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Die Zeitmaschine

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09.09.2006
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Die Zeitmaschine

Die Zeitmaschine
Roland Enders
2006

Simon Decker gelang etwas, das für unmöglich gehalten wurde: der Bau einer Zeitmaschine.
Seine Motivation war weder die Jagd nach Ruhm oder Geld noch die unschuldige Neugier eines Forschers. Er brauchte sie. Dringend.
Er scherte sich nicht um all die Einwände und Gegenargumente, die die Physiker vorbrachten. Er hatte einige Artikel und Aufsätze von Hawking, Ellis, Everett und anderen Theoretikern gelesen, aber vieles davon nicht verstanden, und den Rest hielt er für blanken Unsinn. Denn Simon war kein Wissenschaftler, sondern ein erstklassiger Maschinenbauingenieur und ein Tüftler, ein genialer Erfinder und Praktiker. Seine mangelnden Theoriekenntnisse kamen ihm zugute: wer die Schwere der Aufgabe nicht kennt, der hat auch keine Angst zu versagen. Er ließ sich nicht einschüchtern von den schier unüberwindlichen Hürden, die die theoretische Physik ihm in den Weg stellte, er rollte den Stein einfach mit nicht zu bremsendem Elan den Berg hinauf und war schon oben, bevor er zweifeln konnte. Sein Schicksal war nicht das von Sisyphus, oh nein.
Eine Zeitreise in die Vergangenheit ist zwar, so die einhellige wissenschaftliche Meinung, theoretisch möglich, aber praktisch nicht durchführbar, denn:
Sie verschlänge mehr Energie, als das ganze Universum in sich trägt.
Sie wäre nur möglich bis zu dem Zeitpunkt, da eine Zeitmaschine existierte. Man könnte also niemals in eine Vergangenheit vor der Erfindung der Zeitmaschine zurückreisen.
Sie führte zu Zeit-Paradoxa wie dem, dass man – sollte man seinen eigenen Vater vor dem Zeugungsakt ermorden –, selbst nie geboren würde.
Solche logischen Sackgassen kann man nur wegdiskutieren, wenn man annimmt, dass jeder Eingriff eines Zeitreisenden in die Geschichte entweder prinzipiell unmöglich ist, oder zu einer Aufspaltung der Zeit und zwei sich parallel entwickelnden Universen mit unterschiedlicher Geschichte führen muss. Die erste Annahme würde dem Zeitreisenden jeden freien Willen nehmen und ihn zum Spielball der Vorsehung machen, die zweite käme einem göttlichen Schöpfungsakt gleich: Doch wie könnte ein einzelner Mensch ein ganzes Universum erschaffen?
Simon war kein Philosoph, ihn interessierten solche Fragen nicht. Er wollte nur eines: Zurück in die Vergangenheit, um einen schlimmen Fehler wieder gutzumachen. Denn Simon Decker hatte gemordet.

Vor vier Jahren hatte er damit begonnen, sich ernsthaft mit der Konstruktion einer Zeitmaschine zu befassen. Als er die Qual, die ihm sein Gewissen bereitete, nicht mehr aushalten konnte. Seine Seele war ein Druckkessel, der bis zum Bersten unter Dampf stand. Die Aufgabe, die er sich auferlegt hatte, war das Überdruckventil, das die mentale Explosion, die sonst eingetreten wäre, verhinderte.
Simon war der Auffassung, der menschliche Geist sei imstande, alle Probleme zu lösen, wenn er nur wollte. Er glaubte an das Göttliche im Menschen, das ihm fast Allmacht verlieh. Diese aus seiner Sicht optimistische, in den Augen anderer überhebliche, ja, größenwahnsinnige Einstellung hatte ihm geholfen, seine zahlreichen genialen Maschinen zu konstruieren. In der Firma nannte man ihn bewundernd Mission Impossible. Dennoch war ihm nicht alles gelungen, was er angepackt hatte. So war er am Perpetuum Mobile, der Maschine, die den Energieerhaltungssatz ausgehebelt hätte, gescheitert. Wenn auch nur knapp. Sein Gerät bewegte sich immerhin 61 Tage lang ohne Energiezufuhr von außen. Simon war davon überzeugt, den Fehler finden und beheben zu können, aber er verlor das Interesse am Perpetuum Mobile, nachdem er Gina umgebracht hatte. Die Zeitmaschine wurde zur Besessenheit und verdrängte alle anderen Herausforderungen.
Dennoch hatte sich seine Arbeit am Pepetuum Mobile gelohnt, denn die Funktion der Zeitmaschine beruhte auf derselben Theorie: Simon war überzeugt, dass die Welt über eine schier grenzenlose Kraftquelle – das Deckersche Fluidum – wie er sie nannte, verfügte. Diese Energie sei zwischen ihren Bausteinen, den Atomen und subatomaren Teilchen, kurz nach der Entstehung des Universums im Urknall kondensiert und könne deshalb nicht fließen.
Um sie nutzbar zu machen, benötige man nur eine geringe Anstoßenergie und die Kenntnis der Resonanzfrequenz des Fluidums. Die Anregung der Kraftquelle zur Eigenschwingung sei allerdings sehr diffizil und setze feinste Abstimmung aller Komponenten voraus.
Mehr als drei Jahre lang füllte er karierte Schulhefte mit anfangs dahin geworfenen Skizzen, später detailliert ausgeführten Zeichnungen, Berechnungen und Formeln. Dann ging er zu den hohen Tieren der Firma, den Weißkitteln aus der Forschungsabteilung mit ihren Doktor- und Professorentiteln, und trug ihnen seine Ideen vor. Natürlich waren sie mehr als skeptisch, aber sie kannten den Mann, der Mission Impossible genannt wurde, und wussten, wozu er fähig war. Simons Zeitmaschine war so einfach konstruiert, dass sie mit relativ geringen Kosten zu bauen wäre und kaum Ressourcen verschlingen würde. Warum also nicht einen Versuch wagen? Sie gaben ihm freie Hand.
Ein Teil der Werkstatt wurde für ihn abgetrennt. Er bekam alles, was er wollte: Messgeräte, Kondensatoren zur Aufladung mit elektrischer Energie, Isolatoren, Spulen, Magnete, Hochleistungswiderstände, Kryogene wie flüssigen Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Er baute thermisch isolierte Tanks, um die Spulen zu kühlen, denn nur bei tiefen Temperaturen war die Frequenzbandbreite schmal genug, die Resonanz anzustoßen. Die Steuerungselektronik, die er in einen aktenschrankgroßen Kasten einbaute, war rein analog. Zwar benutze er Computer als willkommene Werkzeuge, aber wenn es um es das Deckersche Fluidum ging, war jede Form von Digitalisierung und Quantelung hinderlich.
Er ließ niemanden in sein kleines Labor. Jedwede Kontrolle oder auch nur Beobachtung durch seine Kollegen hätte ihn in der Konzentration gestört. Er verweigerte jede präzise Auskunft, und so erfuhr auch niemand genau, was in dem Verschlag im hinteren Bereich der Werkstatt vorging und ob er Fortschritte machte, bis er eines Tages verkündete, er habe es geschafft. In seiner schroffen Art verweigerte der Eigenbrödler eine Vorführung, bestand darauf, die Maschine erst einer ausführlichen Testphase zu unterziehen, und zwar bei ihm zu Hause. Die Firmenleitung ließ ihn gewähren. Es war ja auch kein Akt, ein 120 kg schweres, kleiderschrankgroßes Artefakt mit dem Lastenaufzug drei Treppen nach oben zu transportieren, denn Simon wohnte – wie viele andere Kollegen auch – in der Pension.
Die Pension gehörte der Firma und war in deren weitschweifigem Gebäudekomplex untergebracht. Simon hatte dort ein Zimmer. Er brauchte keinen Komfort. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Gemeinschaftsbadezimmer auf dem Flur genügten ihm. Er hasste Zeitverschwendung und lange Wege und war deshalb froh, in der Firma essen und schlafen zu können. Die Mahlzeiten nahm er in der Kantine zu sich. Sie dienten ihm nur zur Auffüllung seiner Energietanks. Der Geschmack war ihm egal.
Und so trugen eines Tages vier in graue Overalls gekleidete Arbeiter die Einzelteile der Maschine in sein Refugium, wo er sie in nur zehn Stunden zusammenbaute. Nach monatelanger Optimierung war sie klein und einfach geworden. Sie benötigte nicht länger riesige Elektromagnete und Kondensatoren, brauchte keine Flüssiggase mehr. Als er vor ihr stand, und den rechteckigen, türgroßen Rahmen, um den eine Kupferspule gewickelt war, und den daran angeschlossenen kofferradiogroßen Steuerungskasten betrachtete, erfüllte ihn großer Stolz. Wie elegant, wie einfach und hoch komplex zugleich seine Zeitmaschine doch war!

