Mitglied
- Beitritt
- 15.03.2009
- Beiträge
- 190
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Don Luis hat mal ein Haus gebumst
Sie erreichten Salamanca am frühen Nachmittag. Unterwegs hatten sie zu Mittag gegessen, üppig und schmackhaft wie es im Norden üblich war. Don Luis war jetzt schweigsam geworden. Sein Sohn Carlos auf das Autofahren und auf die Orientierung in einer ungewohnten Umgebung konzentriert. Die Adresse, die sie suchten, lag in einem Vorort. Es war ein weiβes, mediterranes Häuschen, das sich von den umliegenden Gebäuden unterschied. Die Straβe war offensichtlich von neureichen jungen Familien besiedelt, das Häuschen aber sah aus, als ob es schon immer dort gestanden hätte und nicht verstand, wozu die hohen Mauern mit Glasscherben drauf und die allermodernsten Alarmanlagen gut sein sollten. Ein weiβgestrichener Zaun genügte. Der Garten war gepflegt und bunt. In der Garage stand ein Mofa. Carlos hupte. Sein Vater stieg aus. Die Haustür ging auf und eine gut erhaltene Dame trat in den Garten. Es war jene Klasse älterer Frau, die man spontan als Dame bezeichnet, ohne dass dies mit teurer Kleidung, Schmuck oder sonstigem Schnickschnack zu tun hatte. Es ist wohl eine Frage von Haltung und Würde, was einem unbewusst Respekt einflöβt. Die Dame blickte in ihre Richtung, und ihr Gesicht wurde von einem mädchenhaften Lächeln überflutet. Carlos war noch immer so gefangen von ihrer Gestalt, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sein Vater durch das Gartentor in ihre Richtung gestartet war. Das letzte Mal, dass er den Mann so laufen sah, war bei einem Picknick am Fluss vor etwa zwanzig Jahren gewesen. Die Paellapfanne war beim Abspülen weggeschwommen.
Es war die leidenschaftlichste Umarmung, die Carlos jemals bei Leuten über vierzig gesehen hatte. Carlos musste feststellen, dass ihn eine kindische Eifersucht, oder eine Art Besitzanspruch überkam. Seine Mutter wusste nichts von diesem Treffen.
“Ich hol dich um neun Uhr ab.”, rief er ihnen zu, bekam aber keine Antwort.
Nachdem er das Hotel ausfindig gemacht und das Gepäck abgeladen hatte, schlenderte Carlos durch die Altstadt. Er hatte Salamanca schon immer geliebt. Die mittelalterlichen Gassen, die alten Universitäten, der Geruch von Büchern, die Atmosphäre von Bildung und Wissenschaft. Hier fühlte er sich zu Hause. Nur wurden die Studenten von Jahr zu Jahr jünger.
Er setzte sich in eine Tasca, bestellte ein Bier und ein paar Mandeln. Er dachte über das Älterwerden nach, dachte an seinen Vater. Das mit der Reise war völlig spontan zustande gekommen, wie die meisten guten Dinge im Leben. Beide gelangweilt - der eine von nicht aufhörenden Arztbesuchen und Krankenhausaufhalten, der andere von der Midlifecrisis - waren sie sich einig gewesen. Doña Laurita war von der Sache nicht begeistert. Vom Mitfahren gar keine Rede. “Huuuch (Abgesehen von seiner Mutter konnte nur Tante Amelia dieses “Huuuch” auf dieselbe Weise aussprechen.), so lange im Auto sitzen – das hätte mir gerade noch gefehlt.” Zugegeben, er hatte nicht auf ihr Mitkommen bestanden, und das nicht nur, weil sie ein sturer Schädel war und das sowieso nichts gebracht hätte. Die Gelegenheit würde wohl nicht wiederkommen, mit dem alten Mann auf´s Geradewohl durch Spanien zu reisen. Beide kannten das Land gut, aus sehr verschiedenen Perspektiven, und beide liebten es. Don Luis hatte auch nicht versucht, seine Frau zu überreden. Nur ein Bisschen, sonst wäre sie beleidigt gewesen. Beide lieβen sie geduldig ihr sorgevolles Jammern über sich ergehen, ihre Ratschläge und Anweisungen über Ess-, Kleidungs- und Schlafvorschriften und Carlos übernahm die Aufsicht über die Medikamente.
