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Dokumentation eines Augenblicks
Dokumentation eines Augenblicks
Die Decke liegt zerwühlt auf dem Sofa. Bis eben habe ich noch darunter gelegen. Nun stehe ich in der Mitte des Raumes und lasse meinen Blick schweifen. Von der Decke zu dem kleinen runden Tisch, der neben dem Sofa steht. Er ist hölzern und es liegt keine Tischdecke auf ihm. Stattdessen wird er belagert von Fotos in altmodischen Bilderrahmen. Ich habe eine Vorliebe für Trödel und weiß noch genau, wann und wo ich die Bilderrahmen erstanden habe. Es war ein herrlicher Frühlingstag, als mein Freund und ich über den Flohmarkt bummelten und ich die Rahmen von einem alten Mann kaufte, der sie nicht so recht hergeben mochte.
An der Wand steht das Bücherregal. Von Ikea. Ich lese wirklich viel. Zwar nicht immer literarisch wertvoll, aber immerhin. Und ein paar Klassiker sind ja auch dabei, für das gute Gewissen. Das Bücherregal grenzt an die offene Wohnzimmertür. Die Tür ist eigentlich nie geschlossen, hier ist jeder willkommen.
Heute ist es auffallend leer, mein Mann steht im Türrahmen, er sieht nachdenklich aus. Auch er ist älter geworden, hat ein paar Falten um die Augen und das braune Haar enthält ein paar graue Strähnen. Es steht ihm. Reif und erfahren sieht er aus. Aber sein Blick ist noch so wie früher, zum Glück. Sein Blick ist mir damals als erstes an ihm aufgefallen. Jetzt muss ihm einfach zulächeln. Wieder denke ich an unsere Flohmarkt-Zeit zurück. An der Wand, gegenüber dem Fenster, steht unser Schrank. Mir war er immer zu groß, aber meinem Mann gefällt er. Gewöhnt habe ich mich auch an ihn, aber er würde mir nicht fehlen, wenn ihn Einbrecher stehlen würden. Das würde natürlich nie geschehen, denn er ist wirklich groß. Der größte Fehler war wohl, ihn im Sommer aufgestellt zu haben, es war ein ziemlich heißer Tag und wir waren hinterher alle völlig erschöpft. Im Renovieren sind wir klasse.
Auf dem Esstisch steht noch das Geschirr von den letzten Tagen. Chaotisch sind wir alle, das liegt in der Familie. Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, es wegzuräumen, in den letzten Tagen gab es wichtigere Dinge als Geschirr. Viel wichtigeres.
Meine Kinder sitzen auf dem Sofa. Ein Herbst- und ein Winterkind. Das hat sie geprägt, sie haut so schnell nichts um. Doch heute sehen sie wirklich traurig aus. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie trösten soll. Wie schnell sie groß geworden sind. „Mama, was sollen wir spielen?“, ich weiß nicht wie oft ich diesen Satz gehört habe, aber das ist nun vorbei. Ich bin wirklich stolz auf sie. Im Augenblick bin ich sehr glücklich.
Am liebsten würde ich wieder unter die Decke kriechen, aber das geht nicht.
Die Ärzte tragen meinen toten Körper fort, ich folge ihnen aus der Tür.
Ich habe noch viel zu tun.