Am Abend wagte es Simon. Sein Plan war, sieben Jahre in die Vergangenheit zu reisen, den Mord an Gina zu verhindern, und dann wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Ein einfacher Plan. Er zweifelte nicht daran, dass er gelingen würde.
Gina war eine Zufallsbekanntschaft gewesen. Sie lief ihm unvermittelt über den Weg, und er – für den Frauen Angst einflößend, fremdartig und unverständlich waren wie Aliens von einem fernen Planeten – verfiel ihr in einem Augenblick. Ihr Lächeln war der Atomblitz, in dem sein Panzer aus Gynophobie verdampfte. Seine Physiologie geriet völlig aus der Balance: vom Herzrasen über Gänsehaut und Hitzewallungen bis zum Ziehen in den Lenden spürte er so ziemlich jedes Symptom der Verliebtheit, das einen Mann befallen konnte. Hormone überschwemmten seinen Blutkreislauf und lösten ein Chaos in seinem Körper aus, und sein Gehirn war nur noch subkortikal funktionsfähig. Es war für Gina ein Leichtes, ihn in ihrem Netz – gewoben aus lasziven Blicken, erotischer Körpersprache und Pheromonen – zu fangen und ihr Liebesgift zu injizieren. Sie würde ihn verspeist haben, wenn nicht...
Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, was ihn so in Wut versetzt hatte. Irgendwann in dieser Nacht kippte alles, wurde aus einem leidenschaftlichen Traum ein Trauma des Leids. Von einer Sekunde auf die andere hatte seine Welt einen Riss bekommen, ein Dämon fuhr in ihn, und er wurde zum Berserker.
Nach der Tat war er geflohen. Niemand hatte ihn gesehen. Danach wurde sein Leben ein einziger Alptraum.
Heute Nacht nun sollte alles anders werden. Er würde Gina noch einmal begegnen. Und diesmal würde sie ihn lebend verlassen.
Er schaltete die Maschine ein. Sie begann leise zu summen. Lämpchen blinkten, Skalen leuchteten auf, Zeiger bewegten sich, pendelten und standen schließlich fest auf ihrem Skalenstrich. Mit seinem Taschenrechner berechnete er die Frequenz aus der Raum-Zeitdifferenz zwischen dem Reiseziel und dem Hier und Jetzt und stellte sie an dem großen, geriffelten Drehknopf ein. Er musste noch einige Minuten warten und ein paar Mal nachkorrigieren, bis sie aufs Hertz stimmte und stabil stand. Ein kaum zu sehendes Flirren erschien in dem leeren Rahmen, wie das Flimmern der Luft über einer heißen Asphaltstraße. Durch die Öffnung hindurch sah er die Umrisse des Zimmers verschwimmen und ein anderer Raum erschien dort. Er hielt die Luft an und trat hindurch.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und starrt auf die vollgekritzelten Papiere. Die Schrift verschwimmt vor seinen tränenden Augen. Er kann nicht mehr klar denken, sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Wahrscheinlich, weil er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hat. Sein Blutzuckerspiegel muss in den Keller gesunken sein. Und der Kühlschrank ist leer. Er hat vergessen einzukaufen.
Sein Blick fällt auf die Wanduhr: 22:20. Draußen ist es längst dunkel. Nur die Schreibtischlampe erhellt sein Arbeitszimmer ein wenig – und die flackernde Neonreklame unten von der Straße.
Ärgerlich schaut er durch das Fenster. Auf einmal wird ihm bewusst, dass das grelle, kalte Licht dieser Leuchtstoffröhren neu sein muss. Gestern hat er es noch nicht wahrgenommen. Er blickt genauer hin. Auf einem Schild blinkt der Schriftzug Cadillac über einem flossenbewehrten, minzefarbenem Straßenkreuzer. Ein Schnellimbiss hat anscheinend auf der gegenüberliegenden Straßenseite neu eröffnet. Eines von der Manhatten-Sorte aus den 60er Jahren: chromblitzend und abweisend. Aber dort gibt es etwas zu essen. Er merkt, dass ihm schlecht vor Hunger ist.
Er steht auf, steckt den Schlüssel ein und verlässt die Wohnung.

