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Die zwei Uhren
Eine Frau lebte mit ihrem Mann in einem Haus am Rand des Waldes in der Nähe eines Dorfes. Jeden Morgen ging sie in das Dorf, um Gemüse, das sie in ihrem Garten zog, gegen andere Dinge zu tauschen, die sie nicht selbst herstellen konnte. Jedes mal brachte sie für ihren Mann eine Flasche Schnaps mit.
Sie sprach nicht viel mit den Bewohnern des Dorfes, nur das Nötigste, um den Tauschhandel zu vollziehen. Oft war ihr Gesicht verletzt und zerschlagen.
Eines Morgens ging sie nicht sofort ins Dorf. Sie stand auf, ging in den Schuppen hinter dem Haus und holte die Axt, mit der ihr Mann das Feuerholz hackte. Damit schlug sie ihrem Mann den Schädel ein. Dann ging sie mit der Axt zum Dorfplatz, setzte sich dort hin und wartete, bis die Leute herausfanden, was geschehen war. Als sie die Frau dann fragten, warum sie das getan habe, sagte sie nur: "Weil ich es wollte." Dann schwieg sie nur noch.
In dem Dorf wurde nun ein Gericht einberufen. Die Leute glaubten fest an die Verantwortung eines jeden vor Gott und der Gemeinschaft, aber niemand durfte verurteilt werden, solange die genauen Umstände der Tat nicht geklärt waren, und die Frau schwieg weiterhin. Zu ihrem Anwalt wurde der Lange Mann bestimmt. Er lebte am Rand des Dorfes, wo der Bach in den Fluss mündete, und die Dorfbewohner hielten ihn für den klügsten Menschen der Welt. Also befragte er die Frau, doch auch zu ihm sagte sie nur diese Worte: "Weil ich es wollte." Da erbat der Lange Mann vom Richter zwei Wochen, die dieser ihm gewährte. Daraufhin fuhr er in die Stadt und kam einige Tage später mit einem Fuhrwerk zurück, von dem zwei große Kisten abgeladen wurden. Diese ließ er verschlossen im Gemeinderaum aufstellen, der als Gerichtssaal diente.
Als der Tag der Verhandlung kam, versammelte sich das ganze Dorf im Saal. Erneut berichtete ein Polizist, was über die Tat bekannt war, und erneut wurde die Frau nach ihren Motiven befragt. Wieder sagte sie nur: "Weil ich es wollte." Dann forderte der Richter den Langen Mann auf, die Frau zu verteidigen. Niemand im Saal glaubte, dass er ein hartes Urteil abwenden könnte. Der Lange Mann ließ die beiden Kisten öffnen, und jeder konnte sehen, dass jede eine große Uhr enthielt. In der auf der linken Stirnseite des Raums aufgestellten Kiste war eine weiße Uhr mit einem großen Ziffernblatt und zwei langen, schwarzen Zeigern. Beide Zeiger standen kurz vor der Zwölf auf dem Ziffernblatt, obwohl es erst morgens gegen zehn Uhr war. In der rechten Kiste stand eine schwarze Uhr, deren Ziffernblatt keine Zeiger hatte. Der Lange Mann stellte sich in die Mitte und wartete. Niemand wagte etwas zu sagen, obwohl sich jeder fragte, was diese Darbietung bezwecken sollte.
Dann sprangen die Zeiger an der weißen Uhr auf die Mittagsposition. Gleichzeitig begann in der schwarzen Uhr laut ein Gong zu schlagen. Da sah der Lange Mann die Leute an und fragte: "Ich frage euch: Warum hat die schwarze Uhr geschlagen?" Die Leute sahen sich an und murmelten ratlos. "Weil es an der Zeit war?" fragte der Apotheker unsicher. Doch der Lange Mann beachtete ihn nicht und erklärte: "Die weiße Uhr heißt Der Geist, die schwarze Uhr heißt Der Leib. Der Leib schlug, weil Der Geist es wollte." Da erhoben sich die Leute und schrien entsetzt durcheinander. Die Frau wurde freigelassen, ihr geschah kein Leid. Den Langen Mann aber jagten sie mit Stöcken in den Wald, weil sie so schreckliche Angst hatten.