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Die Zinkwanne

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10.12.2002
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Die Zinkwanne

Für meinen Ex-Nachbarn

"Das Schwein hat mein Huhn erledigt!"

Empörung und Wut wechselten sich im geröteten Gesicht meines Nachbarn ab. Sein Atem ging stoßweise, er war gerannt und stützte sich mit einer Hand am Rahmen der Haustür ab. Ich will erst grinsen, dann wird mir die Bedeutung des Satzes klar: eines seiner geliebten Hühner war tot. Eine Schwelle war überschritten worden, der Pensionär hatte rot gesehen.

"Weißt du das sicher?"

Ich duzte den netten Kerl, auch wenn er mein Vater hätte sein können. Nach meinem Umzug war Heribert der erste aus der Straße, den ich kennengelernt hatte. Knapp ein Jahr war das her, jetzt sah er ziemlich fertig aus. Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein, hatte er mich überhaupt gehört? Gerade wollte ich nachhaken, da antwortete er:

"Wie meinstn das, sicher? Wer solls denn sonst gewesen sein? Das Vieh hat wohln bisschen auf seinem Grund herumgepickt, na und? Legt man deswegen gleich Gift aus? Der Kerl ist krank, ich sags dir! Der geht über Leichen, aber da halt ich mit!"

Wie ich ihn so vor mir sah, aufgeregt, nach Schweiß riechend und mit flackerndem Blick, beschlich mich ein ungutes Gefühl. Bisher hatte ich Heribert immer als besonnenen, wenn auch etwas spleenigen Frührentner gesehen. Mit leicht gebeugtem Gang, ein Resultat lädierter Bandscheiben, und ein paar letzten Haarbüscheln über den Ohren wirkte er älter, als er mit Anfang Fünfzig tatsächlich war. Er besaß das Grundstück rechts neben Pottkes, des Querulanten. Dieser war im Besitz einer Doppelhaushälfte, in der anderen residierte ich, glücklicherweise nur zur Miete. Beide machten wir das Beste aus den Terroraktionen unseres mittleren Nachbarn, indem wir sie zumeist ignorierten oder uns darüber lustig machten. Aber in solch einer Verfassung hatte ich Heribert noch nicht erlebt, und das machte mir Sorgen.

"Jetzt nimm das nicht so tragisch", versuchte ich es daher. "Was willst du denn machen? Ihn anzeigen und das Huhn obduzieren lassen? Das ist es nicht wert und seine Ex-Kollegen würden ihn vielleicht noch decken. Wir müssen den Kerl auf ne andere Art fertig machen."

"Oh ja," nickte er, und ein verschlagenes Grinsen schlich sich in seine Züge. "Das werden wir auch. Ich meld mich bei dir, sieh zu!" Mehr sagte er nicht, drehte sich um und ging wieder. Ein paar Worte hörte ich ihn noch murmeln, etwas wie "Auge um Auge ..." und dergleichen, dann war er vom Hof verschwunden.

Ich schloss die Haustür und ging in die Küche, um mir das Gehörte bei einem Bier durch den Kopf gehen zu lassen. Die Vermutung, dass Heribert aus dem Lot war, ließ mich noch eine Weile weitergrübeln. Er war mir nie wie jemand vorgekommen, der überreagierte, eher zurückhaltend und kaum aus der Ruhe zu bringen. Hoffentlich tat er nichts, das ihn mehr als eine Henne kosten würde.

Von Pottkes und seinen Aktionen hatte ich anfangs keine Ahnung gehabt, weder mein Vor- noch mein Vermieter hatten mich darauf hingewiesen. Was verständlich war, wenn man bedachte, wer hier schon gerne wohnen würde, masochistisch Veranlagte ausgenommen. In den ersten Tagen nach meinem Einzug herrschte ein trügerischer Frieden, bis ich mich entschloß, eine kleine Einweihungsparty zu geben. Dort stellte er sich mir dann vor, allerdings nicht persönlich, sondern durch zwei nette Streifenbeamte, die um fünf nach zehn die Musik auf Zimmerlautstärke drosseln ließen. Der zweite Teil der Bestrafung erfolgte am Morgen danach, als mich so gegen acht Uhr ein lautes Geräusch, das sich rhythmisch wiederholte, senkrecht im Bett stehen ließ. Es begann irgendwie knirschend und schabend und endete in einem polternden Krachen, als wolle jemand die Wand zur anderen Haushälfte einreißen.

"Dassis die Zinkwanne," erklärte mir Heribert, als ich ihn später darauf ansprach. Wir saßen auf Korbstühlen in seinem Garten, es war ein herrlicher Frühsommertag. Er hatte wie so oft seine Pfeife zwischen den Zähnen, die ihn für mich immer in Popeye’s Verwandtschaft rückte. Seine Frau mähte den Rasen hinter der Terrasse, Kinder hatten die beiden nicht.

"Wie, Zinkwanne?" fragte ich und nippte an meinem kühlen Weizen.

"Die stand früher im Garten, war mit Blumen und so bepflanzt. Sah gar nicht mal schlecht aus." Heribert blickte versonnen zu den mächtigen Tannen, die das Grundstück im hinteren Bereich abschlossen. "Fast so groß wie ne richtige Badewanne, hat das Teil irgendwann aufn Dachboden geschlört. Macht gut Krach, ne?"

"Hörst du das bis hier hin?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Wanne so laut war.

"Die halbe Straße kriegt das mit, wenn Pottkes seinem Hobby nachgeht“, schnaubte er. „Die kennen das, haben aber alle Schiss vor ihm, von wegen Ex-Kommissar und so. Nietmüller, hier zwei Häuser weiter, haben auch mal die Bullen gerufen, als es wieder losging. Sind aber nie gekommen."

