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Dorian
Weltstadt München. Viel habe ich bisher nicht davon gesehen. Aber wenn sie mich nehmen, werde ich mich ohnehin daran gewöhnen müssen, in die tollsten Städte zu reisen und lediglich den Flughafen und irgendein teures Hotel besichtigen zu dürfen. Grundsätzlich gilt: Der Beruf des Beraters ist kein nine-to-five Job. Das stand in den FAQs. In irgendeinem BWLer-Forum fand ich eine Übersetzung: Zwölf- bis Vierzehn-Stunden-Tag, Wochenendarbeit ist eher Regel als Ausnahme. Dann kam meistens ein Hinweis darauf, dass dementsprechend aber auch die Bezahlung ausfalle, und dann ein zwinkernder Smiley ;-) .
Vor dem im Sonnenlicht flimmernden Glastempel bleibe ich einen Moment stehen und sehe mir die giftgrünen Buchstaben an, die ich bisher nur von der Homepage und der im krankhaft seriösen Geschäftsbriefstil verfassten Einladung zum Recruiting Day kannte. Dorian Management Consulting. In Boston gegründet, mittlerweile in der Welt zu Hause. In der Lobby tummeln sich ungefähr dreißig Leute zwischen fünfundzwanzig und nicht allzu viel älter, alle im dunklen Anzug, ein Ölfleck, der darauf wartet, einen weiteren Tropfen zu assimilieren. Ein Glatzkopf um die fünfzig im azurblauen Dreiteiler schießt an mir vorbei, schlägt mir auf die Schulter, so dass ich zusammenzucke, und schreit mir lachend ins Gesicht: „Auf auf, junger Freund, beißt Ihnen schon keiner den Kopf ab. Wer nicht kämpft, kann nur verlieren!“
Er ist ein Gentleman, hält mir die Tür auf und ermutigt mich mit einem emotionslosen Geschäftslächeln, ihm ins Innere zu folgen. Mich der Prüfung zu stellen. Bin ich wirklich einer der Besten? Bin ich wirtschaftlich verwertbar? Oder gesellschaftlicher Ausschuss? Will ich das wissen? Warum bin ich überhaupt noch mal hier?
Ich betrete die Halle und meine Schuhe machen Geräusche auf dem Marmorboden. Klack-Klack, Klack-Klack. Ich kann nicht aufhören, mich darauf zu konzentrieren, nachdem ich zwanzig Jahre lang Turnschuhe getragen habe. Der Glatzkopf legt seine Hand auf meinen Rücken und führt mich an die High Potentials heran, deren Blicke sich abschätzend von meinen Schuhen über meine Krawatte zu meinem Gesicht hocharbeiten. Zwei Frauen sind dabei. Eine zieht eine Augenbraue hoch, als sie mich sieht, die andere schenkt mir ein ehrliches Lächeln, ein „Wenn es sich irgendwie mal ergeben sollte können wir gerne zusammen Sex haben“ –Lächeln.
Die Herren der Schöpfung haben ihre Rücken durchgestreckt, die Brust raus, die Hände halten Gläser mit Wasser und Orangensaft oder sind auf dem Rücken verschränkt. Niemand hat sie in den Taschen. Erschrocken reiße ich meine aus der Hose und hoffe gegen besseres Wissen, dass es keiner mitbekommen hat. Die Augenbrauenhochzieherin lacht auf, so wie Sonja Hellmann in der achten Klasse aufgelacht hat, als ich im Sportunterricht beim Hundert-Meter-Lauf gleich beim Start über meine Schnürsenkel gestolpert bin. Der Glatzkopf knufft mich noch mal in die Seite und verschwindet dann in einem Fahrstuhl, der so eingerichtet ist, dass er mit Sofa und Sessel als Wohnzimmer verwendet werden könnte.
„Sind Sie Herr Thienelt?“
Neben mir steht eine wunderschöne Frau, deren blaue Augen mich unter einer schwarzen Designer-Hornbrille intelligent anfunkeln.
„Äh, ja, ja. Also Herr Thienelt, genau, das bin ich.“
Die Augenbrauenhochzieherin flüstert dem Typen, der bei ihr steht, etwas zu, das klingt wie „Um Gottes Willen“. Die Designerbrille macht eine Notiz auf ihrem Block und sagt: „Dann sind wir jetzt vollzählig. Es dauert noch ein bisschen, bis es losgeht. Nehmen Sie sich was zu trinken und lernen Sie einige Ihrer eventuellen Kolleginnen und Kollegen kennen.“
Sie lächelt noch einmal etwas breiter und verschwindet wieder hinter ihrem Tresen am Empfang.
Wie sympathisch sie das Wort „Mitbewerber“ umschifft hat. Eventuelle Kollegen. Aber bei Dorian sucht man ja auch Karrierewillige, die souverän genug sind, ohne Ellbogen auszukommen. Jedenfalls stand das so auf der Bewerber-Website. Ich fixiere für einen Moment die Augenbrauenhochzieherin und frage mich, wie die Chancen einer Armee stehen, die im Krieg mit Platzpatronen schießt. Das Mädchen mit dem Sex-Angebots-Lächeln findet wieder meinen Blick. Ich lächle zurück, nehme mir einen Orangensaft und beschließe, mich mit einem Flirt von meinem flauen Magen abzulenken.
