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Domus Mundi
Nichts verschwindet, ohne seine Spuren zu hinterlassen.
Wir leben in einer Zeit, die durch den ständigen Fortschritt und immer neuere Technik bestimmt wird. Industrieanlangen werden geschlossen und vergessen.
Schließlich bringt die Natur sie in ihre Gewalt und gibt ihnen mit der Zeit ein Eigenleben. Ein Leben, das ihnen vor langer Zeit vom Menschen genommen wurde, beginnt sich erneut zu rühren.
Ein Leben in Einsamkeit und Stille. Und doch mit einem gewaltigen Zauber versehen ...
Während ich aus dem Fenster der fahrenden Bahn schaute, versuchte mich der sanft schaukelnde Waggon langsam in den Schlaf zu wiegen.
Als der Zug die alte Rheinbrücke passierte, schüttelte ich die sanfte Benommenheit aus meinem Körper, lehnte mich vor und blickte geradewegs auf grüne Wiesen und klare Wasser hinab, auf dessen Oberfläche funkelnde Sterne tanzten. Es herrschte ein wunderbarer Tag vor. Der Himmel trug kräftiges Blau und schneeweiße, aufgeblasene Wolken klammerten sich träge daran fest. Sonnenstrahlen bündelten sich hundertfach und hatten keine Mühe, die Wolkendecke beiseite zu schieben. Wie heilige Lichtkegel strahlten sie hinab um alles zu segnen, was diese wunderschöne Natur hervorgebracht hatte.
Während ich wie gebannt auf dieses faszinierende Panorama hinunterblickte, sortierte Kevin sorgsam seine Kameratasche, nahm Objektive heraus und säuberte Linsen.
„Was Stefanie wohl gerade wieder so treibt“, sagte er.
Ich ließ meinen verträumten Blick abschweifen und schüttelte den Zauber so ab.
„Ich hab´ sie seit vorgestern Abend nicht mehr gesprochen“, sagte ich und griff nun ebenfalls nach meiner Spiegelreflexkamera, die ich mir protzig und schwer um den Hals gehängt hatte. Kevin reichte mir das Tuch, aber ich hatte schon gewischt.
„Dabei ist sie die einzige, die den Weg auch bestimmt wieder finden kann.“
„Wir haben doch Zeit und kennen die ungefähre Richtung“, sagte Kevin.
„Und außerdem bin ich ganz versessen darauf zu erfahren, ob der Zauber auch bei uns wirkt.“
Diese Worte ließen eine gewisse Ehrfurcht vernehmen und ich konnte deutlich die Abenteuerlust hinter den Augen meines Freundes auflodern sehen.
Tatsächlich war auch ich ordentlich nervös.
Es ist, als ob mich irgendjemand dort hin geführt hätte. Eine unsichtbare Kraft. Ein Gefühl vielleicht, den Ort schon immer gekannt und nur neu entdeckt zu haben.
Das hatte Stefanie zuvor zu uns beiden gesagt. Sie wirkte irgendwie erfüllt. Ich kannte den Ausdruck, der in ihrem Gesicht zu lesen war. Von Kevin. Und Kevin erkannte ihn höchstwahrscheinlich auch bei mir. Es war das gemeinsame Hobby, das uns drei seit kurzem verband.
Ich nahm die Kamera hoch und schaute durch den Sucher nach draußen. Die Landschaft war nun eine andere. Kein Grün mehr, sondern Grau. Riesige Schornsteine ragten in den Himmel empor und vermischten ihr schwarzes Gift mit dem freundlichen Blau. Asphaltstraßen und Betonbauten erstreckten sich Kilometerweit nach hinten und entlang der Gleise.
„Widerlich, wenn sie noch benutzt werden“, murmelte Kevin.
„Und dazwischen will sie tatsächlich so etwas wie Vegetation entdeckt haben“, fragte ich ungläubig.
„Finden wir es heraus, würde ich sagen.“
Die Computerstimme drang durch die Lautsprecher des Abteils.
Nächste Haltestelle, Industriepark Nord.
„Dann wollen wir mal“, sagte ich und stand auf, froh darüber, den Zug endlich verlassen zu können.
Es ist einfach wunderbar. Es ist, als hätte sich alles an diesem Ort getroffen und verbunden.
Ich musste immerzu an die Worte meiner Freundin denken. Wie begeistert sie gewesen war und wie sie sogar des Nachts versucht hatte, uns zu überreden ihr an den Ort zu folgen.
Ihr werdet es lieben. Das hatte sie gesagt. Und dabei wusste sie genau, wie unterschiedlich Kevin und ich veranlagt waren, wenn es um Fotografie ging.
Während wir über die endlose Asphaltprärie trotteten, kamen uns hin und wieder Arbeiter und Staplerfahrer entgegen, die uns verblüfft und ungeniert angafften. Aber entgegen der üblichen Tradition, versuchte uns keiner zu verscheuchen oder förmlich darauf hinzuweisen, das wir hier nichts verloren hätten, es sei denn wir hätten ebenfalls hier zu tun.
Und so wirklich abwegig war das ja auch gar nicht. Nur, dass wir eher die Orte aufsuchten, die kein Arbeiter mehr besuchte, es sei denn ihm war der Weg zur nächsten Toilette zu weit oder er wollte sich anderweitig erleichtern.
Ich schmunzelte in mich hinein. Wenn ich so an Steffi und mich dachte, ja, dann diente uns auf diesem Gelände schon so manche leerstehende Fabrikhalle als knochenhartes Liebesnest.
„Gleich sind wir raus“, sagte Kevin genervt, als sich der nächste Blaumann in einiger Entfernung zu uns umdrehte.
Und ich wusste genau, was er damit meinte, als ich den großen Zaun bemerkte, der unweit vor uns aufragte. Das rostige Gitternetz hatte seine besten Tage schon lange hinter sich. Es brauchte niemanden mehr zu schützen und musste somit auch niemanden mehr daran hindern, einzutreten. Mannshohe Löcher taten sich an dutzenden Stellen auf. Es war wie eine deutliche Einladung an uns. Der Wunsch, auch mal wieder auf der anderen Seite vorbei zu schauen. Da, wo alle Maschinen still standen und alle Gebäude darauf warteten, wieder Gäste zu empfangen, um so ihrem Zweck gerecht werden zu können.