Das war ja kaum zu fassen: ein Geisteskranker mit zu viel Zeit terrorisierte die Nachbarschaft, und jeder ließ es sich gefallen! Doch schon bald sollte ich weitere Kostproben von Pottkes' Leidenschaft bekommen. Oft genügte schon ein abendliches Geschirrspülen, um seinen Zorn zu erregen. Mit guten Ohrstöpseln ließ sich das noch einigermaßen verkraften, schlimmer waren da schon die Attacken auf Grillabende im Garten, die bei mir im Sommer häufig stattfanden. Ohne die Beamten in Grün ging es meist nicht ab. Einmal verbrannten wir angeblich alte Autoreifen, ein anderes mal verrauchten wir seine Wohnung und so weiter. Auch wenn ich ein eher phlegmatisches Gemüt besitze, so zeigten sich irgendwann erste Risse in meinem Nervenkostüm. Eine Möglichkeit, diese zu flicken, bestand im regelmäßigen Entstauben meiner schulterhohen Standboxen, die im Zusammenspiel mit dem Holzfußboden "recht kräftig" antworten und einem die Mittagsruhe versüßen können.

So hatte die Situation also bis dato ausgesehen. Und jetzt war ein unschuldiges Haustier zwischen die Fronten geraten. Das änderte die Lage, die Sache konnte ausarten. Wenn es Pottkes denn getan hatte, aber dieser Gedanke kam mir nur kurz, war Heribert doch für sein Federvieh wie eine Glucke. Ich nahm mir vor, ihn in der nächsten Zeit zu besuchen und ins Gewissen zu reden. Er sollte keinen biblischen Quatsch anfangen, letzten Endes würde er nur den kürzeren ziehen. Doch es blieb nur bei dem Vorhaben.

Die darauffolgenden Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Weder Heribert noch Pottkes ließen sich sehen oder hören. Dann kam der Sonntagabend, und alles änderte sich. Soeben hatte ich den Fernseher stummgeschaltet, um mich in einen Roman zu vertiefen, als von nebenan ein lautes Poltern zu hören war. Stirnrunzelnd hielt ich inne und lauschte, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Stattdessen vernahm ich ein Stöhnen, das mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Ich legte das Buch zur Seite, trat an die Wand und brachte mein Ohr an die Tapete. Jetzt war es deutlicher: ein dumpfes Röcheln und Gurgeln im Einklang mit schlagenden Lauten, als würde dort ein Kampf stattfinden. So etwas hatte ich bisher noch nicht erlebt, schienen die Pottkes doch eine Bilderbuchehe zu führen. Die Geräusche wurden heftiger, verzweifelter, bis sie abrupt verstummten. Starr stand ich an der Wand und kämpfte mit mir selbst, was sollte ich tun? Es konnte mir ja eigentlich egal sein, was der Arsch hatte, aber was, wenn es ernster war? Herzinfarkt oder Schlaganfall schienen möglich, ob bei ihm oder seiner Frau. Genauso gut konnte es ein harmloser Ehekrach sein, und dann die Bullen rufen? Letztendlich rang ich mich zähneknirschend dazu durch, mein plötzlich aufgetauchtes Gewissen zu beruhigen, indem ich hinüber ging und nach dem rechten fragte. Das kostete zwar eine Menge Überwindung, da wir bisher nur schreiend kommuniziert hatten, aber wenigstens war damit die Bürgerpflicht erfüllt. Also zog ich seufzend meine Schuhe an und machte mich auf den Weg.

Es war Anfang März und sternenklar, als ich das Haus verließ. Mondlicht ließ das Eis auf den Scheiben meines Wagens glitzern und ich vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. In den Nachbarhäusern war es dunkel, die überwiegend älteren Bewohner lagen wohl schon in den Betten. Ich ließ mir Zeit, weil ich wirklich keinen Bock hatte, mit dem Kerl zu reden. Möglicherweise würde er mich auslachen oder mir eine Knarre vor die Nase halten und mir sagen, dass mich sein Leben einen Dreck anging. Vor Pottkes' Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen, so dass sich nicht erkennen ließ, ob irgendwo Licht brannte. Ich betrat seinen pedantisch sauberen Hof und passierte eine kitschige Maulwurffigur, die grüßend an der Wand stand. Vor der verglasten Tür blieb ich stehen, um mich zu sammeln, der Flur war beleuchtet. Nachdem ich geläutet hatte, tat sich eine Weile nichts. Gerade als ich es noch mal versuchen wollte, näherten sich eilige Schritte und ich erkannte schemenhaft eine Person, die aufschloss. Innerlich bereitete ich mich schon auf die kommende Auseinandersetzung vor, als eine Hand mich unsanft an der Jacke packte und ins Haus zog.

Heribert schloss die Tür mit der anderen Hand, und mein Gesichtsausdruck muss ein einziges Fragezeichen gewesen sein, denn seine Pfeife hüpfte im Mundwinkel auf und ab, als er mich abwechselnd grinsend und grübelnd ansah. Ich konnte nur den Kopf schütteln und mich verwundert umsehen.

"Was machst du denn hier?" zischte ich. "Sach bloß, ihr habt euch vertragen und macht jetzt Party, oder was?"

Meine gesenkte Stimme ließ die zweite Frage albern erscheinen, und das war sie auch. Ich erinnerte mich an die Geräusche und sehr schnell dämmerte mir, dass hier etwas anderes vorging. Etwas, das weitaus ernster war und in das ich nicht hineingezogen werden wollte, geschweige denn es miterleben. Heribert sah das anders, sein Blick wirkte entschlossen und seine eisenharte Hand schlug mir auf die Schulter, woher hatte der Mann plötzlich solche Kräfte?

"Felix, Felix! Hatte ganz vergessen, dir Bescheid zu sagen. Komm mit und guck dir das an, diese Nacht wird großartig!"