Weit komme ich nicht. Michael Friedmann stellt sich mir in den Weg und streckt mir seine Hand entgegen. Die andere fährt vorsichtig durch das mafiös zurück gegelte Haar.
„Klaus Powert“, stellt Friedmann sich vor.
Ich nehme die Hand, sage „Mark Thienelt“ und schiele über Friedmanns Schulter in Richtung Sex-Lächeln. Sie zuckt mit den Schultern.
„Ja ...“, sage ich auf der Suche nach einem Wort, mit dem ich Friedmann durch die Blume sagen kann, dass ich mich eigentlich mit jemand anderem unterhalten möchte.
„Ich weiß, was du sagen willst.“
Erwischt.
„Ich meine, ich hör’s nicht zum ersten Mal.“
Armes Würstchen.
„Ich seh’ aus wie“, er hält sich ein Nasenloch zu und macht mit dem anderen ein Sauggeräusch, „die alte Schneenase.“
„Jetzt wo du’s sagst.“ Ich nicke.
„Harvard?“
„Was?“
„Hast du `n MBA in Harvard gemacht? Harvard Business School? Könnte ich drauf wetten. So was seh’ ich den Leuten immer an.“
„Nein.“
Enttäuscht nehme ich zur Kenntnis, wie Sex-Lächeln sich einem strohblonden Muskelpaket mit beginnender Glatze zuwendet.
„Ich hab’ ganz ordinär in Deutschland studiert. In Bielefeld.“
Friedmann pfeift anerkennend.
„Da ist die BWL doch so extrem mathelastig? Aber deshalb ja auch recht anerkannt, also abgesehen von der Scheiß-Stadt-“
„Ich bin kein Wiwi.“
„Aaaaahh ... Exot. Cool. Ich ja auch. Naturwissenschaftler? Physiker, oder? Könnte ich drauf wetten.“
Klaus-Michael, wenn du jemals eine Pferderennbahn betrittst, wirst du sie nackt wie Gott dich schuf wieder verlassen.
„Ich habe Philosophie und Kunstgeschichte studiert.“
„So siehst du auch aus“, höre ich Augenbrauenhochzieherin flüstern. Friedmann macht ein überraschtes Gesicht, so als würde sich gerade ein Einlauf kühl durch seine Därme spülen.
„So’n Exot! Ein richtiger, echter Exot! Geisteswissenschaftler! Das ist cool. Manche sagen, diese ‚Wir nehmen alle Fachrichtungen solange der Abschluss super ist’ –Politik der größeren Unternehmensberatungen sei Quatsch, aber die haben keine Ahnung. Geisteswissenschaftler können so viel ... die können immer so gut ...“
„Labern?“
„Zum Beispiel finden Sie fast immer die richtigen Worte, ja.“
Friedmann beugt sich konspirativ zu mir rüber und flüstert: „Mach’ dich bei den Affen hier bloß nicht klein mit deinem Abschluss. Wenn du Schwäche zeigst, fressen sie dich auf. Das hier ist ’n Haifischbecken. Schlimmer als Haie. Kalmare. Hab’ ich mal im Discovery-Channel gesehen. Die haben kleine Krallen in den Saugnäpfen an ihren Fangarmen. Damit umwickeln sie alles, was sich im Wasser bewegt, und dann ... SLASH!“
Die Gespräche verstummen für eine Sekunde. Friedmann schielt mit weit aufgerissenen Augen von links nach rechts. Als er weiterredet, hat er seine Stimme wieder gedämpft. Seine Augen schreien weiter.
„Dann schwimmen zerfetzte Fleischstücke im Wasser und die stopfen sie sich dann in den Schnabel. Mann, Freude schöner Götterfunken, so ’n Quatsch, die Natur ist ein Monster!“
Er streicht sich mit Mittel- und Zeigefinger über die Lippen. In Gedanken scheint er an einer Zigarette zu ziehen.
„Nervös?“, frage ich.
„Merkt man das?“
„Bisschen schon.“
„Dabei ist das nicht mal mein erster Recruiting Day. Eigentlich sollte ich entspannt sein, weil ich ja mehr oder weniger weiß, was auf mich zukommt. Wie sieht’s bei dir aus? Warum bist du überhaupt hier? Gutes Examen ist ja klar, aber als Geisteswissenschaftler musst du doch mit irgendwas Besonderem punkten können?“
„Ich hab’ den Mathe-Leistungskurs mit eins abgeschlossen und vor dem Studium ’ne Ausbildung als Bankkaufmann gemacht. Ein Semester weniger als Regelstudienzeit gebraucht, zwischendurch Stipendium für ein Halbjahrespraktikum im Guggenheim-Museum ...“
„Wow, du bist also ’n richtig toller Stecher ganz ohne BWL?“
Ich lächle. „Yep. Ich bin der Geilste.“
Friedmann lacht.