In einem unbemerkten Augenblick schlüpften wir durch eines der kleineren Löcher und liefen schnellen Schrittes in die Schatten der großen Container und vorbei an der Hinterseite einer verwahrlosten Fabrikhalle. Als der Lärm der Maschinen nachließ, das Hämmern der Arbeiter dumpfer wurde, ihr Fluchen und Schreien nicht mehr zu hören war, da war mir wieder so, als hätte ich unbemerkt die Realität hinter mir zurückgelassen. So als wäre ich zum Teil der Geschichte geworden. Als hätte ich von der Gegenwart in die Vergangeheit gewechselt. Als ich Kevin anschaute, wusste ich, dass er dieses Gefühl in sich zur Perfektion gebracht hatte. Er war es, der mir die Fotografie wieder näher gebracht hatte. Seine Beschreibungen dessen, was er gefühlt hatte, als er das erste Mal eine leerstehende Fabrikhalle betrat. Als er durch den Zaun geschlüpft war und die Stille und Einsamkeit genossen hatte. Er war fasziniert von der Entwicklung der Industrie. Wie sie sich ständig erneuerte, eine Evolution durchmachte und Auslaufmodelle wie dieses Fabrikgelände gnadenlos abtötete.
Kevin trug die Flamme dieser Technologie in seinem Inneren und als wir uns kennenlernten, hat mich ein Funke davon berührt, und auch in meinem Inneren ein kleines Feuer entfacht. Er war einfach großartig.
Kevin war glücklich, wenn er staubigen Maschinen die Hand auflegen konnte. Er war glücklich, wenn er in der Mitte einer leeren Halle stand und den Geist der Zeit in sich aufnahm, während mir davon schwindelig wurde. Ich war durchaus von dem Zauber ergriffen. Allerdings fühlte ich auch eine seltsame Leere in mir. So auch jetzt, als wir über die asphaltierten, rissigen Straßen liefen. Links und rechts von uns Häuser, die von der Witterung auseinandergenommen wurden. Fenster, auf denen zentimeterdick der Staub stand und dahinter Hallen, die düster und unheimlich erschienen, weil auch das Licht kein Interesse daran hatte, sie zu beleuchten.
Hin und wieder hörten wir eine Krähe rufen, aber ansonsten war es still und einsam. Das Werk von Menschen. Riesig und pompös, so das einem schwindelig davon werden musste. Und gleichzeitig auch völlig wert- und nutzlos. Auf mich wirkte es seltsam leblos. Allein die Geschichte war hier überdeutlich präsent. Vor meinem geistigen Auge sah ich Menschen, die von einer Halle zur nächsten liefen. Schwere Metallschienen unter den Arm geklemmt. Einige zu Fuß, andere mit Lkw´s und schwerem Gerät folgend.
Als Kevin plötzlich stehenblieb, verblassten die Geistererscheinungen und ich drehte mich zu ihm um.
„Stefanie sagte doch, sie wäre an den Krupphallen vorbei nach Rechts gelaufen, oder?“, sagte er.
Seine dunklen Augen schweiften in die Ferne, als er in die von ihr gesagte Richtung blickte. Seine zusammengekniffenen Augenbrauen sagten mir, dass er nicht recht glauben konnte, dass sich ein Ort wie der von ihr genannte zwischen allerlei Lagerhallen und Müllcontainern befinden sollte.
„Der Industriepark ist riesengroß, Kev.“ Möglicherweise ist sie stundenlang in diese Richtung gelaufen, sagte ich und war zugleich wenig begeistert davon, noch stundenlang ohne klares Ziel vor Augen umherzuirren. Und das Anfang Herbst, was die Sache auch nicht angenehmer machte. Es wurde entschieden früher dunkel und wer konnte schon sagen, was das Wetter noch für uns parat hielt. Gerade schien noch die Sonne. Im nächsten Moment konnten trübe Nebel aufziehen, oder es fing einfach an zu regnen und wenn das geschah, würden sich der Staub und Schutt unter unseren Füßen in eine schlammige Masse verwandeln und die gute Stimmung wäre vorbei.
Kevin nickte mir fröhlich zu und lief dann auf der Route, die Stefanie beschrieben hatte, weiter.
Ich folgte schweigend und nahm den alten Gedankenfaden wieder auf.
Ihr werdet es lieben. Du und Kevin gleichermaßen.
Stefanie hatte mich wirklich unglaublich neugierig gemacht. Ich malte mir aus, was das für ein Ort sein konnte. Eine Zufluchtsstätte für uns drei? Ein Ort, an dem uns die Realität nicht folgte? Auf jeden Fall musste es ein ganz spezieller Ort sein.
Wo Technik und Natur aufeinandertreffen, hatte sie gesagt.
Ich schaute mich um. Sah an den Wandfassaden entlang. Aber außer ein paar Schlingpflanzen und Unkraut war nichts zu sehen. Ich war überaus gespannt und so merkte ich gar nicht, das wir mittlerweile schon anderthalb Stunden auf der Suche waren ...
„Vielleicht sollten wir es aufgeben“, sagte ich und lehnte mich stöhnend an die Rückwand einer Lagerhalle. Es hatte sich nicht abgekühlt. Ganz im Gegenteil. Die Nachmittagssonne kündete immer noch vom Sommer, der noch nicht bereit war abzutreten. Und ich kam gewaltig ins Schwitzen. Kevin lief noch ein paar Schritte weiter und sah sich in alle Richtungen um. Dann kam er enttäuscht auf mich zu geschlendert und setzte sich neben mich auf eine Anhäufung von Holzpaletten. Ich schaute abwechselnd auf die Uhr und den Weg, den wir gekommen waren. Gleichzeitig wuchs der Ärger in mir. Ich hatte keine Lust, den Heimweg anzutreten bevor wir nicht gefunden hatten, was wir suchten. Ich war sauer auf Stefanie, weil sie nicht zu erreichen gewesen war. Sie war doch ganz besonders scharf darauf gewesen, so schnell wie möglich dorthin zurück zu kehren. Und nun sah es ganz so aus, als müssten meine müden Füße mich wieder zurück tragen. Ohne verdammt nochmal etwas gesehen oder gespürt zu haben.
