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Die Zelle
In der Zelle war es in der ganzen Nacht kalt gewesen. Drinnen stand kein Bett. Ich hatte mich einfach in eine Ecke gekauert und die Knie an meine Brust gezogen. Von der Decke tropfte dreckiges Wasser und zwischen dem Backstein war zu meiner Rechten loser Mörtel abgefallen. Manchmal blies der Wind hinein und erzeugte ein pfeifendes Geräusch im Mauerwerk. Mir gegenüber auf einem Holzhocker hatte ein schweigsamer Mann gesessen. Bei den ersten Morgenstrahlen, die durch einen schmalen Spalt entlang der Decke einfielen, kamen zwei Wächter in die Zelle und nahmen ihn mit. Nur einmal war ein Funken von Vertrauen zwischen uns entstanden und ich hatte ihn gefragt, warum er hier sei. Er schaute mir in die Augen - seine glänzten blau - und setzte dann einen tödlich ernsten Blick auf:
"Ich habe einen Bruder, der als Hauptsponsor die Redaktion einer bekannten kommunistischen Zeitung unterstützt. Marx kann mir wirklich gestohlen bleiben. Ich habe sie nicht einmal gelesen, bin in keiner Partei oder sonst irgendeinem Scheiß. Sie betrachten mich wohl mehr als ein Druckmittel, wollen gerne einmal austesten, wie mein Bruder darauf reagiert."
"Sie können dich doch nicht als Erpressung einsperren!"
"Sie können dich für Alles einsperren. Wenn du ein Buch von Karl Marx in deinem Regal hast, wenn du nicht den gleichen Mist, wie sie redest und wenn du einen kommunistischen Bruder hast. Dabei geht es aber noch nicht einmal um Kommunismus. Dabei geht es um viel mehr." Während er redete, dachte ich darüber nach, das er sich hier eigentlich glücklicher fühlen müsste als ich. Schließlich wußte er zumindest, warum sie ihn eingebuchtet hatten. Ich blieb dumm und blind, wie jemand, der abends einschläft und am nächsten Morgen in einem stockdunklen Raum aufwacht.
Als ich so etwa gegen die Mittagszeit pinkeln musste, begann ich gegen die Gitterstäbe zu schlagen. Vor mir zog sich ein langer Gang, der so weiter er in die Ferne rückte, auch mehr und mehr in der Dunkelheit verschwand. Ich zählte 15 andere Zellen, meine schloß den Gang ab, war die letzte in diesem Trakt. "Möglicherweise bin ich sogar der Einzige, der in das Vergnügen kommt, ein wenig Licht zu sehen. Wahrscheinlich sitzen sie Alle da wie ich, warten auf Irgendetwas, wissen aber nicht genau, worauf eigentlich." Nach zehn Minuten hatte ich das Schlagen satt, pinkelte einfach auf den Gang hinaus und kauerte mich daraufhin wieder wartend in die Ecke. Erinnerung an die Zeit draußen tauchten in mir auf, da hatte ich 2 Tage vorher noch im Bett mit Judith gelegen, mit ihr gesprochen, sie geliebt und jetzt saß ich irgendwo in einem Kerker sehr weit entfernt von ihr, mit kalten Schweißperlen auf der Stirn und angsterfüllt bei dem Gedanken daran, das ich Alles, was ich glaubte, zu besitzen, innerhalb einer Nacht wieder verloren hatte. Schließlich schlief ich ein.
Am nächsten Tag erschienen die Wächter in meiner Zelle. Sie hielten die Gummiknüppel fest mit allen Fingern und starrten von oben auf mich hinab, als hätten sie Spaß daran, ihre Macht zu demonstrieren. Draußen prasselte der Regen unaufhörlich, durch den schmalen Spalt floß Wasser die Wand hinab. Mein Hemd war schon sehr feucht und ich zitterte; war mir jedoch unsicher, ob wegen der Kälte oder meiner Angst. Die Wächter starrten mir mit einem prüfenden Blick in die Augen, schienen mich jeden Augenblick auffressen zu wollen und langsam, erst unbemerkt, pinkelte ich mir in die Hose. Jetzt war es vorbei: "Sie bringen mich um!"
"Paul Kehrmann?", fragte der Rechte mit Akzent. Ich nickte. Die Wächter wechselten einige Worte in einer mir unverständlichen Sprache, sahen mich daraufhin einen Augenblick lang ausdruckslos an und zerrten mich an den Armen hinaus, den düsteren Gang entlang. Ich blickte in die fremden Zellen, Menschen, deren Gesichter von Angst und Hoffnungslosigkeit "zerstört" waren, ihre Kleidung dreckig, Falten und Furchen zeichneten ihre Wangen. Sie saßen in der gleichen Situation, wurden in eine kleine Zelle gesperrt und wahrscheinlich waren sich manche von ihnen sogar unsicher, warum. Für mich war es hingegen aus; dieses endlose quälende Gefühl der Machtlosigkeit. "Jetzt bringen sie mich weg und erschiessen mich und ich bin glücklich darüber". Die Wächter zogen mich am Ende des Ganges eine Kurve nach rechts, in einen Fahrstuhl hinein und drückten irgendeinen Knopf. Ich zitterte. Von meiner Stirn fielen Schweißtropfen auf den Boden. War ich wirklich schon bereit zu sterben? Wenn sie mich an eine Wand stellen und erschießen, wie fühlt sich das dann an? Wird es schmerzen? Die Tür öffnete sich und ich blinzelte, da das Sonnenlicht zu ungewohnt war und in den Augen brannte. Mit einem Mal wurde es mir klar. "Sie richten mich nicht hin. Sie bringen mich nach draußen, in die Freiheit, in die alte Welt, in der Judith sich im Bett an mich schmiegt und ich meine Wohnung durch den Hintereingang betrete." Und doch empfand ich keine Freude, denn ich würde stetig diese unbestimmte Angst empfinden. Schon längst war in mir etwas zerbrochen.