Erbarmungslos zog er mich hinter sich her, die Treppe nach oben. Mein innerer Widerstand wuchs und ließ mich immer steifer werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es dort oben so tolles zu sehen gab und wollte es auch nicht wissen. Mir genügte der Hausfriedensbruch, den er und ich möglicherweise begangen hatten, und ich wünschte mich nur zurück auf meine Couch. Dumpf klangen unsere Schritte auf der schmalen, mit Teppich belegten Holztreppe, im oberen Flur herrschten funzelige Lichtverhältnisse. Pottkes’ Geiz konnte sich durchaus mit seiner Unsympathie messen.

Da unsere Wohnungen den gleichen Grundriss hatten, ging ich davon aus, dass das Ziel eines der Schlafzimmer war, aber ich täuschte mich. Wir hasteten durch den engen Korridor und betraten ein Wohnzimmer, das an Spießigkeit kaum zu überbieten war. Als erstes starrte uns ein riesiger Hirschkopf entgegen, der sein Dasein festgedübelt an der Wand fristete. Der kleine Raum wurde von rustikalen Eichenmöbeln beherrscht, und die schwere Sitzgruppe bildete den Mittelpunkt. Die beiden Personen, die dort mehr oder weniger lagen, wirkten irgendwie deplaziert und fast wie Fremdkörper.

Mein Blick ging immer wieder über sie hinweg, ich konnte sie zuerst nicht fixieren. Eine Stimme in meinem Kopf wiederholte monoton, dass sie nur schliefen, alles wäre in Ordnung. In diese Stimme mischte sich eine zweite, flüsternd nur, aber warum war sie soviel glaubwürdiger? Deine Nachbarn sind tot, sagte sie leise, aber bestimmt, und ihr Mörder steht direkt neben dir. Ich spürte, wie mein Herz immer schneller klopfte, als ich die Augen mit Gewalt auf die beiden Körper richtete. Die Panik kam, und beinahe hätte ich ihr nachgegeben und wäre rückwärts aus der Tür gestürzt. Doch einige Augenblicke hielt ich dem Gefühl stand, bis die Anspannung etwas nachließ. Heribert stand neben mir und kaute ungerührt auf seiner verdammten Pfeife, unergründlich sondierte mich sein Blick, versuchte meine Reaktion zu deuten. Ich ahnte, dass jede Blöße gefährlich wäre, höchst ungern wollte ich mich zu meinen Nachbarn gesellen. Zitternd atmete ich aus und ließ die nackte Realität auf mich einwirken.

Ich hatte noch nie zuvor einen Toten gesehen, und diese Erfahrung möchte ich auch nicht wiederholen. Es war klar zu sehen, dass sie größte Qualen durchgemacht haben mussten, bevor ihr Leben geendet hatte. Ihre Gesichter waren zu Grimassen erstarrt, durch die im Todeskampf zusammengebissenen Zähne quoll ein bläulichweißer Schaum, der am Kinn hinabgelaufen war. Die Glieder wirkten merkwürdig verdreht, was sie fast marionettenhaft aussehen ließ, in einem letzten Aufbäumen krallten sich bleiche Finger in den grünen Polsterbezug. Irgendwie begann mein Magen, tiefer zu sacken und dabei gleichzeitig Säure nach oben zu schicken. Übelkeit machte sich breit und war bei weitem hartnäckiger als die Panik zuvor. In der muffigen Luft lag ein unterschwelliger Geruch des Todes, und die klaustrophobische Enge des Raumes tat ihr übriges, um mich keuchend zurück in den Flur wanken zu lassen. Schwer atmend versuchte ich mich zu beruhigen, während Heribert still neben der Polstergruppe verharrte und beobachtete, wie ich gebückt in der Tür stand. Täuschte ich mich oder lag in diesem wissenden Blick nicht auch ein Anflug von Bedauern? Mit scheinbar teilnahmsloser Ruhe begann er, seine Pfeife zu stopfen, derweil ich meine Fassung etwas zurückgewann und nach Worten suchte.

„Das hast du nicht gedacht, hm?“ kam er mir eher beiläufig zuvor. Heftig schmauchend verbarg er sein Gesicht hinter Rauchwolken. „Fertigmachen ...,“ fuhr er murmelnd fort, um dann in Schweigen zu verfallen.

„Hast du ... wieso ...,“ schaffte ich hervorzubringen und lehnte mich an den Türrahmen, dankbar für das überdeckende Pfeifenaroma, weiter würde ich nicht wieder in das Zimmer hineingehen. Seltsamerweise musste ich an den Tag der Huhn-Affäre denken, nur waren diesmal die Rollen vertauscht. Jetzt war ich geschockt und fassungslos, aber das bestimmt um einiges mehr, als ich es beim Tod eines Tieres je sein würde.

Ich sah mir Heribert genauer an und versuchte zu ergründen, wie und warum er sich so verändert hatte. Bei aller Tierliebe konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Nachbar deswegen so durchgeknallt war. Es konnte vielleicht der letzte Tropfen im Fass des Wahnsinns gewesen sein, aber die Gründe mussten doch viel tiefer liegen. Zumindest versuchte ich mir das einzureden, als mir auch seine merkwürdige Kleidung auffiel, die ich bis dahin nicht registriert hatte. Ich erinnerte mich schlagartig wieder an den sonnigen Tag im Garten, in dessen Verlauf mir Heribert von seinem bewegten Berufsleben erzählt hatte.