Er sitzt auf einem wackeligen Plastikstuhl an einem Resopaltisch und studiert gerade die Speisekarte, als ein Schatten darüber fällt. Ärgerlich blickt er auf.
Eine Frau – die Bedienung – steht vor ihm und lächelt ihn fragend an. Sie muss wohl etwas gesagt haben, aber er hat nichts gehört. Er fühlt sich wie schockgefroren, außerstande den Mund zu öffnen, eine Bestellung aufzugeben oder sonst ein Lebenszeichen von sich zu geben. Er starrt sie bloß an. Sie ist – eine Göttin!
Würde ihn jemand um eine Beschreibung von Gina gebeten haben (der Name steht auf einem Plastikschildchen über ihrer rechten Brust), er fände keine Worte als das eine: perfekt. Es spielt keine Rolle, dass ihre Nase etwas schief, der Mund etwas groß, dass eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen ist. Die vielen Sommersprossen und das karottenrote Haar stören ihn nicht das Mindeste, ebenso wenig wie ihr Babyspeck. Alle kleinen Unvollkommenheiten werden von ihren jadegrünen Augen und ihrem Lächeln überstrahlt und in ein milchiges Licht getaucht, das sie weich zeichnet wie in einem Foto Helmut Newtons.
Irgendwann löst sich seine Erstarrung, und er bestellt krächzend einen Hotdog mit Kartoffelsalat. Während er ihn so langsam isst, als sei das seine Henkersmahlzeit, irrt sein Blick immer wieder zu ihr. Sie hat nur wenige Gäste zu bedienen und steht die meiste Zeit an der Theke. Er weiß, sie fühlt seine Augen auf sich, denn sie sendet ihre Reize aus, schenkt ihm immer wieder ihr bezauberndes Lächeln, streicht sich mit einer anmutigen Geste eine Locke aus der Stirn, streift kurz einen ihrer Pumps ab, um sich mit der nackten Fußsohle an der Wade des anderen Beins zu streicheln.
Schließlich kann er es nicht länger hinauszögern. Er muss zahlen und gehen. Aber nachdem er ihr ein großzügiges Trinkgeld gegeben hat, hört er sich zu seiner großen Überraschung und zu seinem Entsetzen fragen, wann sie Feierabend habe. Um Mitternacht, antwortet sie. Ob er sie denn danach auf einen Drink einladen dürfe? Sie fühle sich geehrt. Also dann bis später.

Um sieben vor zwölf steht er wieder vor dem Imbiss, im Schatten, abseits des kalten, bonbonfarbenen Lichts, das durch die Fenster fällt. Er traute sich nicht, hineinzugehen. Trotz der späten Stunde ist es unangenehm schwül. Er schwitzt. Eine Minute nach Mitternacht öffnet sich die Tür. Sein Herz stockt.
Wo sie denn hingehen sollten, fragt sie lächelnd. Da wird ihm klar, dass er keine Ahnung hat. Er kennt weder Restaurants noch Kneipen oder Bars. Wenn er mal essen geht, dann meist in der Mensa oder in einem Fast-Food-Restaurant. Hauptsache es geht schnell. Er sagt es ihr und fragt sie nach ihrer Lieblingsbar. Er ist nicht so weltfremd zu glauben, dass irgendein Restaurant noch offen hat.
Sie sei neu in der Stadt. Das einzige Lokal, das sie kenne, sei das, aus dem sie gerade gekommen sei. Doch das habe ja jetzt zu, meint sie, und ihr verschmitztes Lächeln wird durch Grübchen verstärkt. Aber sie habe einen wunderbaren Cognac bei sich zu Hause. Auch wenn sie sonst natürlich nie Gäste in ihre Wohnung abschleppen würde, für ihn wolle sie eine Ausnahme machen, denn er sei so nett und sympathisch.
Ihm wird ganz anders. Fast hätte er gekniffen und das Weite gesucht. In einer Millisekunde der Erleuchtung begreift er, dass sie ihn verführen und dann wegwerfen wird wie eine leergesaugte Chitinhülle. Sie ist ein Spinnenweibchen und er ihr Opfer. Aber sie hat ihn bereits in einen Kokon eingesponnen. Hilflos ergibt er sich seinem Schicksal. Seine Ängste und Bedenken werden fortgespült. Er ist verliebt und hoffnungslos verloren.

Es ist wie in einem Traum. Surrealistische Bilder umkreisen ihn, gleiten vorbei. Bilder ihres Körpers. Die Musik ihrer Stimme, reduziert auf den reinen Klang, ohne Aussage, ohne Bedeutung. Das Gefühl des kühlen Lakens auf seiner Haut, der Duft ihres Parfums, die streichelzarte Berührung ihres Haares, ihrer Hände. Er gibt sich völlig hin, überlässt alles ihr. Er will, dass es nie aufhört. Sie wird für immer bei ihm bleiben.
Dann die Ekstase, die Explosion in seinem Gehirn. Ein Tsunami der Wonne schwemmt ihn fort.

Er wacht auf. Rollt herum, um sie anzuschauen. Das Bett neben ihm ist leer. Dann sieht er ihre nackte Silhouette. Sie steht vor dem Stuhl, auf den er seine Klamotten geworfen hat, wendet ihm den Rücken zu, bückt sich.
Das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen, ist übermächtig. Er steht leise auf und tritt hinter sie. Als er den Arm um sie legt, erschauert sie, aber nicht vor Wonne, sondern erschrocken. In der einen Hand hält sie seine Geldbörse, in der anderen den Hunderter, den sie gerade herausgefischt hat.
Er begreift nicht. Dreht sie herum. Was machst du da, fragt er. Sie hat sich wieder gefangen und lacht höhnisch. Nach was es denn aussehe? Ob er denn gedacht habe, er kriege es umsonst? Sie sei schließlich Geschäftsfrau.
Wut, grenzenlose Wut und erniedrigende Scham. Die Haut über den Knöcheln seiner Hand, die die marmorne Statuette umfasst, ist weiß gespannt. Er schlägt zu.