„Philosophie und Kunstgeschichte ... Warum hast du davor die Ausbildung gemacht?“
„Für meine Eltern.“
Der Mund Friedmanns wird zu einem dünnen Schlitz und er nickt ein durch und durch ehrliches Nicken. Er weiß genau, wovon ich rede.
„Wie war’s?“
„Zum Kotzen. Da war mal ein Rentner, der fing am Schalter vor mir an zu heulen, weil halt Ebbe auf dem Konto war.“
„Ein Monster.“
„Was?“
„Die Welt.“
„Oh.“ Ich nicke. „Ja. Was hast du studiert?“
„Jura. Ich wollte schon mit sechzehn Anwalt werden. Damals habe ich Rage against the machine gehört und davon geträumt, vor Gericht für die Rechte von ausgebeuteten mexikanischen Kleinbauern zu streiten.“
Friedmann zuckt mit den Schultern.
„Und jetzt bin ich hier. Man wird halt älter. Ich kiffe auch nicht mehr so viel.“
Designerbrille kommt auf ihren Stöckelschuhen angeklackert, säuselt durch ihre blendend weißen Zähne ein paar Namen, Stockwerke und weitere Namen, die auf Schildern an Büros in den Stockwerken zu finden sind.
„Jetzt geht’s los.“ Friedmann reibt sich die Hände. „Die Stunde der Wahrheit. Schon wieder. Ich glaub’, wenn’s diesmal nicht klappt, schlage ich mir die Unternehmensberatungen erst mal aus dem Kopf. Was machst du, wenn du nicht genommen wirst?“
Ich trinke meinen Orangensaft in einem Zug leer, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen. Wenn ich nicht genommen werde? Steht das überhaupt zur Debatte? Nach dem Leuchten in den Augen meines Vaters, als er hörte, dass ich nach vier qualvollen Jahren eines ziellosen Verlegenheitsstudiums wieder zur Vernunft gekommen war und nun versuchte, in der freien Wirtschaft Fuß zu fassen, diesem Wunderland mit den teuren Firmenwagen und den dunkelblauen Krawatten, gestreift immer von links unten nach rechts oben, so dass der Betrachter sich unterbewusst an die Kurve einer erfolgreichen Aktie erinnert fühlt? Seinem Stolz auf den verlorenen Sohn, der als Unternehmensberater-Aspirant zurückgekehrt war aus der brotlosen Unterwelt der Kinnbart tragenden Literaturcafé-Besetzer? Seinem Lächeln, als ich ihm von Dorian erzählte, diesem Moment des Glücks, in dem er tatsächlich den Krebs vergessen zu haben schien, der seit sechs Monaten seine Eingeweide in einen Haufen Matsch verwandelt?
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich hab’ noch ’n paar Bewerbungen in die Richtung laufen“, sage ich. „Natürlich auch schon ’n Arsch voll Absagen kassiert. Nächste Woche bin ich zum Vorstellungsgespräch bei ... in Köln. Die Deutschen. Hermann Fender Strategy Consultants.“
„Da war ich auch schon“, sagt Friedmann. „Nett. Auch aufgeblasen, aber das gehört ja dazu. Insgesamt nicht ganz so künstlich“, er beugt sich zu mir rüber und flüstert wieder, „wie hier.“
„Was machst du bei einer Absage?“, frage ich.
Jetzt zucken Friedmanns Schultern. Dann grinst er.
„Ich hätte Bock, mal wieder richtig einen zu rauchen. Eimer oder so. Das man das Gefühl hat, die Lungen würden platzen.“
Er sieht an mir vorbei ins Leere.
„Vielleicht mach ich ’n Trip, um mal den Kopf frei zu bekommen. Mexiko wär’ schön.“
Designerbrille kommt wieder angeklackert und diesmal steht mein Name auf ihrem Block. Ich verabrede mich mit Friedmann für später auf ein vom Ausgang unserer Vorstellungsgespräche unabhängiges Bier.
Im Fahrstuhl gehe ich noch einmal die BWL-Grundbegriffe und die Fallstudien samt möglicher Lösungen durch, die ich für die heutigen Tag gelernt habe. Die mir die Zeit genommen haben, an meinem Horrorcomic weiterzuarbeiten. Kosten-Nutzen. Break-Even-Analyse. Aktiva und Passiva einer Bilanz. Kreditoren. Investoren.
„Ihr Klient, ein Supermarkt, verzeichnet fallende Gewinne trotz steigenden Umsatzes. Woran liegt das?“
Ich atme tief durch und sage: „Wenn wir von der einfachen Grundformel ausgehen, dass Gewinn gleich Umsatz minus Kosten ist, lässt sich zunächst vermuten, dass das Problem in zu hohen Kosten liegt. Hier wären dann die Kosten im Einzelnen, aufgelistet zum Beispiel nach fixen und variablen und dann weiter ins Detail gehend, zu untersuchen.“
Ein ernstes Gesicht und zustimmendes Nicken auf der anderen Seite des Schreibtischs. Ich glaube, bisher mache ich mich ganz gut.