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Die zweite Dimension

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14.08.2005
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Die zweite Dimension

Die zweite Dimension

Rauchen. Rauchen tröstet mich, hilft mir über schwere Stunden.
Es ist nicht das Nikotin oder die Rezeptoren in meinem Gehirn, allein der beißende Schmerz in meiner Lunge und die Gewissheit, dem Tod mit jeder ausgedrückten Zigarette ein Stückchen näher gekommen zu sein. Hier in diesem verlassenen, weißen Raum stehen nur ein Tisch und zwei Stühle, kein einziges Gemälde an der Wand, keine Topfblumen auf der Fensterbank, kein Radio das dich mit Chartmusik bedudelt, nur ich und eine kaputte, dreckige Wanduhr, die so unregelmäßig schlägt wie mein Herz, ihr Ticken raubt mir den letzten Nerv, zusammen in diesem Raucherzimmer im vierten Stock. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viel Stockwerke dieses Gebäude hat. Diejenigen, die es geschafft haben, unbemerkt nach oben zu gelangen, vorbei an Sicherheitspersonal, Pincodes und Krankenschwestern, nun ja, die haben ihre Chance ergriffen und sich hinuntergestürzt, mit ihren seelenlosen Hüllen die Windschutzscheibe eines parkenden Autos zertrümmert, binnen weniger Sekunden vom Menschen zum zermatschten Gedärm. Einziges Vermächtnis ist dein Halsband und die Fußsender, hin und wieder eine Plombe im Backenzahn. Wäre da nicht meine panische Höhenangst und der Gedanke an diesen letzten, endgültigen Aufprall, wäre dort unten die grell strahlende Erlösung und kein von Kaugummis bedeckter Asphalt, ich könnte euch diese Geschichte überhaupt nicht mehr erzählen.
Mein gelangweiltes Stöhnen wird überspielt vom Klingeln der Pausenglocke. Essenszeit. Pausenzeit. Feierabend. Wie fein säuberlich alles unterteilt ist. Wochenende. Morgenzeitung. Frühstück. Mein Name ist Stanley Parker, und ich kann mich an nichts erinnern. Nachmittagssnack. Dienstag abends Kino zum halben Preis. Abgestorbene Wälder, überschattet vom amerikanischen Traum, von Popcorn und Schminke. Freitags ab Mitternacht alle Cocktails zwanzig Prozent billiger. Fernsehsendungen. Rockmusik. Haschisch. Gedichte. Alkohol. Depressionen. Wir gelten als die Außenseiter und die Leute haben Angst vor uns, weil wir alle dieselben Charakterzüge aufweisen. Karriere. Der Pizzaservice liefert bei Verspätung kostenlos. Verzweiflung. Ernüchterung, Tränen, Verrat. Sag Hallo zur mentalen Isolationshaft. Willkommen in meiner Welt.
Mir war vorher nie bewusst gewesen, dass ich trotz allem imstande war, einen Menschen mehr als mich selbst oder ein gutes Steak mit Pommes zu lieben. Jeder klammert sich an ein Götzenbild, Lucy war die Leinwand auf die ich alles projizierte, was ich für ehrwürdig und wertvoll hielt. Fragt mich nicht warum, aber aus irgendeinem Grund ist mir das Filmmaterial ausgegangen. Ich wusste, dass sie sich nicht nur von mir ficken ließ. Sie lutschte jeden verdammten Schwanz der sich ihr in den Weg stellte. Ich wusste auch, dass sie sich nur deswegen mit mir verbunden fühlte, weil unser Leben auf der gleichen Ebene ablief, irgendwo zwischen ganz unten und noch weiter unten. Aber diese kleinen Momente, wenn wir auf ihrem Zimmer waren und sie sich vorm Ausgehen schminkte und ich ihr beim Ankleiden zusehen durfte, wisst ihr, vom Bettsims aus, mit verschränkten Armen und kritischem aber wohlwollendem Blick, das war einmalig und, wie man es in Fernsehzeitschriften liest, „voller subtiler Zärtlichkeit“. Hätte der Zufall nicht mich als barmherziger Retter ausgewählt, als sie sich diese Pistole an die Schläfe drückte, sondern jemand völlig anderes, dann hätte eben er meine Stelle als Schutzgeist eingenommen und die täglichen zehn Minuten Sex kassiert. Wenn meine Mutter zwei Jahre später... ihr wisst schon, die Schicksalsgeschichte, und das wir alle verflucht sind, trotzdem zu überleben.
Lucys Zimmer war in demselben Weiß gehalten wie meines, ursprünglich sollten alle Zimmer identisch bleiben, um ein Aufkommen von Konkurrenzgefühl zu vermeiden. Die allgegenwärtige Gleichschaltung sollte ein Kollektivgefühl suggerieren und die Häftlinge, oder, wie sie uns nannten, „Insassen“, zu Brüdern und Schwestern werden lassen. Sie bettelte und lutschte solange, bis sie ihr eine hübsche Palme und eine Schale mit Wasser genehmigten. Sie verlangte nach Porzellan, bekam aber nur eine Gummischale. In den Akten stand bei Lucy unter Charaktereigenschaften „Selbstmordgefährdet“, sie bekam Medikamente und nahm an Therapien teil. Es ist beeindruckend, wie oft ein Mensch seinen Schlussstrich wieder wegradieren kann, auch so eine neumodische Erscheinung dieser Fernsehwelt, nach dem Scheintot aufstehen und mit großen Augen aufs Happy End warten. Sie goss die Pflanze dreimal täglich, und nachts, wenn niemand mehr auf dem Flur und die Lichter ausgeschaltet waren, und wenn die Schlafmittel nicht ansetzten oder ich sie nicht geschluckt hatte, manchmal hörte ich sie mit ihrer Pflanze reden. Die Palme antwortete ihr, und es irritierte mich nicht, dass ihre Stimme aus meinem Mund kam. Nach drei Jahren Anstalt haut dich so schnell nichts mehr aus den Socken.