Als er wieder zur Besinnung kommt, steht er vor ihr, umklammert noch die Mordwaffe. Sie liegt auf dem Boden. Das Gesicht ist eine zertrümmerte Marslandschaft, rot und wüst. Ein Augapfel ist aus seiner Höhle gerutscht und starrt ihn vorwurfsvoll an. Er schreit, lässt die Statuette fallen und rennt davon.

Er wachte auf in seinem Bett in der Pension. Panisch setzte er sich auf, blickte an sich hinunter. Aber keine Spur von Blut. Hatte er geträumt, wie schon so viele Male zuvor? Da fiel sein Blick auf das seltsame Gebilde mitten im Zimmer, das an einen leeren Türrahmen erinnerte. Die Zeitmaschine!
Er war in der Vergangenheit gewesen, um den Mord zu verhindern, hatte sich aber nicht daran erinnert, aus der Zukunft gekommen zu sein und die Tat ein zweites Mal begangen!

Es hatte seine ganze Kraft gekostet, sich zusammenzureißen, nicht zu schreien, nicht gegen die Wand zu schlagen oder das Mobiliar zu zertrümmern. Er war hier nicht allein in der Pension. Seine Reputation in der Firma stand auf dem Spiel. Niemand durfte ihn für geistig labil halten. Also riss er sich mit aller Macht am Riemen, wusch sich, zog sich um, ging in die Kantine zum Frühstück, begrüßte lächelnd Kollegen, ließ sich kurz in der Werkstatt sehen und ging dann unter dem Vorwand, weitere Tests mit der Zeitmaschine durchführen zu müssen, wieder auf sein Zimmer. Er nahm einen Stapel leere Blätter, setzte sich an seinen Tisch und begann zu schreiben.
Am Abend hatte er neun Blätter beidseitig eng mit seiner kleinen, präzisen und schnörkellosen Schrift gefüllt. Um ihn herum lagen zusammengeknüllte Papiere auf dem Boden, untaugliche und daher verworfene Versuche. Er stand auf und schaltete die Zeitmaschine ein, justierte die Frequenz, ließ sie warmlaufen, bis sie schnurrte wie ein Kätzchen. Das wohlige Brummen stärkte seine Zuversicht. Dieses Mal würde es ihm gelingen, Gina zu retten. Er nahm den Papierstapel auf und trat durch die Öffnung.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und starrt auf die vollgeschriebenen Papiere. Die Schrift verschwimmt vor seinen tränenden Augen. Er kann sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. Seit dem Frühstück hat er nichts mehr gegessen. Sein Blutzuckerspiegel muss in den Keller gesunken sein. Und der Kühlschrank ist leer.
Sein Blick fällt auf die Wanduhr: 22:20. Draußen ist es schon dunkel. Nur die Schreibtischlampe erhellt sein Arbeitszimmer ein wenig – und die flackernde Neonreklame unten von der Straße.
Ärgerlich schaut er aus dem das Fenster. Das grelle, kalte Licht dieser Leuchtstoffröhren ist ihm neu. Er blickt genauer hin. Auf einem Schild blinkt der Schriftzug Cadillac über einem flossenbewehrten, minzefarbenem Straßenkreuzer. Ein Schnellimbiss hat anscheinend auf der gegenüberliegenden Straßenseite neu eröffnet. Eines von der Manhatten-Sorte aus den 60er Jahren: chromblitzend und abweisend. Aber dort gibt es etwas zu essen. Ihm ist schlecht vor Hunger.
Er will sich gerade den Wohnungsschlüssel schnappen und gehen, da blinkt irgendwo eine rote Warnleuchte in seinem Gehirn, eine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist etwas, das auf einem der Papiere über das Perpetuum Mobile steht, deren Sinn er gerade versuchte, zu verstehen. Es war ziemlich absurd, was er gelesen hat, erinnert er sich. An mehr nicht. Kann man so müde sein, dass man seine eigenen Gedanken nicht mehr versteht?
Sein Blick fällt auf das oberste Blatt. Er runzelt die Stirn. Was ist das denn für ein Quatsch? Das soll er geschrieben haben? Aber es ist eindeutig seine Handschrift:
Wenn du das liest, dann bist du gerade aus der Zukunft gekommen.
Was? Er setzt sich und liest weiter.