„Hab schon alles gemacht, sach ich dir! Alles!“ Nach dem dritten Weizen fuchtelte er mit der Pfeife gefährlich nahe vor meiner Nase herum. „Maurer, Taxifahrer, Pommesbäcker, alles! Zuletzt war ich innem Schlachthof. Schweine zerteilen und die Biester durche Gegend schleppen. Die wiegen, dat sach ich dir!“ machte er mit bedeutungsvollem Blick klar. „Hat mir den Rücken zerbröselt, danach ging nix mehr! Konnte mir das Geschlachte sowieso nich mehr ansehn.“

Und von diesem Job hatte er sich eine schmutzigweiße Lederschürze bewahrt, die von der Brust bis fast zu den Knöcheln reichte. Schlimmer war das riesige Fleischermesser, das lose an seiner Hüfte hing. Wieder beschlich mich die Angst, ich wollte mir nicht ausmalen, was er damit vorhatte. Die Pottkes hatte er ihrem Aussehen nach schon auf andere Art ermordet, also war es wohl für unplanmäßige Schwierigkeiten vorgesehen. Ich hoffte, nicht dazuzugehören und konnte nur darauf setzen, dass er mich weiterhin als Verbündeten ansah, und dieses Stück musste ich weiterspielen, irgendwie durchstehen.

Fieberhaft begann ich zu überlegen, wie ich die Situation zu einem Ende bringen konnte. Pottkes ließen sich auch mit Erster Hilfe nicht wieder zum Leben erwecken. Mir blieb nur, Heribert davon zu überzeugen, dass er ein Verbrechen begangen hatte und sich der Polizei stellen musste, bevor er womöglich weiteres Unheil anrichtete.

Ein heldenhafter Vorsatz, der sich vorerst in Wohlgefallen auflöste, als Heribert nun in die Mitte des Raumes ging, Herrn Pottkes an den Füßen packte und begann, die Leiche in Richtung Tür zu ziehen, offenbar wollte er die Spuren beseitigen. „Kümmer dich mal um die Alte,“ keuchte er mit der Pfeife zwischen den Zähnen und schleifte den Körper an mir vorbei, „der Arsch hier is schon schwer genug.“

Das reichte, um mich endlich aus der schockbedingten Lethargie zu reißen. „Bist du bescheuert?“, fuhr ich ihn an. „Meinst du, ich helf dir auch noch bei der Scheiße hier? Ich werd mich verpissen, du musst schon zusehen, wie du klarkommst!“ Ich drehte mich um und wollte durch den halbdunklen Korridor zur Treppe, aber der alte Kauz war verdammt schnell.

Er ließ Pottkes wie einen Sack zu Boden fallen und hechtete mir geschmeidig hinterher, wobei er meine Jacke zu fassen bekam. Die Morde mussten eine ungeheure Energie in ihm freigesetzt haben, anders konnte ich mir die Kraft nicht erklären, mit der der sonst fast gebrechlich wirkende Mann mich zurückriss und umklammerte.

„Oh nee, Junge! Du hängst da mit drin und wirst deinen Teil dazutun, dat schwör ich dir. Wir haben einen Pakt, vergess dat nich!“, flüsterte er mir mit nach Zwiebeln und Tabak riechendem Atem ins Ohr. Spätestens jetzt dämmerte mir, dass Heribert’s Verstand schon fast über den Jordan war.

Mit einer Hand zog er mich ein Stück den Gang zurück, die andere griff an die Decke und öffnete eine Klappe, die zum Dachboden führte. Er entriegelte die Leiter und ließ sie zu Boden, während ich wie betäubt danebenstand. Ich zermarterte mir das Hirn mit der Frage, was er für einen Plan hatte und welche Rolle ich darin spielen sollte. Aber wahrscheinlich würde ich es eher erfahren, als mir lieb war. Wichtig war, Heribert vorerst in Sicherheit zu wiegen, um möglichst schadlos aus dieser Hölle herauszukommen.

Wieder war ihm die Pfeife ausgegangen. Ich war versucht, sie ihm ins Auge zu rammen, um zu sehen, ob er auch mit dem Hirn rauchen konnte. Er blieb die Ruhe in Person, entzündete sie neu, paffte ein paar Rauchwolken, die in die kühle Finsternis des Dachbodens zogen.

„Hoch da, und bleib ruhig, während ich tue, was getan werden muss.“ Seine Rechte lag jetzt wie zufällig auf dem Griff des Messers, was meinen äußeren Widerstand auflöste. Vorsichtig stieg ich die alte Holzleiter hinauf in den unbekannten Raum. Dunkelheit und Kälte schlugen mir entgegen und ließen mich zusammen mit der wachsenden Angst frösteln. Fahles Mondlicht fiel durch ein winziges Dachfenster und erhellte nur einen Ausschnitt. Der Boden war schmal und langgezogen, an einem Holzpfeiler nahe der Luke leuchtete mir schwach ein Schalter entgegen, der nach Betätigung eine nackte Glühbirne aufleuchten ließ. Gebückt bewegte ich mich in die Mitte des Raumes, bedingt durch die Dachschräge konnte ich nur hier fast aufrecht stehen. Durch Ritzen in der Dämmung zog der eisige Wind und verwandelte meinen Atem in helle Wolken, als ich mich umsah.

Die Inspektion erschöpfte sich schnell, da der Dachboden bis auf einige Gegenstände an der Stirnwand, hinter der die andere Haushälfte lag, gänzlich leer war. Den größten Teil davon nahm die sagenumwobene Zinkwanne ein, und sie war wirklich ein ziemlich großes Biest, ich hätte locker darin baden können. Sie stand auf vier schmalen Füßen, vage konnte ich die Schleifspuren auf dem staubigen Holzboden ausmachen, wo sie vor- und wieder zurückgeschoben worden war. Knapp unter dem First verlief ausserdem eine dicke Metallstange, an der mehrere silbern glänzende Fleischerhaken direkt über der Wanne hingen. Für einen absurden Moment sah ich Pottkes vor mir, wie er Heriberts Huhn hier abhing und hätte fast gekichert, wenn mir nicht gleich darauf ein anderer Gedanke gekommen wäre. Die Haken waren verdammt groß und sehr spitz, zu groß für ein mageres Federvieh ...

