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Diese meine Geschichte
Ihr Name war Konoko. Das fand ich natürlich erst später heraus. Anfangs kannte ich sie nur unter dem Namen "CryingWind". Wir hatten uns über das Internet kennengelernt und haben dort auch einiges über unsere gemeinsamen Interessen herausgefunden. Nach einiger Zeit beschlossen wir, uns zu einem persönlichen Treffen zu verabreden. Soweit könnte diese meine Geschichte sich wohl schon millionenfach ereignet haben, aber während normale Leute bei so einem Treffen selten vorher wissen, was einmal daraus wird, waren wir uns sicher, das unsere erste Verabredung auch unsere letzte sein würde. Andere Leute treffen sich zu einer Tasse Kaffee, doch wir hatten andere Vorstellungen. Am Anfang war es für uns noch ein Spiel. Aber nach wochenlangem, seltsam wohltuenden Fabulieren über verschiedene Methoden und ihre Vor- und Nachteile wurde der Entschluß geboren. Dann standen wir uns eines Abends in Person gegenüber.
Konoko war nicht hübsch, zumindest nicht nach westlichen Idealen. Wie ein kleiner bleicher Mond schien ihr Gesicht zwischen der dunklen Kleidung und dem schwarzglänzenden Haar. Natürlich hätte ich mir eher die Zunge abgebissen, als irgendetwas negatives über ihr Äußeres zu sagen, auch da sie wohl ähnliche Gedanken über mich hatte.
"Hallo," sagte sie, "Du mußt dann wohl derjenige sein."
Außer uns beiden war um diese Zeit keine Menschenseele auf der Straße.
"Der bin ich. Kon'nichi wa!"
"Du lernst japanisch?"
"Nur ein paar Worte, die ich aufgeschnappt habe."
"Na dann komm rein."
Ich folgte ihr in die winzige Wohnung.
Drinnen holte ich das Paket aus meinem Rucksack.
"Aus dem Onlineversand?", fragte sie mich.
"Na klar." antwortete ich, "wenn so ein menschliches Wrack wie ich in eine Apotheke geht und fünfhundert von diesen Dingern haben will, wissen die doch sofort bescheid. Außerdem kriegst du das meiste nur auf Rezept."
"Schon klar. Pack mal aus."
Vorsichtig öffnete ich das Paket und nahm eine Schachtel nach der anderen heraus. Dabei fragte ich:
"Wie macht man das überhaupt? Nimmt man das Zeug mit Alkohol?"
"Kein Alkohol. Dann kotzt man nur alles wieder aus. Am besten Tee, etwas das den Magen beruhigt."
"Äh, du hast wohl schon einige Erfahrung mit... solchen Sachen?"
Wortlos krempelte sie den linken Ärmel ihrer Bluse hoch und zeigte mir die Narben. Dann erklärte sie leichthin:
"Hat natürlich nichts gebracht. Hab auch schon mal einen Fön in die Badewanne getan. Die Sicherung ist rausgeflogen."
Eine erfahrene Selbstmörderin also. Erfahren aber erfolglos natürlich, wie alle, die noch leben. Durch ihre Bekenntnisse ermutigt, erzähle ich:
"Ich hab mal in eine Lampenfassung gefaßt, da war ich fast noch ein Kind. Ich hatte natürlich keine Ahnung, daß da gar nichts passiert, vor allem wenn man mit nur einer Hand reingreift. Hat mächtig gebratzt, weiter nichts."
"Warum denn? Ich meine, was hattest du für einen Grund?"
"Heh, du weißt doch bestimmt so gut wie ich, daß der Auslöser meistens nichts mit dem wahren Grund zu tun hat."
"Der Grund ist, das es auf dieser Welt nichts für uns gibt. Wir beide sind die geborenen Looser."
Volltreffer.
Schüchtern fragte ich: "Konoko... meinst du, das wir gut zusammenpassen würden?"
"Vielleicht in einem anderen Leben. In diesem wurde ich schon zu oft enttäuscht. Aber sieh es mal so: Wir werden den Rest unseres Lebens zusammen verbringen."
"Falls es klappt.", füge ich hinzu.
"Natürlich", antwortet sie,"falls es klappt."