„Von wegen Zauber“, schnaubte ich wütend und setzte mich neben Kevin aufs Holz.
„Die kriegt was von mir zu hören, du“, wetterte ich weiter.
„Scheiße gelaufen“, war alles was Kevin dazu sagte. Dann schwiegen wir uns einige Minuten lang an.
Als ich vor mir in der Dunkelheit einer benachbarten Halle eine Bewegung bemerkte, schreckte ich hoch. Kevin hob den Kopf und sah mich gelassen an.
„Was ist los?“
„Schau mal da vorne zur Halle“, sagte ich und deutete mit den Augen in die Richtung, aus Angst, eine Bewegung könnte das Tier anlocken.
„Ein Hund?“, fragte ich ängstlich.
„Ziemlich klein“, beruhigte mich Kevin schnell.
Wir brauchten uns nicht lange den Kopf zu zerbrechen, denn was da aus der Dunkelheit zu uns kam, war zwar wild, aber nicht unbedingt gefährlich, wenn auch äußerst ungewöhnlich für diese Gegend.
„Ich glaub´s nicht. Ein Fuchs“, sagte Kevin und fing gleich damit an, das Tier herbei zu winken.
Es war wirklich ein Fuchs. Ein stolzes Exemplar. Es hob die rote, spitz zulaufende Schnauze an und schnüffelte in der Luft herum. Dann machte er noch ein paar Schritte vorwärts und blieb regungslos stehen. Die kleinen, schwarzen Knopfaugen blickten zu uns herüber.
Auch Kevin hatte aufgehört das Tier anzulocken und blieb ganz ruhig. Ein paar Sekunden verharrten alle in ihrer Position, dann wendete das Tier und tappste gemächlich davon. Nicht jedoch, ohne uns vorher mit einem Kopfschwenker, der äußerst anmutig wirkte, darauf hinzuweisen, das wir ihm folgen sollten.
„Ist ja total irre“, flüsterte Kevin und begann langsam hinter dem Tier herzulaufen.
Es ist, als ob mich irgendjemand hin geführt hätte.
Stefanies Worte hallten in meiner Erinnerung nach, als ich mich Kevin anschloss und dem Fuchs folgte.
Er lief zuerst langsam und drehte sich immer mal wieder zu uns um. Er schien zu bemerken, dass wir keineswegs etwas dagegen hatten unseren Gang zu beschleunigen und spurtete nun deutlich schneller, vorbei an weiteren Hallen und auch kreuz- und quer durch deren Inneneinrichtung.
Zeit, um die Umgebung genauer zu betrachten oder uns gar den Weg einzuprägen blieb keine. Wir kamen schnell ins Rennen, hechteten über Schuttteile und bogen in scharfen Kurven um die Häuserecken, um das Tier nicht aus den Augen zu verlieren.
Mir war so, als könnte ich neben dem Geräusch unserer eigenen Schritte auch noch etwas anderes aus der Stille um uns herum filtern. Aus der Richtung, in die der Fuchs vorausgeeilt war, hörte man das mechanische Schnaufen einer Maschine.
Auch Kevin schien das Geräusch zu hören und wurde langsamer. Den Fuchs hatten wir ohnehin schon aus den Augen verloren, also blieben wir bald darauf stehen.
Vor uns beschrieb der Weg eine einzige, lange Gerade, umringt und umzäunt von Schrott und Stacheldraht. Eine Barriere, die durchaus gewollt dort plaziert zu sein schien. Ein einzelner Weg führte hinein in eine äußerst dichte Nebelfront. Ich schaute nach oben zum Himmel. Die Sonne stand klar und strahlend dort. Ein leuchtend gelber Fleck in einem Meer aus blauweißem Samt.
Irgendetwas war an diesem Nebel ganz und gar unnatürlich.
„Schau mal“, sagte Kevin und deutete mit dem Finger auf die Dächer der großen Verwaltungsgebäude, die sich unmittelbar hinter der Schuttbarriere auftürmten. Die großen Krähen waren mir gar nicht aufgefallen. In Reih und Glied hockten sie auf dem flachen Dach und starrten zu uns herunter. Auch ihnen haftete eben jene Unnatürlichkeit an wie die der Nebelbank, die ihrer Aufgabe, uns die Sicht zu nehmen mehr als gerecht wurde. Das Fell der Tiere leuchtete in der Sonne wie eine Alluminiumverkleidung. Ich musste die Augen zusammenkneifen um dagegen anzusehen.
Ein paar dicke Vögel schwangen sich in die Luft und flogen davon. Das Geräusch ihres Flügelschlags war ebenso seltsam, wie die Beschaffenheit des Federkleides. Ein surrendes, pfeifendes Geräusch durchschnitt die Luft. So als würde ein Mini-Fleugzeug über unseren Köpfen hinweg fliegen.
Als wir nach kurzer Zeit den Blick wieder senkten, sahen wir den Fuchs. Er stand keine zwei Meter weit entfernt und schaute zu uns auf.
Hinter seinen schwarzen Augen schien sich irgendetwas zu regen. Ich kannte diesen Ablauf nur zu gut. Auch in Kevins Gesicht konnte ich deutlich erkennen, dass er begriffen hatte, was sich da auf- und wieder zusammenzog. Es erinnerte an die Blende einer gewöhnlichen Kamera.
„Was geht denn hier vor?“, sagte er verblüfft. Seine Stimme klang nicht ängstlich. Ganz im Gegenteil. Kevin hatte wieder dieses Feuer in den Augen, das er immer dann bekam, wenn sich ihm völlig neue Möglichkeiten darzulegen schienen. Dieser Fuchs war eine Möglichkeit. Denn wenn man länger hinsah, konnte man erkennen, dass bis auf das rotglänzende Fell und die Schnauze nichts an dem Tier echt war. Um die Hüfte herum konnte man sogar die Linie sehen, die sich wie ein Halbkreis um den Hinterlauf legte. Ganz genauso wie das bewegliche Gelenk einer Puppe.