Man musste immer befürchten, am nächsten Tag plötzlich in einem anderen Haus aufzuwachen, wo man Familie und Freunde hatte, in die Schule gehen musste und Pflichten nachkommen. Rauschzustände. Du schaltest ein Programm weiter und bist wieder drin, was zwischenzeitlich passiert kümmert niemanden.
Mike öffnet sich eine Dose, und das Bier zischt ihm an den Fingerkuppen vorbei. Mike ist schon von drei Schulen geflogen, an mehr kann er sich nicht erinnern.
Ich mag den Sommer, ich mag die Vögel und die frische Luft, und die Picknickdecken auf der grünen Wiese im Stadtpark. Wir sitzen zu dritt auf unserer Decke, Lucy ist damit beschäftigt, mir und Mike ein paar Brötchen zu schmieren. Ich liege auf dem Rücken und blase der Sonne den Rauch ins Gesicht. Das Jucken an meinem Genick macht mich wahnsinnig. Lucy beugt sich über mich, gibt mir einen Kuss. „Bist du glücklich?“. Und ihre haselnussbraunen Augen werden mir zum Verhängnis. Selbstverständlich. Ich bin schon immer ein lausiger Lügner gewesen, und ein wesentlicher Teil meiner Freizeit setzt sich zusammen aus Produktion und Analyse vermeintlicher Lügengeschichten. Mir ist die imaginäre Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen diesen beiden verschwommenen Dimensionen abhanden gekommen.
Das Pochen ihrer Fußtritte höre ich schon von weitem kommen, und ich stelle mich auf eine gemütliche, wenn auch belanglose Gesprächsrunde ein. Frau Itzenbitz ist für unser zwischenmenschliches Wohlergehen zuständig, und ihre vertrauenserweckende Stimme für jeden Insassen täglich jeweils eine Viertelstunde reserviert. In meinem Kopf spielen sich Kriegsszenarien ab, Massensterben, ich sehe, wie die alles verschlingenden Feuerbälle auf die Erde rasen und binnen Sekunden alles vernichten. Frau Itzenbitz erkundigt sich nach meinem Befinden, und ob mir das gestrige Fernsehprogramm zugesagt hätte. Ziel dieser Frage ist eine Kontrolle meiner Amnesie.
Das nennen sie den „Rückkoppelungseffekt“, angeblich soll unser Gedächtnis damit trainiert werden, vergangene Ereignisse zu rekonstruieren, uns zu erinnern. Im Prinzip ist es nichts weiter als ein Test, und wer sich an das gestrige Fernsehprogramm erinnert, dem geben sie die doppelte Dosis Psychopharmaka und wünschen dir viel Spaß bei deiner geistigen Abwesenheit. Die Manipulation von Bewusstseinsinhalten führt nicht selten zum Identitätsverlust der Probanden, soviel weiß ich aus den psychologischen Gutachten, die Lucy sich ausgeliehen und kopiert hatte, in der reellen Dimension, oder der nichtreellen. Ansichtssache. Beide Dimensionen sind miteinander verbunden, inklusive einer zeitlichen Differenz von grob geschätzt zwölf Stunden.
Einmal Hupen bedeutet eine Stunde Freigang, zweimal Hupen Essenszeit, wenn aber unmittelbar hintereinander zweimal gehupt wird, das Freisetzen von Nervengift, und wenn es dreimal schnell hintereinander hupt, werden sämtliche Häftlinge unter Strom gesetzt. Ich habe euch doch von den weißen Zimmern erzählt. Unternimmt jemand einen Selbstmord- oder Fluchtversuch, senden die Infrarotschnittstellen am jeweiligen Fußknöchel ein Signal an die Hauptrechenzentrale im ersten Stock, und die Elektrobänder an deinem Genick versorgen dich kurzzeitig mit quälenden fünfzigtausend Volt Starkstrom, nach ein paar Jahren in der Anstalt machen sich die Folgeschäden an deinem Zentralnervensystem bemerkbar und wenn du nachts im Bett liegst spürst du, wie unregelmäßig dein Herz schlägt. Bei gutem Führungszeugnis nahmen sie einem das Halsband ab und beförderten dich zum wachhabenden Insassen. Du hast bestimmt von diesem Milgram-Experiment gehört. So ähnlich läuft es auch hier bei uns. Die Hupe dröhnt zweimal in normalen Abständen, und auf dem Passgang schenkt Lucy mir ein Lächeln während ich aus den Augenwinkeln beobachte, wie Mike von einem der Wärter zusammengeschlagen wird. Rauchen in der Zelle ist strengstens untersagt, seit sie Mike die Beine gebrochen hatten blieb ihm nichts anderes übrig, als sich unter sein Bett zu legen und dort zu rauchen, weil die Entfernung von Raucherzimmer und Zelle schlichtweg zu groß war, um dorthin zu kriechen. Die Küchentante klatscht mir einen Löffel Kartoffelbrei und drei Fleischklöße auf meinen Teller und ich merke, wie mir das Tablett zunehmend schwerer vorkommt. In dem Moment, in dem sie zum Essen rufen, warten alle auf das Nervengift. Lucy schaut sich ängstig um, beugt sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: „Sie haben Mike umgebracht.“ Stühle werden laut quietschend nach hinten gerutscht und zwischen diesem monotonen Stimmenwirrwarr vernehme ich den lieblichen Gesang eines Engels, kurz bevor ich rückwärts umfalle und mir den Kopf an der Tischkante aufschlage.