Klappern gefolgt von angestrengtem Ächzen unterbrachen meine Schlussfolgerungen. Ich ging zur Luke, die rund drei Meter von der Wand entfernt war, und sah zu, wie Heribert den Körper von Herrn Pottkes die Leiter hochschob. Glücklicherweise war dessen Gesicht mir abgewandt, als der Oberkörper nach vorne auf den Boden klatschte und dabei eine Staubwolke aufwirbelte. Heribert stand nun halb auf der Leiter, umfasste die Beine des Mannes und wuchtete auch den Unterleib keuchend durch die Luke. Dann verschwand er wieder in der Wohnung.

Vorsichtig bewegte ich mich um den Toten herum zur gegenüberliegenden Wand. Was er auch vorhatte, ich wollte dem Irren nicht im Weg stehen und hegte auch irgendwo die kindische Hoffnung, er könne meine Anwesenheit über seine eifrige Tätigkeit hinweg vergessen, was mir vielleicht ein Chance zur Flucht gab. Ich hockte mich mit dem Rücken an die Wand, deren Eiseskälte sofort begann, durch die Jacke in meinen Körper zu kriechen. Jetzt war mir Pottkes’ verzerrte Grimasse zugewandt, aber sie lag gnädigerweise im Schatten. Dennoch hatte ich das Gefühl, seine toten Augen würden mich hasserfüllt durchbohren und ewige Rache schwören. Die Zeit zog sich hin und die Stille wurde erdrückend. Ich bildete mir ein, die Leiche würde quälend langsam auf mich zukriechen und dabei Flüche murmeln. Unfähig zur Bewegung würde ich an der Wand sitzen und warten, bis sie bei mir war, Auge in Auge, und mir mit ihrem vergifteten Atem die Verbrechen ins Ohr flüstern, die ich begangen hatte, und was ich dafür zu erleiden hatte.

Die nicht weniger schreckliche Wirklichkeit holte mich ein, als Heriberts Halbglatze aus der Luke auftauchte und Frau Pottkes mit einem Grunzen neben ihren Gatten ablegte. Nachdem er selbst hinaufgestiegen war, nahm er natürlich zuerst einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, ohne mich in irgendeiner Weise zu beachten. Hoffnung keimte in mir auf, als Heribert sich umdrehte und zu der Zinkwanne sah. Vielleicht hatte sein krankes Hirn mich wirklich verdrängt.

Er packte Pottkes an den Beinen und schleifte ihn in Richtung Wanne. Hier griff er sich unter die Schürze und holte ein Seil hervor. Gekonnt band er ein Ende um die Füße seines Nachbarn und zog das andere kräftig über die am Dachbalken befestigte Metallstange. Stück für Stück wurde Pottkes in die Höhe gezogen, bis sich seine Schultern auf Höhe des Wannenrandes befanden. Nun knotete Heribert das Seil an der Stange fest und hob die Leiche an, bis sie frei über der Wanne schwang, die Arme nach unten hängend, als wolle sie einen grotesken Handstand vollführen. Heribert besah sich seine Arbeit, während er ein paar Züge schmauchte, dann holte er Frau Pottkes, während ihr Mann mit leerem Blick zusah.

Als das Werk vollbracht war, verharrte Heribert einen Moment, den Blick zur Decke gerichtet. Er nahm das Messer von der Hüfte und prüfte die Klinge, die im Schein der Glühbirne schwach glänzte. Ich hörte ihn leise vor sich hinmurmeln und meine Kehle schnürte sich zu. Die Kälte war vom Rücken aus bis in meinen Kopf vorgedrungen und hatte die Zellen eingefroren, ich konnte nur noch in Zeitlupe denken. Instinktiv wollte ich mich kleiner machen und in irgendeine dunkle Ecke fliehen.

Doch schien meine Reaktion unbegründet, denn Heribert wandte sich nun seinen hängenden Nachbarn zu. Er baute sich direkt vor der Wanne auf und hob die Arme über den Kopf. Mit dem Messer vollführte er seltsame, schlangengleiche Bewegungen und sein Monolog wurde lauter. Ich lauschte, konnte jedoch keinen Brocken der fremden Sprache verstehen. Er steigerte sich dabei in eine wilde Trance, seine schattenhafte Silhouette vollführte einen heftigen Tanz auf den Körpern seiner Mordopfer.

Während dieses abgedrehten Rituals glaubte ich, die Temperatur des Raumes nochmals sinken fühlen zu können. Irgendwie änderte sich die Atmosphäre, auch wenn ich heute nicht mehr sagen könnte, was genau geschah oder ob nicht die allgegenwärtige Furcht meinem Verstand etwas vorgaukelte. Jedenfalls hielt Heribert nach einer gewissen Zeit in seinem Tun inne und stand wie eine Salzsäule im Raum, das harte Licht der Glühbirne ließ seine schweißbedeckte Kopfhaut glänzen. Mein Atem ging sehr flach und kondensierte im eiskalten Raum. Ich dachte an die ahnungslosen Nachbarn, die ringsum in ihrer eigenen Welt schliefen und kam zu der Frage, was ich hier sah und ob sich nicht auch mein Verstand so langsam von mir verabschiedete.

Heribert indes interessierten meine Gedankengänge wenig, als er Herrn Pottkes Kopf mit der Linken umfasste und leicht nach hinten bog. Die Hand mit dem Messer vollzog einen sauberen, waagerechten Schnitt über die Kehle des Toten. Blut trat aus der offenen Halsschlagader hervor, doch es war keine sehr große Menge, da das Herz bereits seit einer Weile nicht mehr schlug. Einen Moment lang begutachtete Heribert sein Werk, um die Aktion dann bei der armen Frau Pottkes zu wiederholen. Er ging einen Schritt zurück und sprach laut:

„Tot ist, was nicht ewig lebt.
Tot ist, was dem Traum entschwebt.
Tod ist, was kein Gott erlebt.“

Monoton klangen diese Worte durch den Raum und ließen die grausame Wirklichkeit unwirklich erscheinen. Angestrengt versuchte ich, den Sinn darin zu verstehen, spürte aber nur eine wachsende Beunruhigung, die tief in mir anfing zu nagen. Hier stimmte etwas nicht, war aus dem Gleichgewicht geraten. Ich konnte es an keinem Detail festmachen, aber irgendein Urinstinkt schien mich anzuschreien, dass die Realität begonnen hatte, sich zu verändern. Langsam schob ich mich an der Wand nach oben, alle Muskeln bis aufs Äußerste gespannt und auf Flucht programmiert.

