das schließlich ganz abbrach.
,,Birnbaum? ...Birnbaum!“, schrie ich verzweifelt, doch mein Birnbaum rührte sich nicht. Er war wie tot, wie konnte ich ihm helfen? Immer noch befand ich mich in dem Strudel der Ereignisse. Der Wind brauste, ich sah wie meine Kindheit um mich herumwirbelte, mein erstes Bewerbungsgespräch, zwischendurch blitzten Geschehnisse aus aller Welt auf. Ich blickte in den Strudel, suchte nach Hilfe, was konnte ich nur tun? Auf die einzelnen Ereignisse konnte ich mich nicht konzentrieren, alles flog zu schnell an mir vorbei, ein einziger, nicht enden wollender, reißender Strom, eine Flut. Da begann es auch noch zu regnen, es schüttete Erinnerungen, Momente, die ich einmal erlebt hatte, fielen auf mich herab. Und ich stand mitten in diesem Sturm, verloren, verzweifelt, von ihm gefangen. Eine Windböe riss an meiner Kleidung, ich klammerte mich an meinen Baum. Der Wind wurde immer heftiger. Die nächste Windböe ergriff mich, ich wurde herumgewirbelt, von der Zeit überrannt. Im letzten Augenblick konnte ich mich losreißen, abwenden von den Erinnerungen aus der Vergangenheit und nach einem Ast greifen. Ein Gefühl von Sicherheit durchströmte meinen Körper, der Strudel brauste weiter. Ich bemühte mich ihn zu ignorieren. Denk an das Wesentliche, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich sollte in mich kehren, hatte der Birnbaum gesagt. Aber wie denn, in diesem Getöse? Suche nach mir, hatte der Birnbaum gesagt, aber ich hing doch in seinen Ästen! Eine Erinnerung spritzte mir ins Gesicht wie Wasser, jetzt erst bemerkte ich, dass die Insel, auf der mein Birnbaum stand immer kleiner wurde, bald würde das Wasser, oder der Zeitstrom der Vergangenheit?, meine Füße erreichen. Wieder riss eine Windböe an meiner Kleidung, meine Haare klatschten mir nass und eisig kalt ins Gesicht. Ich versuchte mich zu konzentrieren, in mich zu kehren, nach und nach verlangsamte ich meinen Atem, wurde still, bewegungslos und blendete den Sturm um mich herum schließlich ganz aus. In meinen Gedanken hob ich ab, entfernte mich von meinem Birnbaum, das Brausen des Strudels wurde zu einem kaum wahrnehmbaren Rauschen. Ich flog hoch, bald schon schwebte ich in den Wolken, nur um im nächsten Moment wieder abzustürzen. Der Sog des Strudels war zu stark, ich konnte nicht gegen ihn ankämpfen. Er zog mich in sich hinein, das Wasser berührte jetzt meine Füße. Ich musste es noch einmal versuchen, aber meine Kräfte schwanden. Ich nahm mich zusammen, diesmal zählte ich leise, unendlich langsam bis hundert. Als ich bei 67 angekommen war, merkte ich das meine Glieder leichter geworden waren, kein Wind riss mehr an meiner Kleidung. Eine sanftwarme Brise kräuselte mein Haar. Und da stand er: mein Birnbaum, groß, kräftig, so atemberaubend wie eh und je. Ich musste daran denken, wie ich mich als Kind hinter ihm vor meiner Mutter versteckt hab, wie ich größer geworden bin und es liebte die Vögel in seiner Krone zu beobachten, und schließlich wie ich aus dem Haus meiner Eltern auszog, keine Zeit mehr für den Birnbaum hatte, jetzt zählte nur noch höher, weiter, schneller. Auch die Zeit verging seitdem nicht mehr, sie raste. In diesem Moment musste ich an die Realität denken, die ich jedes Mal in verlangsamter Form sah, wenn ich bei meinem Birnbaum war. Und auch diesmal dachte ich wieder in die Wirklichkeit, aber diesmal verlief sie doppelt so schnell wie normal. Ich spürte wie mein Atem schneller wurde bei dem Gedanken an die Nebenkostenabrechnung. Und Mist, ich musste ja auch noch das Protokoll für die Sitzung ...wie sollte ich das schaffen? Der Stress nahm mich wieder in seinen Bann, mein Herz schlug schneller, ich bekam Panik. Wie konnte ich in diesem Moment nur an so etwas unwichtiges wie den Birnbaum denken? Ich merkte erst, dass ich fiel, als ich schon wieder das Tosen des Strudels hörte. Dort war er mein Birnbaum, seine Blätter immer noch verwelkt, grau, kein Lebenszeichen war mehr zu erkennen. Ich war gescheitert. Ich fiel durch den Sturm auf die Flut der Erinnerung zu, platschte in sie hinein, ertrank.
,,Madita? Hast du gehört, was ich dir gerade gesagt hab?“, fragte meine Kollegin. Ich nickte nur sachte, sie ging. Ich blickte auf die Uhr, fünf, Feierabend. Heute sollte ich einmal nicht die letzte sein, die das Büro verließ. Ohne ein Wort ging ich, setzte mich in mein Auto und fuhr zu meinem Eltern. Auf direktem Weg ging ich in den Garten, lehnte mich an den Stamm meines Birnbaums. Hier stand er, genauso wie ich ihn damals zurückgelassen hatte. In meiner Fantasie hingegen existierte nur noch als abgestorbener, verlebter, alter Baum, ein Opfer unserer Zeit. Da wurde mir klar, dass ich mir wieder die Zeit nehmen musste meinen Birnbaum zu besuchen, denn immer wenn ich ihn in meiner Fantasie suchen würde, würde ich nur den toten Baum finden, zermalmt von unserer Zeit. Ich würde mir immer wieder vor Augen halten müssen, dass es in unserer Wirklichkeit keine Zeit fürs Innehalten gibt.
Meinem Birnbaum hatte ich nicht helfen können. Was würde der Sog nächstes Mal mit sich ziehen?

 

Hallo Pusteblume!
Die Geschichte gefällt mir. Man muss sich einfach mal klar machen, was das Wichtigste im Leben ist.
Gut geschrieben, nur zu Anfang ein wenig verwirrend für mich.

Ganz wichtig finde ich: Bitte mache Absätze in deine Geschichte. Es ist wirklich anstrengend so zu lesen. Und das gilt bestimmt nicht nur für mich ;)

Mach weiter...
Lieben Gruß
Joker

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom