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Doppelte Ankunft

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26.01.2006
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Doppelte Ankunft

Seine Mutter lockerte die Umarmung. In ihren Augen konnte er sehen, dass sie eigentlich noch nicht so weit war. Man sah wie sehr sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Seinem Vater gab er die Hand. „Na dann kann’s ja jetzt los gehn“, meinte dieser scherzhaft. Seine Mutter streichelte ihm noch einmal über die Wange, dann gingen seine Eltern zum Auto. Er blieb zurück.

Das Zimmer war winzig. Zwölf Quadratmeter, so hieß es im Mietvertrag. Irgendwie kam es ihm viel weniger vor. Schrank, Tisch, Regal, Stuhl, Bett. Die Wände waren kalkweiß, die kratzige Auslegware war blau. Er betätigte den Lichtschalter. Eine der Glühbirnen war bereits kaputt. Im Nebenzimmer hörte er, wie sich seine Mitbewohner stritten. Es handelte sich hierbei um ein polnisches Pärchen; beides Studenten. Das einzige was er verstand war das polnische Wort für „Scheiße“: „curvâ!“ Er machte den Fernseher an und legte sich ins Bett.

An der Straßenbahnhaltestelle stand nur ein junger Mann. Er atmete kurz durch, dann ging er auf ihn zu.
„Zur Uni?“
„Ähm, nein“ erwiderte der junge Mann mit einem Gesichtsausdruck der Verwunderung. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich hatte ein Institut gesucht, das hier draußen sein soll. Bin wohl eine Station zu weit gefahren.“
Ohne sich weiter zu unterhalten, stiegen beide in die angekommene Bahn.

Die Dozentin sprach ein seltsames Englisch. An jedes Wort, das auf einem weichen, beziehungsweise weich auszusprechenden Konsonanten endete, hängte sie ein „E“.
„Competent speaker-se know the soun-de of their language, an-de how to combine it.”
Er hatte sich in die hinterste Reihe gesetzt, die Plätze links und rechts neben ihm waren frei geblieben. Der Junge ganz links an der Wand hatte aufgehört mitzuschreiben. Er tat es ihm gleich. Stattdessen begann er die Dozentin zu zeichnen. Auf seinem Bild hatte sie links ein Ziegenbein. Als er wieder hoch sah humpelte sie gerade vom Polylux zur Tafel.

Das Licht des Kopierers wanderte über sein Gesicht. Erst von rechts nach links, dann wieder zurück. Er schaute auf die Anzeige des Apparates, in den er seine Kopierkarte hineingesteckt hatte. Auf dem Display wurden aus den angezeigten fünf Euro, vier Euro und sechsundneunzig Cent.
„Brauchst du noch lange?“ fragte das Mädchen das in der Tür stand.
„Nein, bin gleich fertig.“
Er mühte sich merklich seinen Dialekt zu verbergen. Sie lächelte kurz.

„Hast du was gemacht?“ fragte er seinen Banknachbarn. Der Kurs war völlig überfüllt. Notgedrungen hatten sie sich in die erste Reihe setzen müssen.
„Nee… Wir waren gestern lange weg. Ich hatte auch keinen Bock.“
„Macht ihr heute Abend was?“
„Weiß nich.“
Es war Dienstag. In zwei Tagen würde er endlich wieder nach Hause fahren können.

Er lief durch die Fußgängerzone. Es war Spätherbst und klirrend kalt. Er hatte seine Stirn in Falten gezogen und betrachtete seine Umgebung mit Argwohn. Sein Mp3-Player spielte gerade „Here, There and Everywhere“ von den Beatles.
„To lead a better life, I need my love to be here”, begann John Lennon zu singen. Er blieb kurz stehen, atmete tief durch und setzte seinen Weg daraufhin fort. Verfluchtes „Yellow Submarine“, dachte er zähneknirschend, als das nächste Lied einsetzte. Er griff zu seinem Mp3-Player und skippte ein Lied zurück.

Seine Mitbewohner stritten schon wieder, nur diesmal lauter. Er saß im Bett, den Rücken an der Wand, welche die beiden Zimmer voneinander trennte. Er schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile schon nach vier. Die Schleife in der die „Sexy Sport Clips“ abliefen, war inzwischen wieder am Anfang angelangt. Die Dame auf dem Bildschirm entkleidete sich, während ihr kleine, ferngesteuerte Autos durch die gespreizten Beine fuhren. So sehr er auch versuchte den Bewegungen der Stripperin etwas Erotisches abzugewinnen, er fand nichts.
Er ballte die Faust und schlug kräftig gegen die Wand hinter ihm. Kurz herrschte Stille.

Mit düsterer Miene stieg er in die Straßenbahn. Er setzte sich auf den erstbesten Platz. Kurz darauf gähnte er, was die Falten zwischen seinen Augen nur noch intensiver wirken ließ. Seine Arme hatte er auf seine Oberschenkel gestützt, seine Hände hingen zwischen den Beinen. Er schaute durch die Bahn, schaute sich die Gesichter der Leute an. Ein kleines Mädchen starrte ihn an und er blieb mit seinem Blick an ihr hängen. Sie schmunzelte. Für einen kurzen Moment verflog die Verspannung in seinem Gesicht. Er grinste zurück.

Sein Banknachbar schien das Angebot, ihm die Hand zu schütteln, nur widerwillig anzunehmen.
„Na, haste was je… ähh, geeemacht?“
„Ein bisschen“, erwiderte der Banknachbar.
„Und, heut schon was vor?“
„Mal sehn…“
Es entstand eine kurze Pause in ihrem Gespräch, in der es beide vermieden sich anzusehen.
„Soll ich dich anrufen, falls wir was machen?“
„Klar!“ antwortete er und gab ihm seine Telefonnummer. Als der Kurs vorbei war und er den Raum verließ, sah er den jungen Mann, welchen er damals an der Straßenbahnhaltestelle getroffen hatte. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte dieser und hob die Hand. Er erwiderte den Gruß.

Am Abend saß er an seinem Schreibtisch und füllte ein Formular aus. Es war ein Umzugsantrag. Er zögerte beim Ausfüllen der Spalte „Gewünschtes Wohnheim“. Nach kurzem Überlegen schrieb er das Wort „zentrumsnah“ auf die dafür vorgesehene Linie.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
„Wir machen heute nichts mehr, aber dafür wollen wir am Freitag einen trinken. Haste Lust vorbeizukommen?“
„Klar“, antwortete er.

 

Hat mir wirklich gut gefallen deine Geschichte! Vorallem hat sie mich an manchen Stellen an meine ersten Tage an der Uni erinnert - winziges Zimmer, zu blöd einen Kopierer zu bedienen, 'need my love to be here' und scheinbar studierst du auch Anglistik :thumbsup:

Nur fand ich es schade, dass sie so vom Grundton her so melancholisch geschrieben ist - er ist doch nicht zur Bundeswehr gegangen..

 

Versprochen ist versprochen.

So, es wird keine Gefälligkeitskritik geben, damit das schon mal klar ist!

Also, ich finde deine Geschichte ... ja, ziemlich gut. Ein wenig lakonisch, zurückgenommen, stilistisch in Ordnung und mit kurzen Beschreibung sehr deutlich Atmosphäre und Stimmungen erzeugend. Das Gefühl, irgendwo neu zu sein, sich einleben zu müssen, mehr oder weniger zaghaft die ersten Kontakte zu knüpfen, sich zu orientieren, ANZUKOMMEN, das kenne ich ziemlich gut, und habe mich durch deine Schilderung sofort daran erinnert.

Ich finde es immer klasse, wenn durch die Erzählung eines anderen Menschen plötzlich eigene Erinnerungen angestoßen werden.

Es gibt nichts zu meckern, die Geschichte ist unterhaltsam geschrieben. Und das meine ich ehrlich!

Grüße von Rick

 

Hallo,

hier meine Meinung:

Inhalt:
Der Protagonist erzählt in kurzen Szenen, wie er sich in seiner neuen Umgebung als Student einrichtet, wie die Dozentin ist, wie er versucht mit Kommilitonen ins Gespräch zu kommen. Er fühlt sich nicht wohl, weil sämtliche Versuche, heimisch zu werden, fehlschlagen. Am Ende gibt es doch noch einmal Hoffnung, als sich einer der Bekannten meldet.

Aus meiner Sicht ist dieser Tagebuchstil zu abgehakt. Du beschreibst die Szenerie und auch wirklich nur die Szenerie und entweder schafft man es, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, weil es einem evtl. ähnlich ging. Oder man sagt sich eben: Naja selber Schuld, wenn er so offensiv auf die Leute zugeht und denkt, es klappt, wenn man nur lächelt.