Zehn Minuten später hat er alles dreimal gelesen. Er besitzt eine rasche Auffassungsgabe und kann diagonal eine Seite in der Zeit lesen, den andere für einen Absatz brauchen, ohne dabei den Sinn des Textes zu verlieren. Diesmal hat er jedoch Wort für Wort gelesen, zuerst ungläubig, dann begreifend. Dann entsetzt.
Natürlich ist ihm klar, dass da die Wahrheit steht. Er kann sich nicht erinnern, es geschrieben zu haben, und da er bei klarem Verstand ist, hat er es eben nicht geschrieben. Oder besser: noch nicht. Er würde es in sieben Jahren aufschreiben, nachdem er die Zeitmaschine gebaut hätte. Keine Sekunde zweifelt er daran. Wenn jemand sie erfinden würde (erfunden hätte?), dann er. Niemand versteht sonst die Theorie des Deckerschen Fluidums. Wenn seine Zukunft also bereits bestimmt ist, dann… dann würde er in einigen Stunden einen Mord begehen! Aber er ist zurückgekehrt, um das zu verhindern. Wer ist er überhaupt? Der junge Simon Decker? Oder der sieben Jahre ältere, ohne Erinnerung an die Zukunft? Er geht ins Badezimmer und tritt vor den Spiegel. Er hat sich seit gestern nicht verändert, also ist er der jüngere. Der ältere hat ihm also bloß eine Botschaft geschickt. Und die lautet: Verhindere den Mord!
Das ist doch ganz einfach, denkt er. Du gehst nicht nach unten, überquerst nicht die Straße und betrittst nicht das ‚Cadillac’. Dann wirst du dieser Frau auch nicht begegnen und sie nicht töten.
Doch dann kommen ihm Zweifel. Sein Alter Ego ist zweifellos hier gewesen, wie die Blätter auf seinem Schreibtisch beweisen. Er hat ihm beschrieben, wie er durch die Öffnung der Zeitmaschine getreten und hier in diesem Zimmer erschienen ist, wie er durch die Augen des Jüngeren sieht, dessen Erinnerungen hat. Die Zeitmaschine sei so konstruiert, dass sie kein Pendant in der Vergangenheit – seiner Gegenwart – benötige. Sie sei darauf eingestellt, ihn, den Älteren, am frühen Morgen des nächsten Tages zurückzuholen. Ist er dann immer noch hier? In seinem Kopf? Ist seine Anwesenheit notwendig, um die Geschichte zu verändern?
Was wäre morgen? Wenn die ältere Ausgabe von Simon Decker längst wieder in die Zukunft zurückgekehrt sein würde. Würde sich der Jüngere dann noch an alles erinnern? Würden die Papiere aus der Zukunft noch auf seinem Schreibtisch liegen? Oder wäre alles aus seinem Bewusstsein getilgt? Und wenn es so wäre: Irgendwann, vielleicht morgen, vielleicht in ein paar Tagen, würde er Hunger haben, aus dem Fenster sehen, und beschließen, einen Happen in der Imbissbude zu essen. Dann würde kein sieben Jahre älterer Simon bei ihm sein, um einen Mord zu verhindern.
Nein, beschließt er, ich darf der Begegnung mit ihr nicht ausweichen. Ich werde hinüber gehen, sie kennenlernen, mich nicht in sie verlieben, denn ich weiß ja jetzt, dass sie im Nebenberuf eine Prostituierte ist. Ich werde sie nach Hause begleiten, mit ihr schlafen, sie dann bezahlen und wieder verlassen.

Er sitzt an einem Resopaltisch auf einem wackeligen Plastikstuhl und studiert gerade die Speisekarte, als ein Schatten darüber fällt. Er weiß: sie ist es. Sie wird ihn nicht überraschen, denn Simon, der Ältere, hat sie ihm genau beschrieben. Sie sieht gut aus, aber ist weit davon entfernt, eine Sexgöttin zu sein. Er holt tief Luft und blickt auf.
Gina steht vor ihm und lächelt ihn fragend an. Sie muss wohl etwas gesagt haben, aber er hat nichts gehört. Er fühlt sich wie schockgefroren, außerstande den Mund zu öffnen, eine Bestellung aufzugeben oder sonst ein Lebenszeichen von sich zu geben. Er starrt sie bloß an. Sie ist – eine Göttin!

Er ist mit ihr gekommen. Es ist wie in einem Traum. Surrealistische Bilder umkreisen ihn, gleiten vorbei. Bilder ihres Körpers. Die Musik ihrer Stimme, reduziert auf den reinen Klang, ohne Aussage, ohne Bedeutung. Das Gefühl des kühlen Lakens auf seiner Haut, der Duft ihres Parfums, die streichelzarte Berührung ihres Haares, ihrer Hände. Er gibt sich völlig hin, überlässt alles ihr. Er will, dass es nie aufhört. Sie wird für immer bei ihm bleiben.
Dann die Ekstase, die Explosion in seinem Gehirn. Ein Tsunami der Wonne schwemmt ihn fort.

Er wacht auf. Rollt herum, um sie anzuschauen. Das Bett neben ihm ist leer. Dann sieht er ihre nackte Silhouette. Sie steht vor dem Stuhl, auf den er seine Klamotten geworfen hat, wendet ihm den Rücken zu, bückt sich. Jetzt wird sie sein Portmonee nehmen und den Hunderter herausholen. Und das Gute ist: er ist nicht wütend. Sie ist eine Nutte, aber er hat das übermächtige Gefühl, sie in die Arme nehmen zu müssen. Leise steht er auf und tritt hinter sie.
Sie muss ihn gehört haben und wirbelt herum. Erschrocken blickt er in Augen, die vor Zorn blitzen.
Was soll das heißen, will sie wissen. Du hast wohl gedacht, du kriegst es umsonst. Wo ist das Geld?
Ihre Hände sind leer.
Aber…, stottert er.
Ihm fällt ein, dass er nach dem Duschen die Hose gewechselt und vergessen hat, die Geldbörse aus der Jeans zu nehmen. Beschwichtigend hebt er die Hände.
Gina, sagt er, ich gehe schnell in meine Wohnung und hole…
Ihre Hand klatscht in sein Gesicht. Es brennt wie nach der Berührung einer Feuerqualle.
Du denkst wohl, ich sei eine blöde Schlampe, keift sie. Meinst du, ich lasse dich einfach ohne Bezahlung verschwinden? Du wirst bleiben, bis mein … Manager hier ist.
Sie greift zum Telefon, vermutlich um ihren Luden anzurufen.
Scham und Wut brausen in ihm auf. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Er versteht nicht, was sie zu dem Mann sagt, sieht nur, dass ihr Gesicht zu einer hässlichen, bösen Fratze geworden, sieht die Geifertröpfchen aus ihrem keifenden Mund sprühen. In seiner Hand ist plötzlich eine Statuette aus kaltem Stein. Er schlägt zu.

Er wachte auf in seinem Bett in der Pension.

Den Tag verbrachte er wie betäubt. Ihm war klar geworden, dass er den Mord nicht verhindern konnte. Das hatte nichts mit einem Zeit-Paradoxon zu tun, dessen verquere Logik nicht erlaubte, dass er die Geschichte veränderte, sondern allein mit ihm, mit seiner kranken Seele. Entsetzen und Verzweiflung überwältigten ihn beinahe. Es war unsäglich schwer, die Fassade des Normalen aufrecht zu erhalten, aber er besaß Übung darin. Keiner in der Firma merkte ihm etwas an. Er brachte die Zeit bis zum Abend mehr oder weniger in geistiger Katatonie hinter sich. Sein Körper funktionierte, reagierte automatisch, während er frühstückte, an einer Besprechung mit den Weißkitteln teilnahm, im Labor arbeitete und irgendwann zu Abend aß. Dann konnte er endlich auf sein Zimmer.
Im Laufe des Nachmittags hatte sein Gehirn langsam wieder mit der Suche nach einem Ausweg begonnen, sich anfangs im Chaos verloren und im Kreis gedreht, war dann aber doch auf einen Gedanken gestoßen, der verfolgenswert schien. Immer klarer hatte er sich herauskristallisiert. Die Verzweiflung wich Zuversicht und schließlich Überzeugung. Er würde gewinnen. Nicht umsonst nannte man ihn Mission Impossible!