Es gab keine aufschlussreichen Vater-Sohn-Gespräche. Sie redeten wenig, genossen einfach nur das Unterwegssein und das Zusammensein. Nur hier und dort gab es Bemerkungen, wie sich der Ort verändert hatte, und man erzählte einander von einem Aufenthalt in der Vergangenheit.
Von dem Besuch in Salamanca hatte Carlos erst beim Mittagessen erfahren. Es kam über den Tisch wie ein belangloses Kommentar. “Ich möchte da bei jemandem vorbeischaun.” Carlos wusste nicht einmal, woher er ihre Adresse und Telefonnummer hatte, und wie er die über all die Jahre vor Doña Laurita versteckt gehalten hatte. Aber er hatte schon von ihr gehört. Bei jeder Paella, jedem Ausflug, jedem Treffen mit seinen damaligen Kameraden von der kommunistischen Partei musste Don Luis die Geschichte wieder und wieder erzählen. “Luis hat mal ein Haus gebumst.” Neben den unzähligen Anektoten aus dem Bürgerkrieg über den exzentrischen Piloten, der nie frische Wäsche dabei hatte, aber immer ein Köfferchen voller Bücher im winzigen Cockpit zwischen die Knie quetschte, war das die Lieblingsgeschichte seiner Kollegen. Carlos bevorzugte die Version, die er erzählte, wenn seine Mutter gerade in der Küche beschäftigt war.
“Es war auf dem Weg nach La Coruña. Wir sollten dort drei Flieger abliefern, die die Republik dringend brauchte. Durch den Wind war ich etwas von meinen Kollegen zurückgeblieben. Die Lage war sicher und ich flog tief, weil mir die grüne Landschaft des Nordens so gut gefällt. Ich sah den Hügel geradeaus vor mir. Vielleicht war es, wie das Haus dort schön hingebaut war, ich weiβ nicht mehr genau, was meine Neugier weckte. Jedenfalls verlangsamte ich. Da sah ich sie. Hätte ich doch noch die Augen, die ich damals hatte. Ich sah sie aus dreihundert Metern Entfernung, ich schwör´s. Eine weibliche Gestalt, die sich mit einem Waschtrog vom Haus aus in Richtung der Wäscheleine auf der anderen Seite des Hügels bewegte. Ich sah sogar, dass sie gut gebaut war. Als ich fast schon über ihr war, löste ein Windstoβ den Knoten in ihrem Haar und die schwarze Mähne wehte - wie eine Fahne, die mir ein Zeichen geben wollte. Ich wollte nur einmal um das Haus kreisen, sie genauer betrachten. Nun sah ich sie von vorne. Der Wind presste ihr die Kleidung dicht an die Haut und betonte ihren wohlgeformten Körper. Der Rock und die Haare flatterten nach hinten. Ich kreiste weiter. Zugegeben, die Wendung war riskant. Sie blieb mitten auf dem Hügel stehen und stellte die Wäsche vor sich auf den Boden. Sie hatte keine Angst, schaute nur in meine Richtung, blickte mir direkt in die Augen. – Das ist absurd, denn ich hatte ja meine getönte Fliegerbrille auf, aber es kam mir so vor. – Ich war so nahe an ihr, dass ich ihre mandelförmigen Augen vor mir sah. Sie wich immer noch keinen Zentimeter vom Fleck, liess sich nicht aus der Fassung bringen. Die Haare im Wind, die standhafte Haltung, der sichere Blick. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich mich in einem Flugzeug befand, und dass ich für diese Maschine viel zu enge Kreise zog. Ich machte ein bruskes Steuermanöver, sah noch das Haus auf mich zukommen. Zu spät um auszuweichen, blickte ich nochmal in ihre Richtung, während ich noch scharf nach unten steuerte, um durch die Reibung mit dem Boden den Aufprall etwas zu bremsen. Jetzt reagierte sie. Sie hatte die Hände an den Kopf gehoben. Dann wurde es schwarz.”