Dann drehte sich das Tier um und lief davon, hinein in den Nebel. Dabei machte es ein Geräusch, wie es so nicht in der Natur vorkommen konnte. Es war durchweg mechanisch und erinnerte mich an Spielzeug, das man aufziehen musste, damit es sich bewegte. Trotzdem waren die Bewegungen, ähnlich wie der Rest des Körpers, eine äußerst gelungene Kopie des Originals.
„Interessant“, stammelte ich und sah Kevin an, der so verblüfft wirkte, als hätten wir gerade den heiligen Geist gesehen.
„Wir müssen ihm nachgehen, Christian.“
Ich versuchte gar nicht, allzu lange darüber nachzudenken. Selbst wenn ich mich noch so unbehaglich fühlte, konnte ich dieses Rätsel, einmal angefangen, nicht einfach entgleiten lassen.
„Das sollten wir tun“, sagte ich und ging voraus den schmalen Weg entlang. Kevin ging direkt hinter mir, als wir plötzlich vor der Nebelbank standen und stehen blieben.
„Ich weiß, das ist jetzt vielleicht kindisch“, sagte ich und griff Kevin bei der Hand. „Aber ich will sicher sein, dass wir uns nicht verlieren.“
Kevin nickte. Er brannte förmlich auf das Abenteuer das vor uns lag.
Vielleicht sollte er lieber vorgehen, dachte ich bei mir selbst und ging dann weiter.
Die Hand meines Freundes drückte ich fester als zuvor, als mir die Sicht vollständig genommen wurde ...
Wir liefen schon eine ganze Weile durch den Nebel. Es gab nicht einen Orientierungspunkt und Kevin lief nicht länger hinter mir, sondern wir liefen Seite an Seite, jeder fest mit dem anderen an den Händen verbunden.
„Scheiße, das gefällt mir überhaupt nicht mehr“, sagte ich und drehte mich demonstrativ um, weil ich hoffte, dass man von hier aus noch den Anfangspunkt unserer Reise ausmachen können würde. Aber dem war nicht so. Wie eine bewegliche Mauer folgte uns der Nebel und hüllte uns ein. Auch der Weg war viel breiter geworden. Die Barriere war nicht mehr da. Dafür hatte sich der Boden unter unseren Füßen verändert. Wir liefen nicht länger auf Asphalt, sondern auf Erde. Dunkel und fest trug sie uns. Hier und da lag braunes Laub herum. Eindeutig das Werk des Herbstes.
Nach einer Weile beschlossen wir, die Richtung zu ändern, obwohl wir ohnehin nicht mehr genau sagen konnten, wohin wir die ganze Zeit über gelaufen waren. Als sich aber auch jetzt noch kein Haus zeigte, wurden wir beide merklich nervöser. Auch Kevin fluchte hin und wieder laut auf.
Es war, als hätten wir uns im Nichts verlaufen. Und das war unmöglich, hatten wir uns doch soeben noch mitten im Industriepark aufgehalten. Ich musste daran denken, wie wir erst vorletzten Monat einen der großen Schornsteine erklommen hatten. Eine durchaus gefährliche Angelegenheit, war doch dem Material und der Konstruktion nicht mehr zu trauen. Aber wir waren oben angekommen und hatten das gesamte Gelände überblickt. Hatten wunderbare Fotos geschossen auf denen der gesamte Industriepark in allen Richtungen zu sehen war. Die stillgelegten Fabrikstädte, ebenso wie die, in denen noch schwer gearbeitet wurde. Und nirgendwo gab es einen derart riesigen Fleck, der nicht bebaut und asphaltiert war. Hatte etwa ein großes Gebäude die Sicht versperrt? Das war denkbar, aber nicht beruhigend. Mein Herz trommelte mittlerweile aufgeregt in meiner Brust und mir war in dieser Stille fast so, als könnte ich es physisch hören.
Wir gingen längst schon einen Schritt schneller, kamen sogar bald ins Laufen. Und dann passierte tatsächlich etwas. Als uns schon beinahe die Panik übermannte, lichtete sich der Nebel und entließ uns fast augeblicklich in eine Welt, die zeitgleich verblüffend schön und absolut irreal anmutete.
Vor uns lag ein wunderschöner Garten. Der dunkle Weg verlief sich schon bald in eine saftig grüne Wiese, auf der die prächtigsten Blumen wuchsen, die ich je gesehen hatte. Ein paar erkannte ich wieder. Sonnenblumen und roter Klatschmohn schlossen hier ebenso Nachbarschaften mit Rosen, wie diese mit Gänseblümchen und Narzissen. Viele der anderen Sorten waren noch bunter und ausgefallener. Das Gras war wild und ungezähmt. An einigen Stellen kurz und fein, an anderen reichte es mir fast bis zur Schulter.
„Schau dir das an“, sagte Kevin und zog mir aufgeregt am Arm.
Handgroße Schmetterlinge, die sich nicht hinter der Farbenpracht der Blumen zu verstecken brauchten, flatterten über unsere Köpfe hinweg und setzten sich auf Blüten, was zur Folge hatte, das sie mit deren Farben verschmolzen und unsichtbar wurden.
Und auch hierbei handelte es sich nur um eine perfekte Kopie. Der Stabförmige Körper des Falters war nichts weiter als eine rostige Schraube. Nur die Flügel wirkten täuschend echt.
„Das ist der absolute Wahnsinn.“ Ich ging ein paar Schritte durch das Gras und merkte, dass das Gelände eine Steigung durchmachte. Im Zentrum dieses Paradieses lag ein Verwaltungsgebäude. Groß und beschädigt. So wie wir es schon zuhauf gesehen hatten, als wir durch die Betonwüsten gelaufen waren.
Die Fensterscheiben waren teilweise ganz geblieben und reflektierten eine perfekte Schwärze, vor der sich träge Wetterballons tummelten. Durch die Scheiben, die zu Bruch gegangen waren, kräuselten sich Kletterpflanzen aus dem Haus ins Freie.
Die ganze Fassade war von kräftigen Ästen umsäumt. Sie wirkten wie Stützpfeiler, die sich in einer starken Umarmung um das Haus geschlossen hatten und es so vor dem Einsturz bewahrten.
