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Dieses gottlose Bemühen
„Wie wäre es nun mit Ihrem Penis, Heinrich?“, fragt ihn der Diener mit französischem Akzent. Er trägt seinen Anzug, darunter sein weißes Hemd und dazu die rote Fliege. Sein schwarzes Haar ist mit Pommade zurück gekämmt. Das alles sieht Heinrich nicht, er weiß es aus seiner Erinnerung. Wie soll er auch sehen, hat ihm derselbe Diener vor zwei Tagen doch die Augen entfernt, um sie Monsieur im Nebenzimmer zu überbringen.
„Ich denke…“, beginnt Heinrich und spürt, wie die Beinstümpfe zu zucken beginnen. Er will es unterdrücken, doch seine Bemühungen verschlimmern es nur noch.
„Ich denke…“
„Ich weiß, wie schwer Ihnen dieser Schritt fallen muss, Heinrich. Es ist nicht leicht für einen Mann, wenn es um sein Geschlechtsorgan geht. Selbst für Sie nicht.“ Wie deutlich er jede Silbe dieses letzten Satzes betont!
„Doch wir wissen beide, dass es von Nöten ist.“ Der Diener spricht in seinem gewohnt unaufgeregten Tonfall. Es würde sich nicht anders anhören, frage er Heinrich nach einer Tasse Kaffee.
„Wo sind Ihre Kollegen?“ Er will Zeit schinden. Diese Erkenntnis ist unangenehm, doch ändert das nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Natürlich weiß dies auch der Diener.
„Heinrich, wir sollten jetzt wirklich nicht länger warten.“
Das Kratzen von Metall auf Metall ist zu hören. Heinrich kennt dieses Geräusch nur zu gut und sein Verstand erschafft das Bild einer weißbehandschuhten Hand, die das Skalpell aus seiner Messingscheide zieht. Der Diener steht links neben seinen ans Bett gefesselten Körper und das gedämpfte Tock-Tock, das er durch das Wippen seines Schuhs von sich gibt, wie auch seine Stimme, vergewissern Heinrich, dass er sich auf Höhe seiner Hüfte befindet.
Eigentlich müsste er aus dieser kurzen Entfernung einen Körpergeruch wahrnehmen, doch von dem Diener geht kein solcher aus, ebenso wenig wie von den anderen beiden, die sich am heutigen Tag nicht in der Wohnung aufzuhalten scheinen.
„Es wird in Maßen schmerzhaft für Sie werden, Heinrich“, hat der Diener gesagt, bevor er sich an die Arbeit des Augäpfelherausschälens gemacht hat, und sagt es auch jetzt.
Hilflos auf seiner Matratze, in die die Pisse, vor allem aber der Schweiß und das Blut der letzten Tage eingesogen sind, ohne Beine, um aufzustehen oder Arme, um mit ihnen die Umwelt zu ertasten, fleht Heinrich zu einem Gott, von dessen Nichtexistenz er überzeugt ist, dass er ihm die Gnade der Bewusstlosigkeit schenkt, bevor der Schmerz seinen Verstand in die Reiche des Wahnsinns gleiten lässt.
Zwei Rinnsale Schweiß laufen synchron über je eine der zugenähten Augenhöhlen und treiben dann weiter Richtung Oberlippe. Wie gern würde er sie wegwischen.
Die Arme waren bereits vor sechs Tagen an der Reihe gewesen, als alles seinen Anfang genommen hat, und der Monsieur in das Gästezimmer seiner Wohnung gezogen ist. Ein aufrecht gehender Mann von großer Statur, gekleidet in einen schweren purpurnen Mantel, der denen auf den Abbildungen alter Könige gleicht, und mit beiden Händen den silbernen Knauf eines Gehstocks umfassend. Schnellen Schrittes und ohne der weinenden Person auf dem Bett einen Blick zu zuwerfen, war er an Heinrich vorbei gegangen. Ein Charisma, das dem Helden eines antiken Epos mehr als würdig gewesen wäre.
