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Dinner for one
Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass einer der vielen Unterschiede zwischen Mensch und Tier der ist, dass letzteres Nahrung ausschließlich zu sich nimmt, um Hunger zu stillen, unsere Spezies eine Esskultur entwickelt hat, in der Speisen und deren Einnahme zu Zeremonien erhoben und zu einem gesellschaftlichen Akt werden.
Als ich samstagmittags an meinem Stammtisch in jenem Schnellrestaurant saß, begann ich wie so oft an dieser Theorie zu zweifeln. Seit drei Jahren, vier Monaten und fünfzehn Tagen verbrachte ich nun jeden Samstag in diesem Lokal, und nur selten beobachtete ich etwas Ze-remonienhaftes an einem der anderen Tische. Selbst in meinem Falle hätte ich es kaum gewagt, ein so großes Wort wie Zeremonie in den Mund zu nehmen. Stattdessen würde ich meinen 176 Besuch in diesem Schnellrestaurant, oder vielmehr den Ablauf meines Tages in diesem, als eine Art Ritus bezeichnen, bei dem bestimmte Handlungen nach einem wiederkehrenden Muster aufeinander folgen. Dabei hatte ich im Laufe der Jahre eine absolute Präzision entwickelt, die mir mittlerweile ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit schenkte. Das Ritual begann Woche für Woche damit, dass ich das Lokal um Punkt ein Uhr betrat. Ich schaute mich kurz um, nicht ohne zu prüfen, ob mein Tisch unbesetzt war, und ging dann zur Theke, an der zwei ältere Damen, die gesteifte Arbeitskittel und kleine Papierhauben trugen, die Bestellungen annahmen. Ich wartete, bis die kräftigere der beiden Angestellten Zeit für mich hatte und bestellte. Das Angebot des Schnellrestaurants war reichhaltig und umfasste neben italienischen, türkischen, chinesischen und mexikanischen Gerichten auch ‚American Food’, wie man die überraschend große Auswahl an Burgern zu umschreiben pflegte. Diese Vielfalt an verschiedenen Speisen ermöglichte exotische Kombinationen, die ich, da nicht sonderlich experimentierfreudig, allerdings nie probierte. Wobei ich mich bei näherem Überlegen auch nicht daran erinnern konnte, einen Gast beobachtet zu haben, der sich an Döner-Pizza oder Sojasprossen-Burger versuchte. Stattdessen bestellte ich mir jeden Samstag die Nummer 27 mit Reis und eine kleine Flasche Wasser, die ich auf einem Tablett zu dem kleinen quadratischen Tisch im hinteren Eck balancierte, um sie dort zu verzehren. Nach dem Essen, für das ich mir in etwa eine halbe Stunde Zeit nahm, suchte ich stets die Toilette auf, um anschließend zurück an meinen Tisch zu gehen und zu warten. In den folgenden zwei Stunden vertrieb ich mir die Wartezeit damit, die anderen Gäste zu beobachten. Nicht deutete auf die bereits angesprochene Esskultur hin, auf gesellschaftliche Akte oder Zeremonien. Ich schien sogar der einzige zu sein, der rituelle Handlungen vornahm. Stattdessen benahmen sich die Mitessenden eher wie Tiere, aßen schnell und hastig, meist allein oder in kleinen Gruppen. Gegen halb vier stand ich auf, ging wieder zur Theke und bestellte eine Tasse Kaffee und eine Nummer 89 mit Sahne. Danach gingen meine Gehirnaktivitäten nahezu gegen null, sodass ich mein Umgebung kaum mehr wahrnahm und mich einzig und allein auf das Warten konzentrieren konnte, bis ich gegen halb sieben erneut aufstand, eine Nummer 12 und einen gemischten Salat bestellte, aß und mich dann auf den Nachhauseweg machte. Möglich wurde diese vollkommene Fokussierung auf den Zustand des Wartens erst durch die Ruhe, die – nur unterbrochen von vereinzeltem Geschirrklappern und monotonem Stimmengewirr an der Theke – das gesamte Schnellrestaurant erfüllte. Die Tiere vermieden es, sich während der Nahrungsaufnahme zu unterhalten. Selbst vereinzelte Gäste, die sich zu mir an den Tisch setzen, sprachen mich nicht an noch gaben sie andere Laute von sich. Ähnlich war es auch damals, vor drei Jahren, vier Monaten und 15 Tagen, als ich das erste Mal das Lokal betrat, zusammen mit meiner Frau, nachdem wir einen ausgiebigen Einkaufsbummel hinter uns gebracht hatten und uns ein plötzliches Hungergefühl überkam, das zu groß war, um mit dem Essen zu warten, bis wir wieder in unserer Wohnung waren, allerdings auch zu klein, um ein besseres Restaurant aufzusuchen. Ich bestellte die Nummer 27 mit Reis, während sich meine Frau mit einer Nummer 32 zufrieden gab. Dazu kamen zwei kleine Flaschen Wasser. Wir nahmen unsere Tabletts schweigend entgegen, setzten uns an den kleinen, quadratischen Tisch im hinteren Eck und aßen, ohne ein Wort zu sprechen. Die halbstündige Ruhe störte mich in keiner Weise, im Gegenteil: Ich genoss sie, da ich nur ungern mit vollem Mund spreche, was während des Essens nur schwer zu vermeiden war.
Nach dem Essen legte ich mein Besteck auf den Teller, wischte mir mit einer Papierserviette über den Mund und blickte meine Frau an. „Entschuldige mich einen Moment“, sagte ich, „ich bin in zwei Minuten wieder da.“ Ich stand auf, suchte nach einem Hinweis auf die Toiletten und fand diesen auch prompt. „Nicht weglaufen“, fügte ich scherzhaft hinzu, ohne auch nur in einem Moment damit zu rechnen, dass sie es wirklich tun könnte.