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- 31.08.2008
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Dienstag ist OP
„Fühl´mal“, sagte Esther. Jürgen tastete vorsichtig. „Du mußt schon stärker drücken, hier“, zeigte Esther ihm, wo fühlen sollte. Jürgen betastete beide Brüste.
„Sie sind gleich, da ist nichts“, sagte er, „das Drüsengewebe ist sehr angeschwollen. Sonst nichts.“ „Morgen gehe ich zum Arzt“, schloß Esther das Gespräch ab. Beide versuchten, einzuschlafen.
Schon am Vormittag rief Esther Jürgen im Büro an: „Jürgen, ich war bei Dr. Dammschneider, er meinte auch, da wäre etwas. Es ist so schrecklich!“
„Was hat er denn noch gesagt? Wie geht es weiter?“ fragte Jürgen.
„Er hat mir eine Überweisung in die Radiologie mitgegeben. Ich habe mir schon einen Termin besorgt, in der Klinik am Ottoberg.“
„Wann ist das?“
„Heute nachmittag“, antwortete sie.
Abends, als Jürgen nach Hause kam, hatte Esther die Untersuchung gerade hinter sich. „Der Radiologe sagt, da wäre ein Befund, der abzuklären wäre.“
Beide öffneten den Umschlag, aber was dort stand, war schwer verständlich. „Morgen gehe ich wieder zu Dr. Dammschneider, gegen 10.00 Uhr. Kommst Du mit?“
„Ja, ich komme dorthin. Aber ich glaube es immer noch nicht.“
„Aber wenn es doch auf dem Röntgenbild zu sehen ist?“
Dr. Dammschneider hatte eine aufgeräumte, vertrauenerweckende Miene aufgesetzt, als Esther und Jürgen sein Behandlungszimmer betraten. „Guten Tag, Sie haben Ihren Mann mitgebracht? Ja, das ist gut. Bitte…“, er wies mit der Hand auf die Stühle. „Sie haben den radiologischen Befund mitgebracht. Dann zeigen Sie mal her.“ Esther gab ihm den Umschlag. Dr. Dammschneider besah sich das Schreiben und guckte ernst. „Ja, wie ich gesagt habe. Das sollten sie sicherheitshalber entfernen lassen.“ Er nahm ein Büchlein vom Schreibtisch: „Wann wollen wir es machen? Dienstag hätte ich einen Termin frei. Auch Belegbetten sind frei. Sie sollten nicht zu lange warten. “
Esther sah Jürgen verzweifelt an. „Sind Sie sicher, daß es gemacht werden muß?“ fragte Jürgen nach.
„Ja, das ist sicherer. Denken Sie an die vielen Fälle, in denen bösartiger Krebs das Leben zerstört. Wir haben Glück, wir haben es früh erkannt. Wenn wir es jetzt herausnehmen, besteht kein Risiko; auch wenn es bösartig ist, ist es noch gut beherrschbar.“
„Wollen Sie sich nicht einmal die Röntgenbilder ansehen?“ fragte Jürgen.
„Nein, ich habe den Befund ja gelesen. Aber sehen Sie selbst…“ er nahm die Bilder heraus und zeigte sie den beiden, „hier haben wir den Knoten. Sehr klein. Kein Problem.“
„Und wie geht es weiter, wenn es bösartig ist?“, fragte Esther.
„Wir bekommen den Befund aus der Histologie. Dann sehen wir weiter. Vielleicht muß dann nachoperiert werden. Also, wie steht es? Sie sollten nicht zögern. Jeder Tag zählt.“ Esther nickte.
„Also gut. Ich trage sie für Dienstag um 10.00 Uhr hier ein. Sie sollten zur Vorbereitung morgens um 8.00 Uhr nüchtern in der Parkklinik erscheinen.“
Esther und Jürgen standen unschlüssig auf. „Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen. Wird schon schiefgehen.“ Dr. Dammschneider grinste.