„Es hat Ihnen viel Schande eingebracht“, spricht der Diener zu ihm und legt eine seiner länglichen, schmalen Finger auf dessen bloßen Bauch. Sie ist kalt, die Berührung unangenehm. Heinrichs Haare richten sich in ihrem Umfeld auf.
„Er hat Ihnen Schande eingebracht. Viele Männer betrachten ihr Geschlechtsteil mit ausuferndem Stolz, sehen es als nicht zu geringen Teil ihres Wesens an. Jedenfalls die, deren Penis nicht eine gewisse Größe unterschreitet. Bei Ihnen war das anders, Heinrich. Nicht wahr?“
Die Hand verlässt den Bauch und legt sich auf seinen Penis. Aus dem Nebenraum dringt das unnachahmliche Gemisch aus Stöhnen und Röcheln zu ihm, wie es nur aus dem Munde des Monsieurs zustande kommt. Ein Laut zwischen Ersticken und sexueller Ekstase.
„Ja“, bringt Heinrich heraus. Seine Lippen fühlen sich so trocken an. Er fährt mit der Zunge darüber und ertastet die Risse, die sich auf ihnen gebildet haben. Nicht, dass dies Bedeutung hätte.
„Ihr Penis hat Ihnen Schande gebracht, sagen Sie es“, fährt der Diener fort.
Unwillkürlich steigt vor Heinrichs innerem Auge das Bild der Narbe an seiner linken Wange auf. Nicht sehr groß und von einer Geradlinigkeit die ein Perfektionist geschaffen hat. Kann man sie als Makel in diesem sonst allen Idealen des Schönsinns erfüllendem Gesicht des Dieners bezeichnen?
„Sagen Sie es!“ Kalter Stahl setzt an der Peniswurzel an. Die Berührung löst ein Zucken in seinem Glied aus und lässt es schrumpfen.
„Ja, er hat mir Schande gebracht.“ Das Weinen beginnt von Neuem.
„Es war… Ich wünschte es mir so sehr, so sehr!“ Seine Stimme ist ein Winseln.
„Aber ich hatte nie die Möglichkeit, es war... Sie haben mir so weh getan, dass ich es nicht ertragen konnte, mir beim… beim…“
„Beim Masturbieren“, vervollständigt der Diener. „Sagen Sie es, sprechen sie es aus!“
„Ja, während ich masturbiert habe, konnte ich nicht einmal an ihre Körper denken, an ihre Fotzen… Stattdessen, Männer.“
Nur ein weiteres Geständnis seines Versagens. Nicht das Letzte, nicht das heikelste.
„Entspannen Sie sich nun, Heinrich. Nur etwas Schmerz, dann sind Sie auch von dieser Last für immer befreit.“
Fingerspitzen, bedeckt mit dem weichen Stoff des Handschuhs, ergreifen die Spitze seines Penis und heben ihn an. Die einzigen Geräusche, die die Welt um ihn herum zu bieten hat, sind das an Lautstärke gewachsene Röcheln des Monsieurs im Nebenzimmer mit den langen Seidenvorhängen vor dem Fenster in Scharlachrot, und das aufgeregte Pochen seines eigenen Herzens.
Der Gedanke, wie der Monsieur in seiner anbetungswürdigen Gestalt vor diesem Fenster steht, die Hände hinter dem Rücken gefaltet und die dunklen tiefgründigen Augen verschlossen, besänftigt seine Angst und bestärkt ihn, dass dem Allem ein Sinn innewohnt, wenn er sich einem einfachem Geist, wie dem Seinen auch niemals erschließen mag.
Unter dem zunehmenden Druck hinter dem Skalpell reißt die Haut. Synchron mit den ersten Tropfen Blut, die dieser Akt mit sich bringt, öffnet sich das Auge.