Ich gehöre wohl zu den letzteren. Ich lese mir das so durch und frage mich, ob der Protagonist wirklich Probleme hat, Konflikte auslebt oder ob er einfach mies drauf ist, weil es am Anfang nicht klappt.
D.h. Du gehst stark von einem Vorwissen Deiner Leser aus und versuchst erst gar nicht, Deinen Protagonisten näher zu zeichnen. Du beschreibst zwar, was er macht, aber mir kommt er dadurch nicht näher.
Es gibt wohl diesen Stil z.B. bei Carver, dass man ausschließlich durch das puristische Beschreiben von Handlungen zu einer Figur kommt, aber hierfür muß man sich dann mehr Zeit nehmen. Oftmals ist es dann ein ganz kurzer Ausschnitt aus dem Leben des Prot. der diesen einfach charakterisiert (ein Gespräch, ein Abend etc.) Durch die Sprache, durch die Dinge, die eine Figur in Gang setzt und dann wird es auch spannend.
Also für die derzeit gewälte Erzählweise ist die Geschichte zu schnell. Wenn Du allerdings die Gefühle und Gedanken Deines Prots. reinbringen würdest, könnte man auch hier einen Ansatz finden.
Ich kann nachvollziehen, warum Du die Personale Erzählweise gewählt hast. Denn das meiste wird aus der Sicht des Protagonisten geschildert und wir bekommen nichts mit von den Zusammenhängen. Es geht ja auch um die etwas enge Sicht des Prot. der sich das Leben evtl. schwärzer malt, als es ist. Aber teilweise klappt es eben nicht.
z.B. Er geht einfach auf den Fremden an der Haltestelle zu
Warum? Evtl. weil man das dort, wo er herkommt so macht.
Das wird nicht erzählt. Es wird nicht erzählt, was der andere fühlt, als ihn plötzlich ein Fremder anspricht. Man muß ahnen, dass Dein Erzähler ihn als Verbündeten gewinnen will und da das nicht ganz klar ist, verpufft die Spannung dieser Szene. Ich kann dem nicht folgen, ich schaue zu und wundere mich, wie der Typ an der Haltestelle. Ich glaube, nicht, daß Du das erreichen wolltest.
Dann wirst Du aber teilweise auktorial und stellst Deinen Prot. von außen dar

Das Licht des Kopierers wanderte über sein Gesicht. Erst von rechts nach links, dann wieder zurück.

Kurz darauf gähnte er, was die Falten zwischen seinen Augen nur noch intensiver wirken ließ.


Aus meiner Sicht solltest Du als Ich-Erzähler diese Episoden erzählen und hierbei auch einflechten, was der Prot. denkt und fühlt. So wird man als Leser besser mitgenommen, ist näher dran am Geschehen, als einem Fremden dabei zu erleben, wie versucht, mit anderen Fremden Kontakt aufzunehmen.

Etwas fehlt mir auch die andere Seite der Medaille. Man bemerkt Dein Bemühen um einen einfachen Aufbau. Am Anfang nur negative Erlebnisse und dann der Moment, wo sich langsam alles einränkt mit dem erlösenden Anruf am Ende. Das kann man durchaus auch ein wenig auflockern mit falschen Hoffnungen und Enttäuschungen, so daß es auch spannend wird.

Derzeit wirkt es wohl eher wie ein Film mit Episoden, die chronologisch geordnet auftauchen, dann wird abgeblendet und neue Szene und man merkt nicht ganz, wie sich Dein Prot. entwickelt. Verliert er immer mehr die Hoffnung oder hatte er sie nie und bleibt auf dem selben Niveau? Vielleicht willst Du dies ja durch die Beschreibung des Gesichtausdruckes erreichen. Nach dem Motto: Am Anfang geht er noch lächelnd und naiv auf die Leute zu, später sitzt er auch mürrisch in der Bahn und kurz bevor er zum „bösen Mann“ wird, rettet ihn ein kleines Mädchen den Tag.
Ich glaube, hier könnte man auch ansetzen, die Psychologie vielschichtiger darzustellen. Aus meiner Sicht wird es automatisch besser, wenn wir näher an den Prot. heranrutschen und Du aus dessen Perspektive schilderst und dann erfahren wir eben, was er denkt, was er sich wünscht, worauf er hofft und was ihn ankotzt. Das muß man nicht beschreiben, es reicht, wenn man die Welt durch die Augen des Prot. betrachtet.

Fazit:
Für ein Storyboard eines Kurzfilms „Der Erstsemestler“ ganz okay, die Möglichkeiten einer Kurzgeschichte schöpfst Du hier noch nicht aus.

Gruß
mac

 

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