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Dornröschenschlaf
Die weitläufige und von Schnee bedeckte Wiese des Stadtparks erinnert an ein leeres Blatt Papier. Ohne Wärme und Menschen, die den Platz im Sommer mit guter Laune, Lachen und Musik in Besitz nehmen, scheint er auf kräftigere Sonnenstrahlen zu warten.
Anne würde sich gerne unter die große Eiche vorne am See ins grüne Gras setzen, den Rücken an den Stamm lehnen und mit Blick auf das Wasser und den Gehweg auf Remo warten. Es würde weniger danach aussehen. Ziellos geht sie ein paar Schritte in der Nähe der Brücke umher, die er als Treffpunkt vorgeschlagen hatte.
Sie freut sich auf seine Stimme. Eher leise, aber satt und warm im Ton. Vor Wochen hatte sie sie nur ein paar Sätze lang gehört und doch war der Klang so nah. So nah sein Denken. Soviel Remo. Mails, manche im Zweistundentakt. Hin und her. Er schrieb sich in ihre Träume. Nacht für Nacht.
Er kommt über die Brücke und läuft mit einem Lächeln auf sie zu. Ihr wird ganz mulmig im Magen.
„Darf ich dich umarmen?“ Seine Augen suchen ihre, fragen neugierig.
Als Antwort zieht sie ihn nah an sich heran. Herb steigt ihr sein angenehmes Rasierwasser in die Nase. Ihre Wange fühlt seine warme Schläfe, die Arme schlingen sich um seinen Hals. Schnuppern, fühlen, seine Stimme hören. Seinen Körper spüren, der warme Atem an ihrem Ohr. Sie genießt Remo und wünscht sich, alles würde in diesem Moment in einen Dornröschenschlaf versinken, nur sie würden sich spüren können, hundert Jahre lang. Ihr Miteinander war noch fremd, einzig durch viele tausend Worte zur Sehnsucht erweckt.
„Sollen wir ein paar Schritte gehen, bevor wir richtig anfangen zu frieren?“ durchbricht er ihre Träume und löst sich von ihr.
„Keine schlechte Idee.“
„Ich wollte irgendwie nicht, dass wir uns gleich bei mir treffen. Es wäre so... wie war deine Fahrt?“ fragt er leicht abwesend und sieht sie hilfesuchend an.
Sie verstand. Sein Traum und die Folgen: Sie besuchte ihn überraschend und in der Garderobe zog sie sich nicht nur ihre Jacke aus, sondern alles, was sie an sich trug. Er nahm sie schnell und ohne Rücksicht. Seine Erregung war nach dem Aufwachen keinesfalls verschwunden und er dachte bewusst an sie, als er sich selbst zur Wollust trieb. Sie nahm die Erzählungen immer gelassen hin, obwohl sich beim Lesen ein Widerstand in ihr regte. Augenzwinkernd drohte sie ihm an, ihn mit ihrem Reisigbesen auszupeitschen, falls er nicht selbstloser träumen würde.
„Die drei Stunden im Zug waren so endlos lang. Aber jetzt bin ich ja da.“ Sie sieht ihn vertrauensvoll an. Seine Sommersprossen hat sie gar nicht mehr in Erinnerung. Die blonden Haare sind kürzer. Sie will so gerne mit den Händen über seinen Schopf streicheln, ihn berühren, ihn fühlen.
„Wie geht’s dir jetzt mit mir, wenn ich so nah bei dir bin?“ fragt sie.
„Ich bin total verunsichert. Wir sind in den Mails schon so weit gegangen, aber es sind nur Worte, Anne. Ich habe mich vor unserem Wiedersehen oft gefragt, ob wir da einfach einsteigen können. Aber wir sind uns doch irgendwie fremd, auch wenn wir viel voneinander wissen, verstehst du? Wir kennen uns trotzdem nicht.“
Sie spürt einen Stich in sich, einen Schmerz, der sich ausbreitet und sie schmaler werden lässt. Sie presst ihre Lippen zusammen.
„Anne, du siehst es anders, nicht wahr?“ fragt Remo sie.
„Du hast Recht,“ antwortet sie langsam,“ ich stellte mir vor, dass es einfach so ineinander läuft, wenn wir uns sehen.“
„Lass’ uns doch Zeit“, bittet er sie und nimmt ihre Hände in seine. Die Finger seiner rechten Hand spielen mit ihrem Ring.