Der Augapfel liegt auf einem silbernen Tablett, das sich auf dem Boden des Nebenraums befindet. Seit sechs Tagen ist er mit dem Monsieur in einem Raum, und erwacht nur gelegentlich zum Leben. Monsieur mag es nicht, wenn er das tut, doch der aus seiner Behausung herausgeschälte Augapfel gehört zu den wenigen Dingen, auf die er keine Macht ausüben kann.
Heinrich weiß nicht, welche Umstände sein Erwachen bewirken. Auch er würde ihn, der einst mit einem Zwillingsbruder Teil seines Gesichtes gewesen ist, am Liebsten verenden sehen. Denn durch das Auge sieht er... sieht, als wäre es noch durch den Sehnerv mit seinem Körper verknüpft. Und das Bild, dessen Ränder etwas verschwommen sind, als würde er durch ein zu starkes Brillenglas sehen, das es ihm zeigt ist immer das Gleiche. Gleich beängstigend, gleich kryptisch (obwohl Heinrich immer wenn er sieht glaubt, die Bedeutung dahinter erahnen zu können, bekommt er sie doch nie zu fassen).
Das Auge ist auf die vom Fenster aus rechte Wand des Zimmers ausgerichtet. Der untere Teil des Blickfeldes zeigt den verschnörkelten Rand des Tabletts, dann einen Ausschnitt des roten Teppichs und schließlich die Wand, in der sich ein Loch gebildet hat, das eine durchsichtige hauchdünne Membran verkleidet. Mit ihren leichten, unregelmäßigen Schwingungen erweckt die Masse den Eindruck, sie sei etwas Organisches.
Das Angsteinflößende aber, das wirklich entsetzlich angsteinflößende, befindet sich hinter der Membran in Form eines dunklen Raums, in dem neun Gestalten an einem lang gezogenen Tisch speisen. Sie sind immer am Speisen, wenn der Blick des erwachten Auges auf sie fällt. In dunkle Mäntel sind sie gehüllt, die zu weit an ihren dürren Gliedmaßen anliegen. Ihre Gesichter sind ohne Fleisch, nur fahle Haut, die über kantige Knochen gespannt ist. Das einzig Farbige in ihnen sind die dunkelroten Lippen. Doch dieses Rot stammt ursprünglich von einem anderen Körper. Heinrichs Körper...
Gerade greift einer der Gestalten in einen der drei vulominösen Pötte, die auf dem Tisch aufgestellt sind, und bringt eine Hand zum Vorschein, aus deren Stumpf zarte Fleischstränge herausragen. Er lässt die Hand auf den Teller vor sich fallen, und beugt seinen Kopf der Köstlichkeit entgegen. Bevor sich das Maul öffnet, um zwei Reihen Rasierklingen ähnlicher Zähne zu offenbaren, zeigen die Lippen ein höhnisches Grinsen. Die Zähne verbeißen sich in der Handfläche und reißen in ihr.
Jeder der Brüder der Gestalt (denn das sind sie, weiß Heinrich. Alle stammen sie aus dem selben Schoß) hat sein eigenes Fleischstück auf dem Teller liegen, und macht sich nun ebenfalls darüber her. Ein großes, blutiges Mahl. Ein großes, blutiges, befriedigendes Schlemmen. So schrecklich und gottlos wie die vielen dichtbeschriebenen Seiten Papier, die die Wände um die Brüder herum zieren. Es ist Heinrichs Leben, das dort niedergeschrieben ist; er weiß es, obwohl er die Schrift nicht lesen kann, genau so, wie er weiß, dass die Gestalten nicht an seinem eigentlichen Fleisch und Blut Befriedigung finden, sondern an dem, das sich darin befindet.
Er hasst sie, hasst ihr schlemmen. Er hasst es machtlos gegenüber zu sein, hasst das Wissen darüber. Der Drang zu Schreien steigt in ihm auf. Bevor er es tut, schließt sich plötzlich das Auge und seine Welt wird wieder schwarz.
„Nie wieder werden Sie dieses Verlangen spüren, nie wieder deswegen Schande auf sich nehmen müssen“, sagt der Diener. Im nächsten Moment kommt der Schmerz.