Nachdem die Frequenz eingestellt war und sich das Feld stabilisiert hatte, trat er mit dem Bündel Papiere in der Hand durch das Tor in die Vergangenheit.

Er sitzt an seinem Schreibtisch und starrt auf den Papierstapel. Die Schrift verschwimmt vor seinen tränenden Augen. Er kann nicht mehr klar denken. Seit dem Frühstück hat er nichts mehr gegessen. Sein Blutzuckerspiegel muss in den Keller gesunken sein. Und er hat wieder einmal vergessen einzukaufen.
Sein Blick fällt auf die Wanduhr: 22:20. Draußen ist es dunkel. Nur die Schreibtischlampe erhellt sein Arbeitszimmer ein wenig – und die flackernde Neonreklame unten von der Straße.
Ärgerlich schaut er durch das Fenster. Ihm wird bewusst, dass das grelle, kalte Licht dieser Leuchtstoffröhren ihn gestern noch nicht gestört hat. Er blickt genauer hin. Auf einem Schild blinkt der Schriftzug Cadillac über einem flossenbewehrten Straßenkreuzer. Ein Schnellimbiss hat auf der gegenüberliegenden Straßenseite neu eröffnet. Wie von einem Bild Edward Hoppers: chromblitzend und abweisend. Aber dort gibt es etwas zu essen. Er hat einen Bärenhunger.
Er will sich gerade den Wohnungsschlüssel schnappen und gehen, da blinkt irgendwo eine rote Warnleuchte in seinem Gehirn. Er hat vorher in den Papieren, die über den Schreibtisch verteilt sind, gelesen, ohne den Sinn der Worte zu erfassen. Aber sein Unterbewusstsein sagt ihm, dass etwas damit nicht stimmt.
Sein Blick fällt auf das oberste Blatt. Er runzelt die Stirn. Was ist das denn für ein Quatsch? Das soll er geschrieben haben? Aber es ist eindeutig seine Handschrift:
Simon, du feige Sau, TU ES ENDLICH!
Was? Er setzt sich und liest weiter.

Zehn Minuten später sitzt er wie betäubt da. Er hat jedes Wort gelesen, zuerst ungläubig, dann begreifend. Dann entsetzt.
Natürlich ist ihm klar, dass da die Wahrheit steht. Er weiß, dass er das geschrieben hat. Oder besser: noch schreiben wird. In sieben Jahren, nachdem er die Zeitmaschine gebaut hätte. Keine Sekunde zweifelt er daran. Wenn jemand sie erfinden würde (erfunden hätte?), dann er. Niemand sonst weiß vom Deckerschen Fluidum. Wenn seine Zukunft also bereits bestimmt ist, dann… dann würde er in einigen Stunden einen Mord begehen! Und es ist nicht möglich, das zu verhindern. Er – oder sein Alter Ego in der Zukunft – hat es vergeblich versucht. Insgesamt dreizehn Mal! Schon nach dem zweiten Mal habe er erkannt, so schreibt er, dass es nur einen Ausweg gibt. Wieder und wieder sei er zurückgekehrt, um sein jüngeres Ich zu bewegen, diesen einzigen Weg zu gehen, wieder und wieder habe der Jüngere gekniffen, habe statt dessen versucht, den Mord zu verhindern und wieder und wieder habe er Gina erschlagen. Er solle jetzt VERDAMMT NOCHMAL den Mut aufbringen und endlich das Richtige tun!
Der einzige Ausweg aus diesem Kreislauf aus Gewalt, Blut, Ohnmacht und Verzweiflung, das sei sein Selbstmord.
Er müsse die Begegnung mit Gina unbedingt verhindern. Nicht nur für heute oder morgen, sondern für alle Zukunft. Und das sei nur möglich, wenn er sich heute Abend das Leben nähme.
Wie betäubt starrt er auf die Seiten. Dreizehn Mal! Ihm kommt nicht in den Sinn, daran zu zweifeln. Er hat sich noch nie selbst belogen.
Er wirft einen Blick aus dem Fenster. Draußen flackert eine Neonreklame. Ein neues Lokal hat gegenüber eröffnet. Dort drin ist… sie. Er fühlt die Magie und die Drohung des Unausweichlichen. Wenn er sich nicht selbst zuvorkommt, wird der Zwang hinüberzugehen, ihn in wenigen Minuten überwältigen. Er steht auf und geht ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank, wühlt darin.
Verdammt, warum besitzt er keine einzige Krawatte? Er bückt sich hinab, um nach einem festen, langen Schuhriemen zu suchen. Nur Slipper! Hat sich alles gegen ihn verschworen?
Er spürt das Sehnen nach ihr, den Zwang, die Wohnung zu verlassen, immer heftiger. Wenn er es nicht bald tut, sind er und Gina verloren. Ein Messer in den Hals oder aus dem Fenster springen? Nein, das würde er nicht fertig bringen.
Er zieht sein Hemd aus, reißt es in Striemen. Sein Blick fällt auf den Durchgang zum Schlafzimmer. Darüber ist ein stabiler Haken in der Wand verankert. Er dreht die Fetzen des Hemdes zu einem Strang und bindet den an den Haken.