Heribert setzte seinen Schamanentanz fort, wobei die Bewegungen seiner sehnigen Arme hektischer wurden und er zwischen den abgehackten Sätzen der Beschwörung laut keuchte. Sein Schatten, der auf die Wand und die Toten fiel, schien sich zu verändern, die Formen wurden fließender und geschmeidiger und ließen das Licht schwächer werden. Bei diesem Anblick brach mir trotz der Kälte der Schweiß aus und so unauffällig und langsam wie nur möglich begann ich, mich auf die Dachluke zuzubewegen.

Die Vorsicht schien unbegründet, befand sich mein mörderischer Nachbar doch mittlerweile vollends in einer Art ekstatischen Trance, in der er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm. Zu seiner keuchenden Litanei gesellten sich nun weitere Geräusche reißender und schneidender Art. Das große Messer war wieder in Aktion, es schnitt die Kleidung der Toten in Fetzen, um dann in die Leiber zu dringen und das Werk zu vollenden.

Ich stand vor der Leiter und starrte, unfähig hinabzusteigen, auf den Rücken meines Freundes wie das Kaninchen auf die Schlange. In silbrig-roten Schwüngen fuhr die Klinge auf und ab, ein Tropfen Blut landete auf meiner Wange. Wie in Zeitlupe hob ich die Hand, um ihn angeekelt abzuwischen. Entfernt registrierten meine Sinne, dass ich selbst begonnen hatte, zu keuchen und am ganzen Leib zu zittern. Das Blut der Toten lief nun aus geöffneten Arterien und strömte in die Wanne, während Heribert wiederum die Arme hob und seinen Monolog beendete. In diesem Augenblick der Stille knirschte die oberste Sprosse der Leiter in meinen Ohren lauter als ein Jumbo Jet, als ich mein Gewicht darauf verlagerte, um nach unten zu klettern. Hastig nahm ich zwei weitere Stufen und packte die Leiter mit beiden Händen, und Heribert drehte sich langsam zu mir um.

Einfach zu springen hätte mir einen Großteil der Alpträume erspart, die mich seitdem verfolgen, doch irgendeine unbekannte Macht zwang meine Hände dazu, sich am Holz festzukrallen und meinem vermeintlichen Schicksal ins Gesicht zu blicken. Und dieses Gesicht hatte sich verändert. Zuerst hielt ich es für ein optisches Phänomen, als ob die Glühbirne, die nun leicht zu flackern begonnen hatte, nicht genügend Licht in seine Richtung warf. Dann dachte ich an einen raffinierten Maskentrick, der mir verborgen blieb, bis der rationale Teil meines Verstandes auch diese Idee verwarf und begann, an sich selbst zu zweifeln.

Heribert besaß keine Augen mehr. An ihrer Stelle herrschte eine Dunkelheit, nein eine Leere, die die Augenhöhlen komplett ausfüllte. Wie betäubt starrte ich in diese Finsternis, die wie zwei schwarze Seen mit unergründlicher Tiefe hinabreichten. Und gleich einem See, dessen Oberfläche in mancher Nacht den Mondschein widerspiegelt, konnte ich Reflexionen am Rande meines Bewusstseins wahrnehmen. Eine Ahnung von uralten, verglühten Sternen und lebenden Dingen, die dazwischen lagen, gefangen in ewiger Starre. Unmenschliche Kälte ging von dieser Leere aus, verbreitete sich im Raum und überzog alles mit feinem Rauhreif.

Der restliche Teil von Heriberts Gesicht wirkte so normal, wie man es angesichts seines Geisteszustandes und der gegenwärtigen Situation erwarten konnte. Der Mund stand etwas offen und war erschlafft, als ob sich sein Verstand in weite Ferne zurückgezogen hatte, die Pfeife hing lose im Mundwinkel. Er bewegte sich nicht auf mich zu, stand einfach da und begann die blutverschmierten Hände zum Gesicht zu heben. Einen Moment später hatte er schon die Finger gestreckt und schob sie in seine Augenhöhlen. Augenblicklich verschwanden sie völlig in der Schwärze, ich konnte sehen, dass hier kein billiger Zaubertrick vorgeführt wurde.

Ein tiefes Stöhnen rang sich aus der Brust meines Nachbarn und durchbrach die Stille, als würde er solche Qualen erleiden, dass sie ihm die Kraft zu Schreien nahmen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als er die Finger wieder herauszog, sie waren blau gefroren und eisbedeckt. Zitternd streckte er sie mir entgegen und begann, in einer unbekannten, gutturalen Sprache zu sprechen. Ich sah seine Lippen diese seltsamen Worte formen und spürte meine kurzzeitig verdrängte Angst mit aller Macht zurückkehren, als sich hinter ihm etwas zu rühren begann.

Die ausblutenden Leichen begannen zu zucken, zuerst nur minimal, dann immer stärker, als die Beschwörung voranschritt. Wie große Fische am Haken brachten sie die Seile in Schwingungen und ließen sie knirschend über den Balken schaben, die verzerrten Gesichter blieben dabei ohne jede Regung. Ich schrie mein inneres Selbst an, jetzt endlich zu reagieren, bevor dieses grausige Ritual beendet und meine letzte Chance vergangen war. Der Fluchtinstinkt siegte in dem Moment, als das Ding, das einmal Heribert gewesen war, sich in Bewegung setzte und gleichzeitig die Glühlampe mit lautem Knall den Geist aufgab. In der plötzlichen Dunkelheit hörte ich nur noch das gespenstische Geräusch der Seile und die schlurfenden Schritte meines Nachbarn, der unerbittlich auf mich zukam.

