Doppelte Ankunft
Seine Mutter lockerte die Umarmung. In ihren Augen konnte er sehen, dass sie eigentlich noch nicht so weit war. Man sah wie sehr sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Seinem Vater gab er die Hand. „Na dann kann’s ja jetzt los gehn“, meinte dieser scherzhaft. Seine Mutter streichelte ihm noch einmal über die Wange, dann gingen seine Eltern zum Auto. Er blieb zurück.
Das Zimmer war winzig. Zwölf Quadratmeter, so hieß es im Mietvertrag. Irgendwie kam es ihm viel weniger vor. Schrank, Tisch, Regal, Stuhl, Bett. Die Wände waren kalkweiß, die kratzige Auslegware war blau. Er betätigte den Lichtschalter. Eine der Glühbirnen war bereits kaputt. Im Nebenzimmer hörte er, wie sich seine Mitbewohner stritten. Es handelte sich hierbei um ein polnisches Pärchen; beides Studenten. Das einzige was er verstand war das polnische Wort für „Scheiße“: „curvâ!“ Er machte den Fernseher an und legte sich ins Bett.
An der Straßenbahnhaltestelle stand nur ein junger Mann. Er atmete kurz durch, dann ging er auf ihn zu.
„Zur Uni?“
„Ähm, nein“ erwiderte der junge Mann mit einem Gesichtsausdruck der Verwunderung. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich hatte ein Institut gesucht, das hier draußen sein soll. Bin wohl eine Station zu weit gefahren.“
Ohne sich weiter zu unterhalten, stiegen beide in die angekommene Bahn.
Die Dozentin sprach ein seltsames Englisch. An jedes Wort, das auf einem weichen, beziehungsweise weich auszusprechenden Konsonanten endete, hängte sie ein „E“.
„Competent speaker-se know the soun-de of their language, an-de how to combine it.”
Er hatte sich in die hinterste Reihe gesetzt, die Plätze links und rechts neben ihm waren frei geblieben. Der Junge ganz links an der Wand hatte aufgehört mitzuschreiben. Er tat es ihm gleich. Stattdessen begann er die Dozentin zu zeichnen. Auf seinem Bild hatte sie links ein Ziegenbein. Als er wieder hoch sah humpelte sie gerade vom Polylux zur Tafel.
Das Licht des Kopierers wanderte über sein Gesicht. Erst von rechts nach links, dann wieder zurück. Er schaute auf die Anzeige des Apparates, in den er seine Kopierkarte hineingesteckt hatte. Auf dem Display wurden aus den angezeigten fünf Euro, vier Euro und sechsundneunzig Cent.
„Brauchst du noch lange?“ fragte das Mädchen das in der Tür stand.
„Nein, bin gleich fertig.“
Er mühte sich merklich seinen Dialekt zu verbergen. Sie lächelte kurz.
„Hast du was gemacht?“ fragte er seinen Banknachbarn. Der Kurs war völlig überfüllt. Notgedrungen hatten sie sich in die erste Reihe setzen müssen.
„Nee… Wir waren gestern lange weg. Ich hatte auch keinen Bock.“
„Macht ihr heute Abend was?“
„Weiß nich.“
Es war Dienstag. In zwei Tagen würde er endlich wieder nach Hause fahren können.
Er lief durch die Fußgängerzone. Es war Spätherbst und klirrend kalt. Er hatte seine Stirn in Falten gezogen und betrachtete seine Umgebung mit Argwohn. Sein Mp3-Player spielte gerade „Here, There and Everywhere“ von den Beatles.
„To lead a better life, I need my love to be here”, begann John Lennon zu singen. Er blieb kurz stehen, atmete tief durch und setzte seinen Weg daraufhin fort. Verfluchtes „Yellow Submarine“, dachte er zähneknirschend, als das nächste Lied einsetzte. Er griff zu seinem Mp3-Player und skippte ein Lied zurück.
Seine Mitbewohner stritten schon wieder, nur diesmal lauter. Er saß im Bett, den Rücken an der Wand, welche die beiden Zimmer voneinander trennte. Er schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile schon nach vier. Die Schleife in der die „Sexy Sport Clips“ abliefen, war inzwischen wieder am Anfang angelangt. Die Dame auf dem Bildschirm entkleidete sich, während ihr kleine, ferngesteuerte Autos durch die gespreizten Beine fuhren. So sehr er auch versuchte den Bewegungen der Stripperin etwas Erotisches abzugewinnen, er fand nichts.
Er ballte die Faust und schlug kräftig gegen die Wand hinter ihm. Kurz herrschte Stille.
Mit düsterer Miene stieg er in die Straßenbahn. Er setzte sich auf den erstbesten Platz. Kurz darauf gähnte er, was die Falten zwischen seinen Augen nur noch intensiver wirken ließ. Seine Arme hatte er auf seine Oberschenkel gestützt, seine Hände hingen zwischen den Beinen. Er schaute durch die Bahn, schaute sich die Gesichter der Leute an. Ein kleines Mädchen starrte ihn an und er blieb mit seinem Blick an ihr hängen. Sie schmunzelte. Für einen kurzen Moment verflog die Verspannung in seinem Gesicht. Er grinste zurück.
Sein Banknachbar schien das Angebot, ihm die Hand zu schütteln, nur widerwillig anzunehmen.
„Na, haste was je… ähh, geeemacht?“
„Ein bisschen“, erwiderte der Banknachbar.
„Und, heut schon was vor?“
„Mal sehn…“
Es entstand eine kurze Pause in ihrem Gespräch, in der es beide vermieden sich anzusehen.
„Soll ich dich anrufen, falls wir was machen?“
„Klar!“ antwortete er und gab ihm seine Telefonnummer. Als der Kurs vorbei war und er den Raum verließ, sah er den jungen Mann, welchen er damals an der Straßenbahnhaltestelle getroffen hatte. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte dieser und hob die Hand. Er erwiderte den Gruß.
Am Abend saß er an seinem Schreibtisch und füllte ein Formular aus. Es war ein Umzugsantrag. Er zögerte beim Ausfüllen der Spalte „Gewünschtes Wohnheim“. Nach kurzem Überlegen schrieb er das Wort „zentrumsnah“ auf die dafür vorgesehene Linie.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
„Wir machen heute nichts mehr, aber dafür wollen wir am Freitag einen trinken. Haste Lust vorbeizukommen?“
„Klar“, antwortete er.