„Heh, sieh dir das mal an!“
Rugans, der gerade in einem spannenden Krimi las, fuhr hoch. Sie hatten zu zweit Dienst in der Überwachungszentrale. Frotzeck, der ihn eben aus der Parallelwelt des Buches gerissen hatte, zeigte mit dem Finger auf einen der Überwachungsmonitore.
„Was macht der Kerl da bloß“
Rugans schaute genauer hin. Der Bildschirm zeigte Deckers Zelle. Der Beobachtete machte sich gerade an seiner „Zeitmaschine“ zu schaffen, dieser lächerlichen Attrappe, die er sich aus einem alten Türrahmen, einer Autobatterie und ein paar Lämpchen aus einer Christbaumbeleuchtung in der Therapiewerkstatt zusammengebaut hatte. Der Mann war total plemplem. Er hielt sich für ein Genie, einen großen Erfinder, glaubte, die forensische Klinik sei die Firma, in der er arbeitete. Aber er war nach Schneiders Ansicht nicht suizidgefährdet. Nur: warum hatte er dann sein Hemd zerrissen, zu einer Schlinge verknotet und an den Rahmen der Zeitmaschine gebunden, und warum legte er sich gerade die Schlinge um den Hals und stieg auf einen Stuhl?
Rugans sprang auf.
„Los ruf Schneider an. Schnell!“ brüllte er, dann raste er los.

Prof. Dr. Schneider war fassungslos und frustriert. Er kam gerade hinzu, als sie Deckers Leiche abnahmen. Er konnte dennoch nicht umhin zu bewundern, wie präzise Mr. Mission Impossible seinen Tod geplant hatte. Die Schlinge war so kurz, dass die Zehenspitzen des kaum 1,60 m großen Patienten trotz der nur zwei Meter messenden lichten Weite des Türrahmens den Boden nicht berührten. Die Schlinge war so fachmännisch gebunden, dass sie ihm das Genick gebrochen hatte. Er hatte wohl geahnt, dass er überwacht wurde, wenn er auch die Kamera kaum entdeckt haben konnte, und er hatte gewusst, es blieb ihm nicht viel Zeit. Decker hatte den beiden Wächtern keine Chance gegeben, ihn noch zu retten.
Schneider blickte auf die Papiere in seiner Hand, die Blätter, die Becker vollgeschrieben und mit in seine „Vergangenheit“ genommen hatte. Jetzt erst begriff er die Innenwelt des Menschen, den er fast sieben Jahre lang behandelt und betreut hatte. Wie konnte sich nur so getäuscht haben? Er war seit beinahe drei Jahrzehnten Psychiater und seit zehn Jahren Direktor der forensischen Klinik. In all der Zeit hatte er natürlich immer wieder Fehleinschätzungen begangen. Damit musste man als Arzt leben, denn trotz allen Sachverstands konnte keiner in die Insassen – Patienten korrigierte er sich – hineinsehen. Wenn man einen vagen Blick auf ihre Seele erhaschte, dann meist nur, wenn sie es selber wollten. Aber ein Leben hatten Schneiders Irrtümer bisher noch nie gekostet. Es gab psychopathische Mörder, Vergewaltiger, unheilbar Pädophile und andere gefährliche Geisteskranke in der geschlossenen Abteilung. Simon Decker zählte als Mörder prinzipiell dazu. Vor sieben Jahren hatte er eine Prostituierte getötet und sich nur zwei Tage später gestellt. Während der Gerichtsverhandlung hatte sich herausgestellt, dass er unzurechnungsfähig war. Er litt an hochgradiger Schizophrenie. Aber er war in letzter Zeit ziemlich stabil und schien gewisse Fortschritte gemacht zu haben. Natürlich war seine Wirklichkeitswahrnehmung verzerrt. Er baute pausenlos nutzlose Maschinen aus Holz, Draht und allem, was er in die Finger bekam, wie zuletzt die Zeitmaschine. Schneider hatte ihn gelassen, hatte gehofft, dass sich seine Kreativität als therapeutisch nützlich erweisen würde. Er hatte gehofft, Decker reise in Gedanken in die Vergangenheit, um sich mit ihr auszusöhnen, sich aber damit gründlich geirrt: Der Mann hatte nichts anderes gewollt, als diese eine Nacht, diese für ihn einzigartige Nacht, in der alles zusammengekommen war: das Gefühl von einer Frau begehrt zu werden, die Ekstase und dann der Blutrausch, immer und immer wieder zu erleben. Und als er erkannt hatte, dass er keinen Ausweg mehr aus dieser geistigen Zeitschleife finden konnte, hatte er sich umgebracht.
Hätte er ihm helfen können, hätte er das gewusst? Schneider bezweifelte es. Vielleicht war es am besten so.

In einer neonkontaminierten, chromhässlichen Fütterungsstation geht an einem Abend vor sieben Jahren keine Tür auf und kein Gast tritt ein. Gina langweilt sich.

 

Hi, Rolander,
also, ich lese Deine Geschichte zum zweiten Mal, weil ich beim Erstversuch einfach ausgestiegen bin.
Und auch diesmal war ich schwer in Versuchung, nicht danach zu graben, wann und wo die Spannung mich anspringt. Aber das Durchhalten hat sich gelohnt.;)
Spannende Idee und durch die Schleifen, die Du legst, wird man (na, jedenfalls ich)in die Geschichte hineingezogen, man will einfach wissen, ob und wie der Decker das hinbekommt, was er sich vorgenommen hat.
Sehr gefallen hat mir das doppeldeutige Ende.
Und nu noch ein wenig Gemoser: Den Anfang Deiner Geschichte musst Du nach meinem Dafürhalten (andere Intelligenzbestien seh'n das sicher anders:Pfeif:)kräftig ausästen. Ich jedenfalls hab keine Lust, mich ellenlangen technisch-physikalischen Beschreibungen hinzugeben, wenn ich eine Kurzgeschichte lesen will. Fragen, wie: Was macht ein Kondensator, wie nennt man Flüssiggase, die zur Kühlung verwendet werden, interessieren mich da nicht. Und Du bietest über lange Zeit keinen Aufhänger für mich, warum ich weiterlesen sollte.

Er wollte nur eines: Zurück in die Vergangenheit, um einen schlimmen Fehler wieder gutzumachen. Denn Simon Decker hatte gemordet.
Wenn Du -nicht wortwörtlich- hier einsteigen würdest, hätteste mich gleich am Haken- und kannst Deine Spulen, Kondensatoren samt Energieerhaltungssatz auch noch -sparsam, bitte!- gefälliger in die Gschicht einbauen.
Nix für ungut, mich hat die Story fasziniert, ab Mitte ungefähr, aber Du hast es mir schwer gemacht, sie lesen zu wollen.