Ich stieß mich von der Leiter ab und sprang die rund zwei Meter in die Tiefe, nicht ohne mir das Knie heftig an eine der Sprossen zu stoßen. Unten fiel ich polternd auf den Holzboden und landete auf dem Rücken, was mir den Atem aus den Lungen trieb. Panisch rollte ich mich zur Seite und kam quälend langsam auf die Füße, die unendliche Leere des namenlosen Gesichts gleich einem Damoklesschwert über mir schwebend. Ich stolperte zur Treppe und hastete wie von tausend Teufeln gehetzt nach unten und raus aus dem Haus. Nachdem ich drei Straßen weiter gerannt war, ließ die Panik etwas nach. Ein Gefühl sagte mir, dass Heribert mich nicht verfolgte, welche Gründe ihn auch immer davon abhielten.

Immer weiter ging ich durch die kalten leeren Straßen ohne Ziel, der Tag war noch weit entfernt. Ich kämpfte darum, das Erlebte weit von mir zu schieben und versuchte, an nichts zu denken und mich nur aufs Gehen zu konzentrieren. Eine Weile gelang das sogar, bis ich mich vor der Bahnhofshalle wiederfand, die eine warme und willkommene Einladung darstellte. Also ließ ich mich drinnen auf einer Bank nieder und wartete auf den nächsten Tag.

Der Morgen fand mich steif und zerschlagen, irgendwann musste ich wohl doch eingeschlafen sein, die ersten Fahrgäste durchquerten bereits die Halle. Im ersten Moment des Erwachens war ich völlig orientierungslos, bis mir die Erlebnisse der Nacht durch den Kopf schossen. Ich spulte alles noch einmal wie einen Film vor meinem geistigen Auge ab, doch am Ende kam mir alles kaum noch real vor. Ich musste nach Hause, um festzustellen, ob diese Dinge wirklich stattgefunden hatten oder alles nur auf einem wahnhaften Traum beruhte.

Ich stand auf, streckte die knackenden Glieder und setzte mich in Bewegung, was von einigen Passanten mit schrägen Blicken bedacht wurde. Wäre ich doch auch nur ins Bett gegangen, ich beneidete sie um ihre Unwissenheit. Hungrig und durchgefroren erreichte ich unser Haus, nur um es still und unscheinbar vorzufinden. Alles wirkte friedlich (oder leblos?), und bei Heribert und Pottkes herrschte die gewöhnliche Ruhe.

Einen Moment blieb ich stehen und kämpfte mit dem Gedanken, bei einem der beiden zu klingeln, aber ein unbewusster Teil meines Selbst setzte dem einen Riegel vor und entfachte tief in mir wieder eine Angst, die meinen ganzen Körper durchlief. Also eilte ich zu meiner Wohnung, schloss hastig die Tür auf und liess mich mit einem Seufzer auf die Couch fallen, während mir die Gedanken durch den Kopf rasten. Ich musste die Polizei einschalten, daran ging kein Weg vorbei, schon um nicht in den Verdacht zu geraten, in die Morde verwickelt zu sein, wenn man die Leichen fand.

Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer der Kripo und erzählte dem Beamten am anderen Ende mit nicht ganz beherrschter Stimme von den Geräuschen, die ich nachts gehört hatte und dass ich mir doch leichte Sorgen um das Wohlergehen meiner Nachbarn machte. Er beruhigte mich und versprach, eine Streife vorbeizuschicken, ich sollte bis zu ihrem Eintreffen bitte in der Wohnung bleiben. Nach dem Gespräch fiel eine riesige Last von meinen Schultern, wenigstens diesen Teil hatte ich geschafft.

Als die Beamten eintrafen, stand ich nervös am Fenster. Sie klingelten wohl einige Male erfolglos bei Pottkes, um dann vor meiner Tür zu stehen. Mir schlug das Herz im Halse, als ich öffnete, sie hereinbat und ihnen von den Ereignissen erzählte, die sich bis zum Verlassen meiner Wohnung zugetragen hatten. Irgendwie schien es mir zu gelingen, einen halbwegs normalen Eindruck zu erwecken, jedenfalls bohrten sie nicht weiter nach. Auf detallierte Fragen wollte ich natürlich keine Antwort wissen, und so zogen sie wieder ab.

Ein paar Tage später erfuhr ich durch einen anderen Nachbarn, dass die Polizei sich Zugang zu Pottkes’ Wohnung verschafft und Spuren gesichert hatte. Jedoch fand sich kein Hinweis auf ein Verbrechen oder der Verbleib des Paares, und auch Heribert schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Seine Frau war mit den Nerven am Ende und völlig aufgelöst, als sie mir ihr Leid klagte. Wegen mir konnte der Kerl in der Hölle verfaulen, aber ich tat mitfühlend und nickte mechanisch zu ihren Tränen, hatte sie wirklich keine Ahnung von den dunklen Seiten ihres Mannes?

Zeit ging ins Land, und irgendwie wuchs in mir die Hoffnung, dass dieser Alptraum Geschichte war. Bis ich eines Abends ein leises Schaben vernahm, dass nur aus der leeren Nachbarswohnung kommen konnte. Entsetzt erstarrte ich in meiner Bewegung und lauschte wie gelähmt. Das Geräusch wurde zu einem Schleifen, endete polternd und brachte eine schreckliche Erkenntnis: die Zinkwanne.

Auf Zehenspitzen schlich ich zur Wand und horchte mit Unglauben, es tat sich nichts. Und dann, eine Stimme von der anderen Seite, oder war sie nur in meinem Kopf?