Eine Zeitlang saßen wir uns nur stumm gegenüber, dann fing ich langsam an zu sprechen:
"Weißt du, ich habe immer gedacht, sich selbst zu töten, das müßte irgendwie feierlich oder dramatisch ablaufen. Verstehst du, sein Leben in Würde zu beenden. Aber das hier ist so... banal."
Mühsam suchte ich nach den passenden Worten. Konoko meinte:
"Selbstmord ist niemals würdevoll. Es ist eine feige, schmutzige, verzweifelte Handlung, über die man nicht spricht. Ein bißchen wie Selbstbefriedigung. Eine unerlaubte Abkürzung wider die Natur."
Ich staunte über ihre Offenheit. Sie fügte hinzu:
"Das habe ich mir aber nicht ausgedacht. Das ist von Hesse. Sinngemäß zumindest."
Ich erinnerte mich und sagte:
"Steppenwolf."
"Genau der. Der wird auch in meiner Heimat gern gelesen."
Aus einem plötzlichen Impuls heraus küsste ich sie. Danach sagte ich verlegen:
"Normalerweise hätte ich jetzt eine Ohrfeige sitzen."
Lächelnd antwortete sie:
"Vielleicht. Aber nicht hier und jetzt. Wir sind jetzt am Ende der Welt."
"Ende der Welt?"
"Ja. Das ist der Ort zwischen Leben und Tod. Die Zeit, in der es keine Rolle mehr spielt, was man tut, weil man die Konsequenzen nicht mehr erleben wird. Wenn man genau weiß, daß man sein Leben nach eigenem Willen beenden kann. Oder wenn man die Entscheidung bereits getroffen hat."
Ich glaubte zu verstehen, und sagte:
"Ja... Plötzlich erscheinen die ganzen Probleme wie ganz weit weg, wie die Probleme eines Anderen."
Konoko lächelte immer noch:
"Wir sind frei."
In diesem Moment wußte ich, daß es kein Zurück gab. Ich sagte zu ihr:
"Wir können tun, was wir wollen."
Wie um meine Worte zu bestätigen, küßte ich sie noch einmal, diesmal wesentlich länger. Sie machte sich von mir los und fragte leicht vorwurfsvoll:
"Hatten wir nicht eigentlich etwas anderes vor?"
Ich ging in die Defensive:
"Du hast doch selbst gesagt, am Ende der Welt ist alles erlaubt."
"Da hast du recht, aber wenn wir so weitermachen, wollen wir uns am Ende gar nicht mehr umbringen."
Etwas zynisch fragte ich:
"Wäre das denn so schlimm?"
Traurig und leise sagte sie:
"Es ist immer nur ein Auschub. Das Ergebnis ist unvermeidbar."
"Nur ein Tag!", bettelte ich. "Ein Tag Aufschub. Ist morgen nicht auch ein guter Tag zum Sterben?"
"Kein besserer als heute.", antwortete sie. "Es tut mir leid, aber wenn du nicht Ernst machen willst, muß ich dich bitten, zu gehen."
Ich gab mich geschlagen:
"Du hast wohl recht. Laß uns... besser anfangen."
Sie fragte mich:
"Hast du Angst?"
"Wahnsinnig."
Sie flüsterte:
"Weißt du, ich auch. Jedesmal habe ich so eine Scheißangst. Das ist aber ein gutes Zeichen. Es bedeutet, daß du es ernst meinst. Wenn du den ersten Schritt getan hast, verschwindet die Angst ganz plötzlich. Du wirst sehen."
"Aber ein bißchen krank ist das schon, was wir hier machen... Bist du sicher, das wir das Richtige tun?"
"Das einzig Richtige."
Konoko machte Tee. Ich zerkleinerte die ganzen Tabletten im Mixer zu einem groben Pulver. Immer noch konnte ich nicht ganz glauben, was ich tat, daß ich soeben meinen eigenen Tod vorbereitete. Ich fühlte mich wie in einem Traum. Wir mischten das tödliche Getränk und verteilten es auf zwei Gläser. Das bloße Halten eines dieser Gläser ließ meine Hand unkontrollierbar zittern, ich mußte es abstellen, um den Inhalt nicht zu verschütten. Mein Körper sträubte sich mit aller Macht gegen den Tod. Auch Konoko wirkte sehr unruhig. Mit zitternder Stimme sagte sie:
"Es ist immer das gleiche. Verdammter Selbsterhaltungstrieb. Ohne den wäre es leichter. Warum will der Körper unbedingt weiterleben, auch wenn der Geist entschlossen ist, zu sterben?"