„Wo sind wir hier“, fragte Kevin und schaute jenseits des Gartens, hinauf zu den riesenhaften Gebäuden, die schwarz und statisch da standen und den grünen Fleck, auf dem wir uns befanden umzingelten. Der Himmel war düster. Die dicken Wolken waren von einem violetten Schein umgeben, der ihre Ränder gespenstisch beleuchtete. Ein einziger, breit gebündelter Lichtstrahl fiel vom Himmel genau auf den Garten herab.
Wie, als ob er ihn segnen wollte, schoss es mir durch den Kopf.
Ich spürte die Wärme im Nacken und auf meinem Gesicht. So wundervoll dieser Ort aber auch war, die riesigen, pechschwarzen Gebilde wirkten wie Riesen, die den Ort nicht bewachten, sondern gefangen hielten.
Ich kam mir vor, als wäre ich auf einer kleinen Insel gestrandet, die im Nichts schwebte. Ein letzter, lebendiger Fleckchen Erde, zugebaut von kalten, erstarrten Gebilden.
Und plötzlich ein gleißend helles Licht, das die Umgebung außerhalb des Gartens für einen Sekundenbruchteil erhellte. Wie ein Leuchtfeuer zischte der Blitz aus Kevins Kamera durch leere Häuserschluchten und belegte ihre zahllosen dunklen Fenster mit einem gespenstischen Leuchten. Legte seinen matten Glanz auf menschenleere Straßen.
„Aber, das ist ja eine Großstadt“, flüsterte ich mir selber zu. Das Surren der Kamera hallte immer noch nach, auch als das Licht längst verschwunden war.
Ich nahm nun selber meine Kamera hoch, drückte den Auslöser, ohne auch nur einen Blick durch den Sucher zu verschwenden. Wie ein magisches Geschoss jagte der Blitz heraus und flog, begleitet von einem Pfeifen, in Richtung Stadt. Und wieder wurde es kurz hell, als sich die riesenhafte Geisterstadt wie ein Foto offenbarte, das man ins Entwicklerbad gelegt hatte.
Jetzt konnten wir auch ganz deutlich sehen, wo die Fälschung lag. Die Fenster waren zwar aus echtem Glas, aber die Häuser wurden nicht etwa aus Beton oder Stein gebaut, sondern aus Erde und Lehm.
Und da war noch etwas merkwürdiges. Auf den Straßen versammelten sich Leute. Auch aus einigen Fenstern reckten sich Köpfe heraus um das Lichtspektakel zu verfolgen.
„Wer sind die?“, fragte Kevin und schoss seinerseits nochmal ein Foto, als das Licht von den Häuserschluchten geschluckt wurde.
Und diesmal gefiel uns gar nicht, was wir sahen. In langen Prozessionen kamen die Leute die Straßen herunter, direkt auf uns und somit den Garten zu.
„Versuch mal den Zoom“, sagte Kevin und presste sich hastig die Kamera vor´s Auge.
Ich schaute nun ebenfalls durch den Sucher und vergrößerte nur völlige Finsternis.
„Warte mit dem Auslöser. Wir schießen zusammen. 3 ... 2 ... 1 ...“
Und dann flogen plötzlich zwei magische Projektile fast zeitgleich durch die Luft und machten die Umgebung taghell. Die Pilger stoppten erschrocken und taumelten ein paar Schritte zurück
Der Schrecken durchlief mich seinerseits wie ein Blitz. Das waren keine Menschen, die dort auf den Straßen liefen. Es waren Tiere, die sich wie Menschen aufführten. Ein Wolf, der den Menschen imitierte, indem er unsicher auf den Hinterläufen balancierte. Sein langer, buschiger Schwanz wedelte dabei hin und her. Und da war auch ein Fuchs, der sich ähnlich verhielt. Sein weißes Bauchfell hatte zuvor sogar in der Dunkelheit gestrahlt. Da war etwas, das zuerst an eine äußerst fette Frau erinnerte, sich dann aber als Schwein herausstellte, das sich einen großen, schweren Wintermantel umgelegt hatte.
Ich erkannte noch eine Vielzahl von Hunden und katzenähnlichen Wesen, als das Licht verschwand. Fast hätte ich wieder den Auslöser betätigt, aber Kevin packte mich an der Schulter und drehte mich zu sich.
„Vielleicht sollten wir lieber verschwinden“, sagte er.
„Wir haben kaum Fotos gemacht“, sagte ich enttäuscht, immer noch berauscht von so vielen Wundern.
„Wir haben sogar sehr viele Fotos gemacht.“ Kevin hob die Hand zum Kopf und tippte sich mit den Fingern vor die Stirn.
„Ja, du hast Recht. Lass uns verschwinden.“
Ich schaute mich noch einmal kurz in der Finsternis um, dann folgte ich Kevin zurück zu der Nebelbank.
Wir hatten noch keine zehn Schritte gemacht, da rief eine Stimme nach uns.
Christian. Kevin. Noch nicht gehen.
Ich drehte mich hastig um. Auch Kevin hatte sofort verstanden und blieb stehen.
„Das ist Stefanie“, sagte ich und ging demonstrativ ein paar Schritte vom Nebel weg. Die Stimme reagierte.
Ihr habt nichts zu befürchten. Sie sind einfach nur neugierig auf euch.
Ich wechselte mit Kevin einen besorgten Blick.
„Wo bist du?“, schrie ich zurück, denn es war mir unmöglich, die Richtung zu lokalisieren. Es war, als würde die Stimme direkt zu unseren Herzen sprechen. Klar und laut.
Ich bin hier.
In diesem Moment geschah etwas mit dem Garten. Angefangen mit uns, versanken nach und nach Wiese und Blumen, Bäume und Tiere im Schatten, bis nur noch das Verwaltungsgebäude vom Licht angestrahlt wurde. Mit einem Mal wurde es äußerst kalt, fast winterlich.
Der Drang, einfach umzudrehen und in die normale Welt entlassen zu werden, war groß, aber das Rätsel um diesen Ort war noch nicht gelöst, wenn es denn überhaupt jemals gelöst werden konnte.
Schließlich war es Kevin, der mutig wie immer eine Entscheidung getroffen hatte.
„Gehen wir rein“, sagte er, klopfte mir auf die Schultern und lief vorraus ...