Drei Tage sind seit dem Verlust seines Geschlechtsteils vergangen. Neben Armen, Beinen, Augen und Penis hat Heinrich nun auch seine Nase und sein rechtes Ohr dem Monsieur übergeben. Er wünscht sich, sie hätten ihm gleich beide genommen.
Die Geräusche in den Wänden zerren an seinen Nerven. Sie kommen ihm vertraut vor, und weshalb auch nicht, hat er es doch in den letzten Jahren ständig gehört, nur eben nicht wahrgenommen. Doch nun ist er der meisten seiner übrigen Sinne beraubt und das Knistern und Rieseln nicht mehr zu ignorieren.
Jede der Amputationen hat intensiven Schmerz mit sich gebracht, doch scheint es ihm, als würde der Zeitraum bis zu seinem Abklingen von Mal zu Mal kürzer ausfallen.
„Trinken Sie, Heinrich. Der Monsieur wünscht, dass Sie einen Schlucken von diesem vorzüglichen Roten nehmen, der seinem Gaumen in den letzten Tagen Freude geschenkt hat.“ Es ist der Diener, der ihm den Penis abgeschnitten hat.
Noch ein zweiter ist im Zimmer. Er hat in den letzten Minuten durch vereinzeltes Räuspern auf sich Aufmerksam gemacht.
Ein Glas wird an Heinrichs Unterlippe angesetzt. Er öffnet den Mund leicht und der Diener hebt das Glas an. Er schluckt nicht viel von dem Wein, gerade so viel, um die Trockenheit seiner Kehle zu lindern und den säuerlichen Geschmack in seinem Mundraum durch einen süßlichen zu ersetzen.
„Monsieur beglückwünscht Sie“, sagt der Diener nachdem er das Glas wieder entfernt hat. „Sie haben diesmal das Richtige getan. Monsieur sagt sogar, dass ein Stückchen Mut in dieser Entscheidung lag.“
Heinrich tun die Worte gut. Wären seine Gesichtsmuskeln nicht zu verkrampft, würde sich jetzt ein Lächeln zeigen. Ihm drängt sich die Frage auf, die er seit dem Zeitpunkt, da der Monsieur seine Wohnung betreten hat, nie ganz verdrängen konnte.
„Mag er mich?“, fragt er. „Mag mich der Monsieur?“
Zwei Sekunden Stille vergehen, zwei Mal das Tack des schmalen Zeigers der Wanduhr.
Dann dringt Gelächter in sein verbliebenes Ohr. Es ist ein bitterer, ungewohnter Laut. Bis dato hat jeder der Diener die Contenance in jeder Situation gewahrt, war der höchste Ausdruck von Emotion ein Schmunzeln gewesen. Das schrille Lachen erschreckt und demütigt Heinrich in gleichen Teilen. Auch der zweite Diener fällt nun ein in diese Symphonie aus hohen, Nerven zerfetzenden Tönen, und ebenso der Dritte, als er durch die Tür tritt.
In seinen Gedanken schreit Heinrich immer wieder diese zwei Worte: Bitte nicht!
Er weiß nicht, zu wem er in seiner unendlichen Dunkelheit fleht, doch er tut es. Reflexartig... Wie ein Säugling, der die Lippen um den Nippel der Mutter schließt.
Bitte nicht... Bitte nicht... Bitte nicht...
So wie er am Tag seiner Einschulung auf dem Klo gesessen und im Bewusstsein, nicht stark genug für diese neuerliche Grausamkeit zu sein gefleht, hat. Unter Tränen und mit Krämpfen in den Eingeweiden immer wieder...
Bitte nicht...