 

Hallo roadkill_jesus,

welch ein Name?!? ;)
zuerst einmal möchte ich dir raten ein paar Absätze einzufügen. Das gibt dem Text mehr Struktur und er lässt sich besser lesen.
Was die kg selbst angeht, so hat sie mir eigentlich ganz gut gefallen. Dein Stil passt zur Geschichte.
Was jeoch ein paar mehr Zeilen verdient hätte, wäre der Hintergrund. Warum Insassen? Was ist das für ein Laden? Warum sitzt dein Prot ein?
Fehler hab ich keine gefunden, und so kann ich abschließen sagen:
Gern gelesen, wenn ich auch noch viele Fragen habe

Einen lieben Gruß...
morti

 

Genau das war meine Intention beim Verfassen des Textes. Ursprünglich war es ein Drehbuch; deutlich unterteilt und mit Kommentaren zur jeweiligen Situation.
Das in dem Text nirgendwo nähere Hintergrundinformationen vorliegen, rührt daher, dass der Ich-Erzähler ebenfalls ratlos ist. Die Unterteilung der Dimensionen wurde aufgehoben und als Stilmittel benutzt, erst nachdem ein weiterer Abschnitt gelesen wurde, weiß der Leser ungefähr, in welcher Dimension er sich gerade befand.

 

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