Was bloß hatte Stefanie hier zu suchen? Hatte sie es nicht mehr ausgehalten und war alleine losgezogen. War sie wirklich nur ein Gast an diesem Ort? Ich erinnerte mich an meine erste Vermutung, nachdem ich diesen Ort betreten hatte.
Nicht beschützen, sondern gefangen halten.
In meinem Magen zog Frost auf. Als wir die wenigen Stufen zum Eingang des Verwaltungsgebäudes hinaufstiegen, verlangsamte ich meinen Schritt.
„Irgendetwas stimmt nicht.“
Kevin nickte unmissverständlich.
„Ja, da könntest du Recht haben.“
Dann trat er durch den Eingang ins Haus. Eine Tür gab es nicht mehr. Sofort wurde er von Schatten geschluckt, denn das Licht wartete lieber an der Türschwelle.
Zügig lief ich hinterher und als ich die Pforte passiert hatte, wurde es wieder eisig kalt.
Aber das war nicht das einzig Merkwürdige. Hier drinnen machte irgendetwas einen ohrenbetäubenden Lärm. Ich musste mir die Hände auf die Ohren pressen. Auch Kevin konnte den Lärm nicht lange ertragen und machte es mir nach.
Das war zweifellos das Geräusch einer riesigen Maschine. Nur warum war draußen nichts davon zu hören gewesen? Schon wieder schien es, als würde eine Art Zauber das Haus abschirmen. Dabei hatten wir kurz zuvor, als wir noch damit beschäftigt waren den Fuchs zu jagen, doch auch eine Maschine gehört. Weit entfernt zwar, aber dennoch deutlich.
Vielleicht waren wir ja doch noch immer in unserer Welt. Vielleicht hatten wir den Industriepark nie verlassen und es war, wie ich überlegt hatte, als wir durch den Nebel irrten.
Aber woher dann die riesige Stadt der Tiere, die alleine schon doppelt so groß wirkte wie der gesamte Park? Irgendetwas passte hier nicht zusammen und die kalte, unfreundliche Atmosphäre im Haus untermauerte meine Vermutung.
Es gab hier keine Ausstattung. Nur leere Räume, rissig und kahl. Auch die Vegetation nahm hier keinen großen Einfluss. Einzig und alleine die breite Kletterpflanze schien dem grauen Gemäuer zu trotzen und hatte sich einen Weg ins Freie erkämpft.
Als wir ein Stück weiterliefen, sahen wir ein rostiges Geländer, das eine Treppe markierte, die nach unten führte. Sonst gab es nichts zu erkunden. Das Geräusch, das von unten herrührte, wurde immer lauter und unerträglicher. Wie eine Kreissäge wütete es in unseren Köpfen und ich musste die Hand noch fester aufdrücken, bis mir die Ohren schmerzten. Wir schauten die kleine Treppe herunter und sahen ein Gemisch aus Dampf und dicken Schläuchen. Der Boden bestand aus einer Gitterplatte, die an vielen Stellen vom Rost zerfressen wurde. Zum Glück war unmittelbar darunter schon der Boden zu sehen, für den Fall, dass die Konstruktion unter unserem Gewicht zusammenbrach.
Dann plötzlich erstarb die Kreissäge in meinem Kopf und auch Kevin nahm erleichtert die Hände runter. Ein paar Mal wurde noch Druck abgelassen und große weiße Dampffontänen krochen unter dem Gitternetz hindurch. Dann war alles ruhig und wir wagten den Abstieg.
„Was ist das denn für ein Teil“, sagte Kevin und betrachtete aufgeregt die große Maschine, die vor uns lag. Dutzende dicke Schläuche und Kabel hingen von der Decke herunter, waren an der Wand entlang verlegt oder sorglos auf dem Boden ausgelegt worden. Allesamt führten sie zu eben jener seltsamen Konstruktion, die reichlich ausgeschmückt war mit den nutzlosesten Sachen. Genau in der Mitte hing eine schlichte Holztür, die an vielen Stellen arg ramponiert war aber dennoch stabil wirkte. Ich musste unweigerlich an das Märchen von Hänsel und Gretel denken. Das hier war keine Maschine im eigentlichen Sinn. Nein, es war ein modernes Hexenhaus im Miniaturformat. Wofür die vielen Werkzeuge, die chaotisch an die Wand geklebt und sogar überklebt wurden? Jeder Teil der Verkleidung bot Platz für einen ganzen Müllberg aus Kleinteilen, Schrauben in hundertfacher Ausführung, Muttern und Nägel, Stahlspähne und Schraubenzieher. Alles wurde hier wild und sorglos miteinander gekreuzt. Schraubenzieher und Spachtel, aneinandergeschweißt in Kreuzform. Hunderte Nägel, geklebt auf eine Eisenkugel, sahen aus wie ein Seeigel.
Wessen Arbeitsplatz das auch immer war. Der- oder Diejenige hatte auf jeden Fall Spaß dabei, Gegenstände zu kombinieren. Egal mit welchem Ergebniss. Egal, ob nützlich oder nicht.
Dann plötzlich ließ mich ein lauter Knall aufschrecken. Kevin, der sich schon ziemlich nah an die Tür herangewagt hatte, sprang zurück. Beide liefen wir nun ein Stückchen weiter zurück, den Blick immer auf die Tür gerichtet. Als wir uns wieder am Fuß der Treppe befanden fühlten wir uns sicherer.
Ich schaute mich nervös um, nur um sicher zu gehen, das nicht schon eines der Tierwesen ins Haus gekommen, oder gar zu uns heruntergeschlichen kam. Aber es war nichts zu hören. Alles ruhig.
Dann wieder ein wütender Faustschlag gegen die Tür, die nun ein wenig zitterte. Ich hatte schon einen Fuß auf der Treppe. Die andere Hand hielt Kevins Arm fest. Wenn es sein musste, waren wir hier schneller verschwunden, als es Zeit brauchte um die Tür aufzustoßen.
Dann kam mir plötzlich ein ganz anderer Gedanke. Was, wenn sie Stefanie hier eingesperrt hatten? Aber warum hatte sie uns dann draußen nicht gewarnt und warum klang sie alles andere als verängstigt?
Wieder der Blick über die Schulter. Ich fühlte mich beobachtet und verfolgt. Was das auch für ein Rästel sein mochte. Ich war nicht bereit dazu es zu erforschen.