Das Lachen erstirbt schließlich so plötzlich, wie sie eingesetzt hat. Gefasst, als hätte es diesen Ausbruch nie gegeben, sagt einer der Diener: „Niemand mochte Sie wirklich, Heinrich. Keine der Personen, die Ihren Lebensweg kreuzten, brachte Ihnen ein Übermaß wohlwollender Gefühle entgegen. So sehr Sie sich dies auch in Ihren verworrenen und abstrusen Tagträumen gewünscht haben. Ich dachte, dies wäre Ihnen bewusst.“
Natürlich ist es ihm bewusst! Natürlich weiß er, dass er nie einem Menschen viel bedeutet hat, und dass das auch nie der Fall gewesen wäre, hätte er sein Leben weiter gelebt.
Als ihm die Dummheit seiner Frage bewusst wird, und er sich wieder als Jugendlichen vor der Heizung neben dem Fernseher in einem Zimmer ähnlich dem jetzigen kauern sieht, den Kopf voll Träumereien über Beliebtheit und Anerkennung, übermannt ihn die Scham. Erfühlt, wie sich seine Wangen unter den leeren Augenhöhlen röten.
„Ich dachte tatsächlich, dieses Stadium hätten Sie bereits endgültig hinter sich gelassen. Die Annahme, ein Mann wie der Monsieur könnte für ein Wesen wie Sie Zuneigung empfinden, ist anmaßend und beweist leider das Gegenteil.“
Er erwacht und weiß nicht, ob es Nacht oder Tag ist. Die Geräusche von außerhalb, von der Straße, die an dem Mietshaus vorbei läuft, dringen seit dem Einzug des Monsieurs nur noch gedämpft zu ihm, und verlieren von Stunde zu Stunde an Lautstärke. Auch in der Wohnung ist es still.
Heinrich ist aufgewühlt, ein Traum hat ihn geweckt. Oder besser gesagt das, was der Traum ausgelöst hat. Es ist ein Kratzen tief aus seiner Kehle, einhergehend mit dem Gefühl, dass die Luftzufuhr sich verringert hat. Das Kratzen schiebt sich allmählich höher und ist ihm nur zu gut bekannt.
Die letzten Bilder der Traumwelt wirken noch in Heinrich. Das Lächeln einer Liebe und das Versprechen, dass noch nichts verloren ist, alles gut werden kann. Wie gern würde er weiter in diesem Traum leben, dort seine Atemzüge ausstoßen, für immer in ihm gefangen sein, Auge in Auge, Brust an Brust mit der Frau, die in der Realität – wie so viele zuvor – nur noch tiefer Schmerz ist. Wie gut es einmal zwischen ihnen war...
Das Kratzen erreicht seinen Rachen. Sein Gaumen wird von schleimigen Körpern tangiert, was einen Würgereiz auslöst. Das Gefühl des Luftknappheit verschlimmert sich bis hin zur Befürchtung, ersticken zu müssen. Immer mehr der Tierchen kommen aus seinem Magen herauf gekrochen. Die Ersten schlängeln sich auf Heinrichs Zunge. Die Menge, die nachrückt ist enorm und als sein Schlund fast ausgefüllt ist, kann er ein Würgen nicht mehr verhindern. Er speit die erste Ladung der Würmer auf seine kahle Brust. In vier Schüben spuckt er sie aus. Die gewaltige Menge beschreitet ihren Exitus über seinen von einem kühlen Schweißfilm überzogenen Körper, und löst dabei einen Juckreiz aus, der Heinrich seinen Kopf vor Qual hin und her werfen lässt. Arm – wie Beinstümpfe zucken taktlos. Der unerträgliche Juckreiz wird vergehen, doch das spendet in diesem Moment keinen Trost. Im Augenblick wünscht er sich nur sein herbei.
Das Auge erwacht, wie es das immer tut, haben die rot-orangenen Würmer das Gästezimmer erreicht und bewegen sich auf das Loch in der Wand zu. Hunderte von ihnen schieben ihre Körper über den Teppich oder krabbeln die Tapete hinauf, die nach einem kurzen Stück in die Membran übergeht. Der Monsieur steht mit dem Rücken zum Auge. Auch wenn Heinrich sein Gesicht nicht sehen kann, spürt er doch die Abneigung die auf ihm lastet. Abneigung und Enttäuschung.