LG butterblume

 

Hallo Rolander,

diese Geschichte hat mir sehr gut gefallen und das Thema ist auch sehr gut entwickelt. Ich hab mich an keiner Stelle gelangweilt.

Nur ein Fehler noch, an einer Stelle ganz unten schreibst du als Namen des Protagonisten Becker statt Decker:


die Papiere in seiner Hand, die Blätter, die Becker vollgeschrieben

[/I]

 

Hallo Rolander,

du verwendest in der Geschichte einen sehr umfangreichen Wortschatz. Das gefällt mir. :) Liegt vielleicht daran, weil ich auch einen Ingenieurs-Studiengang besucht habe. ^^

Der Anfang der Geschichte macht den Einstieg recht schwer, auch wenn man alle Fachbegriffe versteht. Man versteht erst in der Mordszene, warum der Hauptcharakter diesen ganzen Aufwand mit der Zeitmaschine betreibt. Bis dahin war Decker für mich unverständlich. Vielleicht könntest du die Mordszene an den Anfang ziehen? Oder Ausschnitte davon?
Ich bin ein Fan von Einstiegen mit Action. ^^

Viele Grüße, :)
Vincent

 

Vielen Dank euch allen für die konstruktive Kritik. Und danke auch, dass ihr die Story trotz des zu komplexen Beginns bis zum Ende gelesen habt.

Ich habe lange überlegt, ob ich die Geschichte in die Krimi/-Thriller- oder in die SF-Rubrik veröffentlichen soll. Die SF-Fans hätten sie mir wahrscheinlich um die Ohren geschlagen, wenn ich keine wissenschaftliche Begründung für oder gegen die Möglichkeit von Zeitreisen gegeben hätte. Aber ihr habt sicher Recht: der Leser eines Krimis erwartet einen schnellen und nicht von trockenen wissenschaftlichen Fakten belasteten Einstieg.

 

Hallo Roland!

"Ich habe lange überlegt, ob ich die Geschichte in die Krimi/-Thriller- oder in die SF-Rubrik veröffentlichen soll. Die SF-Fans hätten sie mir wahrscheinlich um die Ohren geschlagen," => Jetzt schlage ich Krimi-Fan sie dir um die Ohren, meiner Meinung nach wäre der Text in SF viel besser aufgehoben. Ich erwarte hier realistische Krimis, "Zeitmaschinen" passen nicht in diese Kategorie.

Ein Kurzkommentar:
Du verrätst im ersten Satz, dass es Simon gelingt, eine Zeitmaschine zu bauen. Der ganze Kram, der danach kommt, von wegen "Einwände der Physiker", u.s.w., u.s.f., ist nutzlos und total unspannend, da der Leser ja von Anfang an weiß, dass es Simon gelingt, die Zeitmaschine zu bauen.

Außerdem ist das ganze technische, wissenschaftliche Zeug vielleicht für Ingenieurs-Studenten interessant (siehe Vincent), aber schreibst du nur für die? Was ist mit uns Unstudierten?

Ich komme in deinem Text jedenfalls nicht weit. Der ganze Aufbau wirkt für mich nur abschreckend, sorry.
Wenn du mit dem Text in der Spannungsrubrik bleiben willst, schlage ich vor, dass du am Spannungselement arbeitest und den Rest kürzt.

Grüße
Chris

 

Hallo Rolander!

Und täglich grüßt die Zeitmaschine!
Nicht schlecht. Steckt ne Menge drin, was mir gefallen hat. Die vergeblichen Versuche, die Tat ungeschehen zu machen, und dann die Wendung direkt in die Klappsmühle.
Aber bis ich mich an diesen Textstellen erfreuen konnte, war Durchhaltevermögen angesagt. Hast du ja schon des Öfteren hier gelesen.
+++

Simon Decker gelang etwas, das für unmöglich gehalten wurde: der Bau einer Zeitmaschine.
Würd ich streichen. Dieser Einstieg nimmt zu viel vorweg. Lass es doch eine Weile offen, ob Simon der Bau einer ZM gelingt, und kürze (ca. 50%)den Entwicklungsvorgang und Technikkram.

Er wollte nur eines: Zurück in die Vergangenheit, um einen schlimmen Fehler wieder gutzumachen. Denn Simon Decker hatte gemordet.
Wie Butterblume01 bereits anmerkte, wäre dies ein idealer Einstieg. Danach kannst du Simon seine ZM konstruieren lassen, und lässt nebenbei ein paar Gedanken zum Zeitparadox einfließen.

Soweit mein Vorschlag gegen deinen zähen Anfang.
+++

Was ich nicht verstehe, ist das Ende deiner Story:
Simon hat vier Jahre an seiner ZM gebaut, aber bereits zwei Tage nach der Tat hat er sich gestellt. Also hat es die ZM nie gegeben. Alles nur Einbildung. Wenn die Story hier enden würde, hätt ich kein (Verständnis-) Problem.
Aber dann dies:

In einer neonkontaminierten, chromhässlichen Fütterungsstation geht an einem Abend vor sieben Jahren keine Tür auf und kein Gast tritt ein. Gina langweilt sich.
Da komm ich nicht mehr mit!

Gruß
Asterix

 

Doch, Asterix, die ZM hat es gegeben:D
Hat er in seiner 'Pension' in der Klapse gebaut.(denk ich mal;))
Im Ernst, gerade weil der Schluss so Haken schlägt von "Ah, alles klar, ein Irrer!"
zu "War da vielleicht doch was dran? Grübel, grübel" , find ich das gelungen.
Ist aber wohl auch Geschmackssache, nicht jedermanns Sache, wenn Fragen bleiben.
Ich mag das.

LG butterblume

 

Hallo Butterblume!

zu "War da vielleicht doch was dran? Grübel, grübel" , find ich das gelungen.
Ging mir nach dem ersten Durchlesen auch so! Gar kein schlechter Effekt.
Hab dann wohl zuviel drüber nachgegrübelt und dann fing es an, hin und her zu flippen ohne Ende. Hat mich fast wahnsinnig gemacht. ;)

Danke für deine Hilfe, fühl mich jetzt besser!

Asterix

 

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