Dann passierte etwas mit der Tür. Als hätte der Wind ihr einen leichten Schubser gegeben, knarrte sie gemächlich und langsam auf. Dahinter war es dunkel und nass. Ich konnte in leichten Konturen eine Art Tunnel sehen. Die Wände waren ebenfalls aus Erde geformt und benetzt von einer schleimigen Patina aus Wasser und Lehm.
Es ging abwärts.
„Wie ein Kaninchenbau“, flüsterte ich.
Im nächsten Moment ergriff eine klirrende Kälte meinen Körper und paralysierte meine Glieder, als etwas aus dem Tunnel hervorschoss. Flink wie eine Spinne hangelte sich das Ding mit menschlichen Armen an der Wand entlang und war blitzschnell am Eingang und somit an der Tür.
Da verharrte es schließlich und ließ uns erstmals einen Blick auf seine Anatomie werfen.
Arme und Beine waren durchaus menschlich. Sie glänzten nass und fleischfarbend, wiesen an unzähligen Stellen aber auch hässliche Fleischwunden auf. Der Körper schien menschlich zu sein, auch wenn davon noch nicht sehr viel zu sehen war. Denn das eigentlich Groteske an dieser Erscheinung waren die Haare, die nach vorne gefallen den Blick auf das Gesicht verwehrten. Natürlich sollten es Haare darstellen, aber was sich da tatsächlich auf dem Kopf befand, war eher eine tödliche Waffe als schmückendes Beiwerk. In langen, zum Teil heftig gekräuselten Strähnen, war es nichts weiter als messerscharfer Natodraht, der dem Wesen da vor Gesicht und Körper fiel.
Die Fleischwunden, die den gesamten Körper zierten waren da natürlich schnell erklärt.
Egal, ob nützlich oder nicht, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf.
Dann warf das Wesen in einer Geste, die der Anmut des Fuches durchaus Konkurrenz machen konnte, den tödlichen Haarschopf nach hinten, worauf unzählige kleine Messer die Luft durchschnitten.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag. Das früher so liebliche Gesicht von Stefanie schaute mich an. Die Haut war übersäät mit blutigen Strichen. Die Oberlippe war grotesk angeschwollen und ebenfalls an vielen Stellen aufgeplatzt. Hier und da steckten noch winzige Natoklingen in der Haut. An der Stirn zog sich von einem Ohr zum anderen ein Schnitt, der äußerst präzise gemacht wurde. Wie das Werk eines Chirurgen, der zum hundertsten Mal Haare transplantierte.
Nur die Augen waren weit geöffnet und ich erkannte die Zufriedenheit in ihnen. Und diese Tatsache schockierte mich fast noch mehr als ihr deformierter Leib.
Kein Schmerz, kein Ausdruck, der Mitleid erzeugen wollte, waren darin zu finden.
„Lass uns verdammt nochmal verschwinden, Kev“, sagte ich und stürmte die Treppen hoch. Er folgte mir nicht.
„Kevin!“, schrie ich und lief aufgebracht zu ihm zurück.
Ich musste ihn erst durchschütteln, damit er sich aus seiner Paralyse befreite. Stefanie lächelte uns an. Ihre grünen Augen glänzten vor Wonne.
„Ja“, sagte er apathisch und löste seinen Blick. Dann rannten wir gemeinsam die Treppen hoch. Nur weg von dieser Wiege des Schreckens. Gedanklich erforschte ich den Kaninchenbau. Sah vor meinem geistigen Auge eine riesige Gebärmutter die wie eine Maschine arbeitete. Sah sie Dinge zusammenbasteln, die nicht zusammengehörten. Ich sah rostige Nägel mit Flügeln. Tiere, denen man mechanische Gliedmaßen verpasste und Menschen, die man mit Schrott vermählte. Menschen und Tiere. Natur und Technik. Menschen und Technik. So viele grausame Möglichkeiten.
Ich wollte nur noch raus aus diesem Alptraum ...
Sie versteckten sich im mannshohen Gras oder standen, überhaupt nicht scheu mitten auf der Wiese und starrten uns misstrauisch an. Ich erkannte einige von ihnen sofort wieder. Das Schwein mit dem Wintermantel stand am Fuße der Treppe und schaute zu uns hoch. Als wir langsam und vorsichtig herunterschlichen, grunzte es laut auf und gab sein menschliches Theaterspiel auf. Der Mantel fiel von ihm ab und das Schwein rannte auf allen Vieren davon.
Der Lichtstrahl folgte uns auf Schritt und Tritt, während wir die Wiese entlangliefen. Immer wieder offenbarte er uns Teile des Gartens, die vorher nicht ausgeleuchtet wurden. Und da standen sie. Hunderte von Ihnen zwängten sich dicht aneinander, um die Eindringlinge anzuschauen.
Ich fühlte mich auf absurde Weise wie ein Tier im Zoo. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich, als ich die ganzen Augenpaare auf mir spürte. Hunde, Katzen, Bären und Wölfe konnte ich auf einen Blick identifizieren. Aber es gab auch einige Exoten wie Elefanten und Giraffen, die allesamt auf menschliche Größe geschrumpft waren. Je länger ich sie ansah, desto mehr falsche Details fielen mir ins Auge. Der Rüssel des Elefantenmenschens war ein einfacher Schlauch, der Hals der Giraffe eine angemalte Spahnplatte.
„Lass uns bloß schnell hier verschwinden“, sagte ich zu Kevin und beschleunigte meinen Schritt. Die Wesen schienen uns nicht aufhalten zu wollen. Diejenigen, die uns im Weg standen suchten schnell das Weite, als sie uns herankommen sahen und die Masse verharrte starr und regungslos am Rande des Gartens. Ich schaute mich noch einmal zum Haus um. Riesenhafte Vogelmenschen hatten das Dach gekapert und saßen wie die Besucher eines Autokinos auf dem Sims und starrten zu uns hinunter.
Als wir unmittelbar vor der Nebelbank standen, versperrte uns ein einzelnes Tier den Weg. Es war einer der Wölfe, der uns seine furchterregende Zahnreihe präsentierte und gebieterisch knurrte. Er hatte nicht vor, von seinen Hinterläufen zu steigen und somit seine angsteinflößende Haltung aufzugeben. Obwohl die Oberschenkel vor Anstrengung zitterten, machte er ein paar Schritte auf uns zu.