Abends kuschelte Esther sich an Jürgen. „Ich habe Angst“, flüsterte sie. Jürgen hielt sie fest. Er zweifelte noch an dem, was sie gerade erlebt hatten. „Mir ist das unheimlich. Ist Dir aufgefallen, daß er sich die Bilder gar nicht ansehen wollte? Das paßt doch nicht. Er muß sich doch ansehen, was er operieren will. Und dann das Abwarten des Befundes: wenn es wirklich bösartig ist, muß der histologische Befund gleich während der OP da sein, nicht erst ein paar Tage später. Zu dem Arzt mit seinen Belegbetten kannst Du nur gehen, wenn es harmlos ist. Und dann brauchst Du das Ganze überhaupt nicht.“
„Was sollen wir denn machen?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber das machen wir nicht.“
„Ja, aber?“
„Ich habe einmal gehört: wenn es um einen ernsten Eingriff geht, frage immer drei Ärzte. Genau das sollten wir tun. Frage Dich mal, zu welchem Arzt Du Vertrauen hast. Den fragen wir als erstes.“
„Dr. Theissen, der bei Lores Geburt dabei war.“
„Den rufen wir morgen an.“
„Kannst Du das machen? Mir fällt das so schwer.“
„Ja, mach ich.“
„Hallo Dr. Theissen“, meldete sich Jürgen am Telefon. Als erstes mußte Jürgen erzählen, wie es den Kindern ginge, und seiner Frau. So kam Jürgen schnell auf das Problem.
„Es hat keinen Sinn, daß ich mir das anschaue, dafür gibt es Fachkliniken, die den ganzen Tag nichts anderes machen. Bei Ihnen in der Nähe ist die Uniklinik, da gehen Sie zu Prof. Mandelbrot. Der Mann ist ein Künstler, er hat sein Leben der weiblichen Brust verschrieben … wenn ich zwanzig Frauen, denen man hier im Städtischen die Brüste abschneiden will, zu ihm schicke, kommen neunzehn ohne Befund zurück. Fahren Sie bald, dann sind Sie Ihre Sorgen schnell los.“
Jürgen berichtete Esther von dem Ergebnis - natürlich zitierte er die Ausführungen nicht wörtlich - und sie machten einen Termin bei Prof. Mandelbrot für Montag – einen Tag vor dem Termin für die Operation bei Dr. Dammschneider, aber die hatten jetzt beide schon abgehakt. So geht es nicht, das war ihnen klar geworden. Aber wie? Und wenn es doch…? Die quälende Ungewißheit zehrte an ihren Nerven.
Schließlich saßen sie auf den Stühlen für wartende Patienten bei Prof. Mandelbrot. Es war nur ein Flur auf einer Station im Krankenhaus; ein Wartezimmer existierte nicht. So sahen sie den schlaksigen, hageren Mann fortgeschrittenen Alters ständig von einem Raum zu anderen laufen, Anweisungen erteilen, gestikulieren, lachen … dann war Esther dran. „Guten Tag, bitte machen Sie sich mal frei … und Sie wollen dabei sein? Ist mir auch recht … ja, schön…“ Prof. Mandelbrot tastete darauf los, ging in die Knie, schaute, strich mit deinen langen Fingern über Esthers Brüste, „ja, sehr schön…“, tastete, drückte, „ja, alles klar. Sie dürfen sich wieder anziehen.“
„Ist das alles? Was ist denn mit dem Knoten?“, fragte Esther. „Welcher Knoten? Sie haben keinen Knoten“, antwortete Mandelbrot.
„Aber der Befund. Da ist doch etwas auf dem Röntgenbild?“ Esther war ungläubig. Trieb der Mann einen Scherz? Hatte er den Befund gar nicht angesehen und fertigte sie einfach schnell ab?
„Ach so … das Röntgenbild. Warten Sie, das zeige ich Ihnen. Kommen Sie!“
Esther und Jürgen folgten ihm in einen anderen Raum, wo an einer langen Leuchttafel einige Röntgenbilder hingen. „Wo ist doch gleich der Umschlag? Ach ja … hier.“ Er nahm die Bilder heraus und hängte sie zielsicher an der Leuchttafel auf. „Sehen Sie … hier ist ihre rechte Brust. Hier ist alles okay. Bei den Strukturen achtet man auch auf die Symmetrie … sehen Sie, auf der linken Brust hier … den hellen Fleck? Das ist ihr Knoten. Die andere Brust hat ihn nicht…“ Esther und Jürgen wurde es unheimlich zumute. „Und jetzt passen Sie mal auf…“, Mandelbrots Augen blitzten schalkhaft auf, er nahm das Bild der linken Brust, drehte es blitzschnell um und hängte es wieder neben das andere, „sehen Sie den Knoten noch? Jetzt sind beide Brüste symmetrisch. Nur normales, gesundes Lymphgewebe … man sollte die Bilder richtig herum aufhängen, bevor man Befunde schreibt … so einfach ist das. Ja, das wäre dann alles.“ Die beiden kamen aus dem Staunen nicht heraus und waren immer noch etwas durcheinander, als sie aus dem Klinikgebäude heraus zum Parkplatz gingen.