Beim schallenden Gelächter der Kameraden kam Doña Laurita meist schmollend mit dem Salat oder dem Kaffee aus der Küche. Sogar nach dreiβig Jahren Ehe konnte sie noch kindisch eifersüchtig sein. Was heute seine Frau irritierte und seine Kollegen amüsierte, hatte ihn damals eine Gehirnerschütterung und drei Rippenbrüche gekostet. Auch wurde er beinahe seinen Pilotenschein los und entging um ein Haar dem Kerker wegen Mangel an Disziplin. Er wurde lang und breit verhört von den republikanischen Autoritäten, aber mit der Unterstützung seiner Kollegen gelang es ihm, sie von den schlechten Flugbedingungen wegen starker Windböen zu überzeugen.
Die Gefangenschaft kam nach dem Krieg. Nach zwei Jahren im Gefängnis von Ávila, von denen seine Familie nie mehr erfuhr als eine Umschreibung mit den ausdrucksvollen und vielfältigen Fluchwörtern der spanischen Sprache, wurde Don Luis nach Salamanca überstellt. Dort war der Gefängniswärter, ein Landsmann von ihm aus Massamagrell, dermaβen mit seinem Bildungsdurst beeindruckt, dass er ihm Bücher aus den Universitätsbibliotheken in die Zelle schmuggelte. Hier ging Carlos´ Vater seiner Lieblingsbeschäftigung nach und lernte nebenbei von James Joice, Sartre und Kant, unter vielen anderen, sogar einen umfangreichen Wortschatz auf Englisch, Französisch und Deutsch, auch wenn er nicht wusste, wie man es aussprach.
Die Schönheit auf dem Hügel war inzwischen ebenfalls nach Salamanca gezogen, mit ihrem Vater, der mit dem Sieg der Faschisten Haus und Gut verloren hatte. (der Schaden am Haus durch das Eindringen des Flugzeugs war in einigen Wochen wieder behoben worden). Daraufhin versuchte er in der Stadt sein Glück als Textilienhändler.
Eher als das Flugmaneuver um den Hügel, das eine Frau vielleicht beeindrucken mag, war es wohl die Mitleidsmasche gewesen, die ihr Herz gewann. Sie hatte den Kontakt zu Don Luis während der letzten Kriegsjahre und auch in den schwierigsten Zeiten der Gefangenschaft nie abgebrochen. Inzwischen war die Freundschaft zwischen Don Luis und dem Gefängniswärter gewachsen, und er hatte die Freiheit, das Gefängnis stundenweise zu verlassen. Das hatte Carlos auch erst heute beim Mittagessen erfahren. Er stellte sich abenteuerliche Ausbrüche aus dem Kerker vor, gefolgt von romantischen Begegnungen im spärlich beleuchteten Salamanca.
Als Carlos pünktlich um neun Uhr vor dem weiβen Häuschen erschien, wurde er der Dame vorgestellt. Ihr warmes Lächeln entfesselte ihn und er schämte sich für die egoistischen Gefühle, die er am Nachmittag verspürt hatte. Man stellte ihm auch die Tochter der Dame vor, die in Carlos das Verlangen aufbrachte, ein Flugzeug in ein Haus zu rammen, auch wenn sie einen Zweijährigen auf dem Arm hielt.
Im Auto meinte Don Luis: “Was hältst du von Schweinebraten zum Abendessen? Wenn es doch bloss das Restaurant hinter der Kathedrale noch gäbe…”