Die Diener beten Heinrich ständig, er solle es unterlassen, die Würmer auf die Neun zu hetzen. Monsieur gefiele dies ganz und gar nicht. Er kann nicht anders.
Obwohl sie sich schnell vorwärts bewegen, besitzen die Würmer einen fetten Körper. Ihre Absonderungen hinterlassen graue Einfärbungen auf dem weißen Untergrund.
Unaufhaltsam, gleich einer Armee, stürzen sie sich in die Welt hinter dem Loch, in der Gestalten, in einem Alptraum erdacht, ihr Mal einnehmen. Die Männer fressen weiter, doch nehmen ihre Gesichter den Ausdruck von Abscheu an. Alle Wollust ist ihrem Schlemmen abhanden gekommen, als sie die Würmer bemerken.
Heinrich sieht es in ihren Augen. Gerne würden sie die Kriechtiere zertrampeln, sie in ihren Händen zerquetschen, sodass das Gedärm zwischen ihren Fingern hervorquillt.
Doch dies können sie ebenso wenig, wie Heinrich etwas gegen das Jucken auf seiner Haut tun kann. Sie müssen die Anwesenheit der Würmer ertragen. Heinrich nimmt es mit Genugtuung wahr. Er hasst die Neun.
Die Würmer schieben sich an ihren abgenutzten Mänteln hoch, krabbeln in die Ärmel und den Ausschnitt. Bald ist jeder der Männer in Schwarz mit rötlichen Punkten bedeckt, die sich in Richtung der Münder bewegen. Ihr bitter süßes Schlemmen hat ein Ende gefunden, und die angenagten Gliedmaße Heinrichs wandern wieder auf die Teller. Heinrichs Ausgeburten dagegen schieben sich zwischen von Blut besprenkelte Lippen und kehren von dort nicht mehr wieder.
Heinrich weiß, dass die Gestalten ihr Mahl schon bald wieder augfnehmen werden, dass die Würmer nicht mehr, als einen Störfaktor, einen kurzen Schlag ins Gesicht darstellen. Doch die angewiderten Gesichter der grässlichen Schatten, lösen in ihm eine bereits tot geglaubte Befriedigung aus.
„Mochte sie mich einmal?“, fragt Heinrich unter Tränen. Er ist wieder aus einem Traum erwacht. Diesmal ist er nicht allein. Mindestens zwei der Diener stehen zu beiden Seiten seines Betts.
Sie wissen, wen er mit sie meint. Er brauch es ihnen nicht zu erklären. Sie wissen alles. Heinrich hat nicht den geringsten Zweifel, dass sie seine Gedanken lesen können. Er glaubt, Monsieur hat ihnen diese Fähigkeit verliehen.
Der Diener zur seiner Linken räuspert sich.
„Mittlerweile ist ihre Uneinsicht keine Sache mehr, die wir mit Nachsicht behandeln könnten, Heinrich. Monsieur hat erst vor wenigen Stunden, als wir Audienz bei ihm hatten, geäußert, wie maßlos seine Enttäuschung über ihr Verhalten ist.“
Es schmerzt Heinrich. Sein Weinen wird hemmungsloser. Er weiß, dass diese Hoffnungen Anmaßung und Dummheit zu gleich sein, aber er ist nicht im Stande sie zu unterbinden. Sie sind... menschlich.
Im Traum hat sie sich mit ihm in diesem Zimmer befunden. Sie hat die selben Sachen getragen, wie an dem letzten Tag, an dem sie ihm mit einem Lächeln entgegen getreten war.
Und alles hat sich lösen lassen...
Und da ist dieses Lied gewesen. Nein, kein wirkliches Lied, mehr ein Sing-Sang: Zeilen über das Jesus-Kind, das über ihn wacht. Heinrich kann sich an die Worte nicht mehr erinnern, doch es war das Gebet gewesen, das ihm seine Mutter und seine Großmutter vor dem Schlafen gehen immer mit ihm gesprochen haben. Er hat daran geglaubt...