Darauf wußte ich nichts zu entgegnen. Sie fuhr fort:
"Laß uns beweisen, daß der freie Wille stärker als alle Triebe ist!"
Ich war mir nicht einmal sicher, ob unser Vorhaben tatsächlich ein Produkt freien Willens war, stimmte ihr aber trotzdem zu. Wir gingen ins Schlafzimmer, wo Konoko eine Schallplatte auflegte. "The Wall" von Pink Floyd. Dazu sagte sie:
"Ich will nicht ohne Musik sterben. Irgendwie gehört das dazu. Und diese Platte endet mit dem Titel 'Goodbye Cruel World', das ist ja wohl ziemlich passend."
Ich hatte eigentlich vorgehabt, mein Leben in aller Stille zu beenden, doch ich wollte Konoko auch nicht widersprechen. Schließlich befanden wir uns am Ende der Welt, wo ein Streit keinen Sinn mehr ergibt, falls er überhaupt jemals welchen hat.
Es war soweit. Ich zwang mich, meine zitternde, widerstrebende Hand mit dem Glas zum Mund zu führen. Konoko nahm einen Schluck. Jetzt konnte ich nichts mehr tun, als ebenfalls am Glas zu nippen. Es schmeckte abscheulich, doch ich schluckte. In diesem Moment schien sich alles zu verändern: Ganz plötzlich war meine Angst wie weggeblasen. Konoko schaute mich an und sagte:
"Der Rest ist ganz leicht. Siehst du nun, was ich meine?"
Während ich vorher kaum einen Schluck nehmen wollte, trank ich nun in einem Zug das ganze Glas leer. Sie tat das gleiche. Es war vollbracht. Ich verspürte keine Furcht mehr, doch auch keine Hoffnung. Ich horchte in mich hinein, doch es schien, als wären all meine Gefühle plötzlich ausgelöscht worden. Kam das von den Tabletten? Nein, das konnte nicht sein, so schnell konnten sie unmöglich wirken. Ich hatte einfach nur die letzte Schwelle übertreten, die letzte Verbindung zu meinem Leben gekappt.
Wir sprachen nicht mehr. Still legten wir uns hin und warteten emotionslos auf den sicheren Tod. Nach einer unmöglich zu bestimmenden Zeitspanne wurde mir schwindlig, mein Blickfeld verschwamm, die Musik verwandelte sich zu Hintergrundgeräusch und meine Gedanken wurden träge. Fast unhörbar leise sagte Konoko:
"Nimm meine Hand!"
Ich tastete danach und hielt sie fest. Ich drehte meinen Kopf zu ihr und sah ein winzigkleines Lächeln auf ihren Lippen, oder bildete ich mir das nur ein? Dann verlor ich das Bewußtsein.
Irgendwann sehr viel später erwachte ich aus einem furchtbaren Traum voller namenloser Schrecken. Ein stechender Geruch stieg in meine Nase, ich lag in meinem eigenen Erbrochenen. Doch der schwindende Traum wich einem noch viel schlimmeren Grauen: die Hand, die immer noch in der meinen lag, war eiskalt und starr geworden. Neben mir lag die leere Hülle von Konoko und sah noch bleicher aus als zuvor. Meine Gefühle, die vorher von mir gewichen wahren, stürzten auf mich ein wie wilde Dämonen. Ich fühlte mich entsetzlich zerrissen von Furcht, Scham, Schuld, Verzweiflung und anderen Emotionen, für die ich keine Namen kannte. Und im gleichen Augenblick erkannte ich, daß ich Konoko liebte, auf grauenvoll intensive Weise liebte, wie nichts auf der Welt. Ich wollte weinen, doch da waren keine Tränen, also SCHRIE ich, unartikuliert, ich SCHRIE meine ganze Verzweiflung in die Welt hinaus, die mich nicht gehen lassen wollte.