„Sterne und Äonen ... wieviele Millionen ... Felix ...“

Meine Sicht verschwamm, ich blinzelte und stolperte durch den Raum, alles wurde dunkel und konfus. Meine Füße trugen mich ins Bad, zum Waschbecken, wo ich mir verzweifelt das Wasser ins Gesicht schlug, ohne Erfolg. Ich presste die Stirn gegen das kühle Glas des Spiegels, doch die Finsternis nahm zu. Und als ich die Augen öffnete, sah ich nichts, was mir gehörte, doch alles war da. Finsternis und Sterne, Unendlichkeit der Träume, die Angst war fort.

Und ich verstand.

 

Hallo Peterchen,

deine Geschichte brauchte zwar ne Weile, um in Schwung zu kommen, doch ab dem Betreten von Pottkes’ Haus wurde es dann durchweg spannend und teilweise wirklich horrormäßig. Vor allem bei der Stelle mit Heriberts fehlenden Augen und seiner Beschwörung.

Allerdings muss ich sagen, dass ich das Ende nicht wirklich verstanden habe. Kommt Heribert wieder, um den Prot zu holen? Mir fehlt da noch etwas der erklärende Hintergrund, was mit Heribert überhaupt los war. (Im Klartext: Sag’ es mir, bitte. ;) )


Ich will erst grinsen, dann wird mir die Bedeutung des Satzes klar:
wollte ... wurde


MfG
Travis

 

Hi Peterchen,

tolle Geschichte! War super zu lesen und vor allem echt gruselig :thumbsup:
Ich habe selber sehr eigenartige Nachbarn, von denen ich mir ähnliches vorstellen kann, deshalb konnte ich wunderbar mit dem Prot mitfühlen. :D
Ich finde auch grade gut, dass man nach dem Ritual keine erklärenden Worte zu Heribert bekommt, so kann sich jeder noch selber Gedanken dazu machen.
Also, echt top, habe nichts zu bemängeln!!

Lieben Gruß
Mel-Cay

 

@Travis

Zitat:
Ich will erst grinsen, dann wird mir die Bedeutung des Satzes klar:

wollte ... wurde


Ich nutz das als Stilmittel und seh es nicht als Fehler, wenn man mal kurz die Zeit wechselt.

Wenn ich alles beschreiben und erklären wollte, müsste ich mich auf Gebrauchsanleitungen spezialisieren ;) . Für mich steckt der Sinn in einer Story nicht darin, dass man sie völlig versteht. Gerade bei Grusel/Horror ist es doch das Mysteriöse und die eigene Phantasie, die weiterspinnt, was den Reiz beim Lesen ausmachen kann. Vielleicht kommt Heribert zurück, um den Prot zu beseitigen, vielleicht will er ihn in seine Welt ziehen? Wo sind Mörder und Opfer hin? Wer weiß das schon zu sagen? Ich empfehle dir was vom Altmeister Lovecraft, sehr inspirierend und fast nie erklärend.

Dir und Tiefkuehlkatze danke fürs Lesen und vor allem fürs Gruseln! :thumbsup:

Das Ganze basiert natürlich auf einem wahren Kern. Pottkes gibt's in der Form wirklich, und er hat auch ne mörderisch laute Zinkwanne. Musste ihn einige Jahre ertragen und auch die Story hat 4 Jahre bis zur Vollendung gebraucht. Na ja, jetzt hat das Trauma ein Ende und jeder kann sich dran gruseln :D .

 

Hallo Peterchen

Travis schrieb:
deine Geschichte brauchte zwar ne Weile, um in Schwung zu kommen, doch ab dem Betreten von Pottkes’ Haus wurde es dann durchweg spannend und teilweise wirklich horrormäßig. Vor allem bei der Stelle mit Heriberts fehlenden Augen und seiner Beschwörung.
Kann ich jetzt nur unterstreichen. Kleinkariertes Nachbarschaftsgezänk ist sicher nicht das, was ein Leser sich von einer Horrorstory erhofft. Wenn du den Leser erahnen lassen könntest, dass mehr hinter den Aktionen der Nachbarn steckt, wäre schon viel gewonnen. So schlägt die Geschichte einfach unvorbereitet um und hat damit wenig Bezug zum 1. Teil. Und ich vermute mal, dass der 1. Teil der eigentlich exzellenten Horrorstory viele Leser abschreckt.

Vielleicht solltest du mit den unheimlichen Geräuschen der Zinkwanne beginnen (ohne das ähm Gezänk) und dann eine kurze Idylle (kommt im Horror immer gut). Dann ein paar Risse... Aber immer mit gruseligem Hintergrund!

Z.B. Wenn dein Prot im Haus des Nachbarn ein Schild mit der Aufschrift

Tot ist, was nicht ewig lebt.
Tot ist, was dem Traum entschwebt.
Tod ist, was kein Gott erlebt.
Ist witzig und gruselig zugleich. Das ist übrigens etwas, was meiner Meinung nach den 2. Teil deiner Geschichte auch auszeichnet.

Wenn du also den Anfang richtig hinbekämst, wäre die Geschichte wirklich exzellent.

Grüße
Texter

 

Hallo Texter,

lieber spät antworten als nie :D . Vorab besten Danke für die tolle Bewertung!

Also, ursprünglich wollte ich einfach nur was schreiben, wo mein Pottkes so richtig sein Fett wegkriegt. Dafür ist halt der ganze Vorbau, um die Situation vorweg zu schildern, das ist schon vor rund zwei Jahren entstanden. Dann kam mir irgendwann die Idee mit der Beschwörung und den Lovecraft-Anleihen, und das Ganze wurde immer düsterer und unheimlicher. An sich ist die Story also zweigeteilt, und um in dieser Rubrik richtig zu funktionieren, muss der Anfang wohl gekappt werden. Ich werde mir da Gedanken machen und schätze mal, dass es keine vier Jahre dauern wird, was zu ändern, aber'n Weilchen schon. :hmm:

Schönen Gruß
Peter

 

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