Allerdings hatte ich keine Lust, mich von ihm zurücktreiben zu lassen. Um nichts in der Welt würde ich dieses Haus oder gar die Stadt, die sich darum erstreckte noch einmal betreten.
Ich nahm die Kamera hoch und machte mir sogar die Mühe, durch den Sucher zu schauen.
Dann feuerte ich das Blitzprojektil ab, das sogar kurzzeitig den Nebel zu vertreiben schien, der hinter der Bestie lag.
Mit einem lauten Winseln ließ sich der Wolf auf seine Vorderläufe fallen und zog erschrocken von Dannen.
Auch die anderen Tiere waren aufgeschreckt worden und machten einen Heidenlärm. Unzählige Gelenke, die sich hydraulisch in Aufruhr versetzten und eine Kakophonie heraufbeschworen.
„Los jetzt“, sagte ich und rannte mit Kevin an der Hand in die dichte Nebelfront hinein.
Die Sicht war noch schlimmer als zuvor. Man konnte kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Und trotzdem stürmten wir voran, ohne auf Stolperfallen oder plötzlich auftauchende Wände zu achten.
Verblüffend schnell lichtete sich der Nebel vor uns und gab eine Szenarie frei, die uns wohl bekannt war.
„Das gibt's doch nicht“, fluchte ich.
Vor uns lag das Verwaltungsgebäude und der Garten, auf dessen Wiese sich nun unzählige Tiere an die Seite drängten und so eine schmale Gasse formten.
Wie eine Majestät, in ein schneeweißes Laken gehüllt, kam Stefanie heran geschwebt.
Ihre Augen leuchteten in der Nacht wie zwei Smaragde. Das Klingengewirr auf ihrem Kopf schimmerte ebenfalls.
Wenn ihr jetzt weg lauft, dann wird euch eine Welt aufnehmen, in der es nichts mehr zu entdecken gibt.
Stefanies Stimme sprach direkt zu unseren Herzen.
Ich war schon im Begriff mich umzudrehen und den erneuten Versuch zu starten, dem verräterischen Nebel zu trotzen, als die Stimme erneut sprach, so als könnte sie meine nächsten Schritte voraus planen.
Was an diesem Ort passiert, ist völlig neu. Es ist originell und einzigartig. Die ersten Versuche, Gottes Geschöpf mit menschlicher Vorstellungskraft und Technik zu verbinden sind geglückt, wie ihr seht.
Sie ließ die Tiere völlig außer Acht, sondern machte stattdessen eine Geste mit der Hand und strich an ihrem Körper herunter, so als wollte sie sich selbst als geglückten Versuch preisen.
„Das ist Schwachsinn, Kev. Hör dir den Scheiß bloß nicht länger an und lass uns gehen“, sagte ich und drehte mich entschlossen um.
Kevin, ertönte Stefanies Stimme erneut. Diesmal energischer.
Er braucht Leute wie dich. Er braucht sie so dringend. Er ist der Zauberer, aber du bist die Idee, die seine Schöpfungen zur Perfektion bringen kann.
„Verdammt, Kevin“, versuchte ich ihn erneut zu ermahnen.
Aber er hörte mir gar nicht mehr zu. Ab und zu lächelte er und ich war mir sicher, das die Stimme jetzt nur noch zu seinem Herzen sprach.
„Verzeih mir, aber ich muss das mit eigenen Augen sehen. Ich muss weiter in den Kaninchenbau gehen“, sagte er schließlich und in seinen Augen loderte ein Feuer, das durch nichts und niemanden mehr zu bändigen war.
„Das gibt's doch nicht“, sagte ich mir immer wieder. In mir wuchs Zorn heran. Einerseits auf Kevin, weil er unbedingt das Geheimnis dieses Ortes verstehen wollte und dabei sogar bereit war, in diese Hölle zurückzukehren und andererseits auch auf mich selbst, weil ich dazu einfach nicht den Mumm hatte.
„Ich bin raus, mein Freund“, sagte ich und entfernte mich im Rückwärtsschritt.
„Du passt sowieso viel besser zu ihr.“ Bei diesen Worten sprach ich auch mit Stefanie, die allerdings keine Lust hatte, mir zu antworten.
Dann kehrte ich dieser verdrehten Welt den Rücken zu und sah mich der Nebelfront gegenüber.
„Benutz deine Kamera“, hörte ich Kevin sprechen. „Und machs gut, mein Freund.“
Dann war ich auch schon vom Nebel eingehüllt und alles, was noch vorherrschte, war beruhigende Stille.
Ich nahm die Kamera hoch und betätigte den Auslöser. Der Blitz zerfetzte den Nebel wie ein Spinnennetz, das von einem Besen getroffen wurde.
Und dann stand ich wieder inmitten von Lagerhallen und asphaltierten Straßen. Es war Nacht. Wie lange ich wohl fort gewesen war? Ich sah mich um, aber am Ende des schmalen Weges, der von einer Schuttbarriere umzäunt wurde, gab es nichts, außer einer Sackgasse, errichtet aus aufgetürmtem Schrott.
Tief in meinem Inneren spürte ich den brennenden Schmerz von Verlust. Ich hatte zeitgleich zwei gute Freunde an ein Geheimnis verloren, das ich wohl nie wieder in der Lage war zu ergründen.
Als ich langsam den Weg durch den Industriepark zurück trottete, fühlte ich mich von Minute zu Minute besser. Ich hatte zwar ein Geheimnis verloren, aber mein altes Leben zurückgewonnen.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute hoch zum Firmament, auf dem tausende Sterne funkelten und ein Mond auf mich herabsah, der größer und voller in keiner Nacht mehr zu sehen sein würde.
Ja, auch diese Welt hatte ihren ganz eigenen Zauber, den es zu enträtseln galt ...
Für Kevin, der mich überhaupt erst zu der Geschichte inspiriert hat. Ich freu mich schon auf unser nächstes Abenteuer.
Für Stefanie, die einfach nur mal Namentlich erwähnt werden wollte. Ach übrigens, ich mag deine Haare so wie sie sind!