Alles nur ein böser Traum, ich bin ja bei dir, spürst du nicht meinen Atem? Denkst du, ich wäre für immer aus deinem Leben getreten? Nein, sieh doch, hier bin ich... Hier, könnte dich doch nie verlassen...
Eine Hand legt sich auf Heinrichs Schulter. Er will sich mit dem Kopf an sie schmiegen, traut sich aber nicht.
„Glauben Sie, dass sie Sie wirklich einmal gemocht hat?“, flüstert ihm die Stimme mit dem wohlbekannten fränzösischen Akzent ins Ohr. „Glauben Sie?“
Nein, er tut es nicht. Schluchzend bewegt er den von Schmerzen ausgefüllten Kopf von der einen auf die andere Seite.
„Sagen Sie es laut!“, fordert der Diener zu seiner Rechten. Dann legt auch er seine Hand auf Heinrichs Schulter. Im nächsten Moment spürt er dessen warmen Atem an seinem Gehörgang, dem man vor ein paar Tagen die Muschel geraubt hat.
„Glauben Sie, dass sie Sie wirklich einmal gemocht hat?“
Nein, nein, nein...
Nein, will Heinrich sagen, will es hinaus schreien. Die Muskeln um seinen Mund beginnen zu zucken, ähnlich wie es die Bein – und Armstümpfe häufig tun. Der Innenraum fühlt sich auf einmal trocken an. Die Zunge ist ein totes, schwerfälliges Ungetüm. Dennoch haucht er: „Ja, ich glaube.“
Diesmal setzt das Gelächter aus dem Nebenraum ein. Es dringt zu Heinrich, als wären die Tür aus massivem Holz und die Wand aus Stein und Mörtel nur eine Fata Morgana. Das kreischende Lachen des Monsieur bringt Heinrich zum Schreien.
„Du musst es einsehen!“, plärrt der Monsieur in seinem Gelächter. „Narr, löse dich... von deinen Träu… men. Erkenne... dein… Schick…sal! Erkenne… Musst es einsehen…Tor!“
Die Zunge wird als nächstes an der Reihe sein, dann das Herz, hat ihm einer der Diener vor wenigen Augenblicken offenbart. Für den Rest der inneren Organe habe der Monsieur keine Verwendung, doch der Verlust des Herzens sei ein wichtiger Schritt.
„Ist es der Höhepunkt?“, fragt er.
„Nein, noch nicht ganz. Der Höhepunkt wird Ihr Gehirn sein, Ihr fehlgeleiteter Verstand, nicht fähig zu funktionieren und die Wahrheit gänzlich zu akzeptieren.“
„Aber ich habe bereits akzeptiert“, erwidert Heinrich und glaubt den Worten, die seine brüchige Stimme spricht. „Vor Tagen bereits!“
„Nein, das haben Sie nicht.“ Klar und keine Widerrede duldend. „Es wäre wünschenswert gewesen, doch Sie besitzen immer noch Hoffnung. Dieser letzte Schritt muss getan werden, um das Werk zu vervollständigen. Dies steht für den Monsieur außer Frage. Und wenn Sie tief in sich hören – wenn es Ihnen tatsächlich gelingen sollte, Heinrich – wird Ihnen dort die selbe Erkenntnis begegnen.“
Heinrich bringt ein Nicken zustande.
„Zuerst werden wir Ihnen die Zunge entfernen, mit all ihren Schwüren zu Kämpfen, die Sie sich selbst gemacht haben. Dann das Herz, mit all seinen bohrenden Gefühlen, die doch nie erwidert wurden. Zu guter Letzt Ihr Hirn.“ Momente des Schweigens, dann:
„Sie konnten es niemals schaffen, Heinrich. Bald ist es vollbracht und Sie werden akzeptieren!“