„Ein Lapislazuli. Schöner Stein. Der bringt dir sicher Glück.“
Hoffentlich nicht nur mir, denkt sie und gibt ihm einen schnellen Kuss auf die spröden Lippen.
Er zuckt kurz zurück.
„Entschuldige“, stammelt sie.
„Schon gut“, sagt er mit einem unsicheren Lächeln, „ich bin einfach ein Schisshase.“
Sie will sofort zum Bahnhof zurück. Was will sie hier? Es ist alles anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen“, hört sie seine Stimme, die ihr so wohltut, „lass’ uns zu mir gehen. Es ist einfach zu kalt, um hier gemütlich spazierenzugehen. Heute morgen war ich auf dem Markt und habe ein paar leckere Dinge eingekauft. Wir könnten zusammen chinesisch kochen, wenn du magst. Oder wir trinken einfach einen Tee, unterhalten uns kommen uns näher.“
Sie weiß nicht, wann der nächste Zug fahren würde. In ihrer Planung gibt es kein Danach. Sie friert.
„Gut, lass’ uns zu dir gehen“.
Die Garderobe lassen sie schweigend hinter sich.
„Ich stell’ mal Wasser auf.“ Eine dankbare Ablenkung für beide. Anne schaut sich neugierig im Flur um. Er fotografiert tatsächlich gut. Mit Feingefühl hat er Stimmungen verschiedener Jahreszeiten des Sees eingefangen, an dem sie sich noch vor ein paar Minuten trafen.
„Ich mach’ uns einen Schwarztee, den magst du doch?“ Er weiß es.
Im Wohnzimmer noch mehr Fotos. Eine große Pinnwand mit Remo in allen Altersstufen. Die grobkörnige, sehr große Schwarzweißaufnahme mit einem ungefähr Einjährigen, der versucht, einen Schnuller vom Boden aufzunehmen, lässt sie lächeln. Daneben ein Schnappschuss am Strand: Remo als etwa Fünfjähriger, der genüsslich ins Meer pinkelt und sich grinsend zum Fotografen umdreht. Sie lacht auf.
„Worüber lachst du?“, fragt er aus der Küche heraus.
„Über dich.“
„Aha.“
Sie überfliegt mit den Augen die einsortierten CDs und weiß doch schon vorher, welche Musik er hört. Genauso, als sie die Bücher im Regal betrachtet.
„Wo ist deine Katze?“
„Die kann über die Terrassentür raus, vor heute Abend siehst du die nicht.“
Sie ist sich nicht sicher, ob sie sie jemals sehen wird.
Anne wagt sich zu ihm in die Küche.
„Hier in deiner Wohnung könnte man sich wohlfühlen.“
„Fühlst du dich wohl?“
„Nicht richtig.“
Er nimmt sie sachte in den Arm, drückt sie ganz leicht und zieht in ihrem langen, braunen Haar tief die Luft durch die Nase ein.
„Anne, Anne, Anne... “
Was soll das nun bedeuten? Ihr Körper zieht sich zusammen. Abrupt lässt er sie los.
„Verzeih, jetzt war ich der Tölpel.“
Unsicher geht er einen Schritt zurück.
„Du trinkst den Tee mit Milch, nicht wahr?“ fragt er und fängt übertrieben geschäftig an, im Kühlschrank hin- und herzuräumen.
„Mist, so was Blödes“, wettert er, als ihm ein schon geöffnetes Päckchen Frischkäse aus dem Kühlschrank auf die Schuhe fällt.
Sie konnte nicht anders als laut zu lachen.
„Du lachst mich aus?“ fragt er spielend entrüstet und packt sie an den Armen. Sie lacht weiter, Tränen suchen sich einen Weg über die Wangen. Er hält sie fest und bietet ihr seinen Mund an. Sie berührt lachend seine Lippen mit vielen kleinen Küssen. Ihre Körper prallen wie Magnete aneinander und bleiben eins. Die Arme schlingen sich um den anderen, ihre Zungen begrüßen sich hungrig und suchen wie alles andere an ihrem Körper die Vertrautheit, die es bisher nur in Gedanken gibt. Der Quark unter ihren Füßen wird immer breiter getreten.
Verzweifelt und ungeduldig ziehen sie sich ihre Jeans und Unterhosen aus. Anne tritt mit ihren Socken in den weißen Matsch und lacht kurz fast hysterisch auf. Remo hebt sie auf die Anrichte, auf der sie einladend ihre Schenkel weit auseinanderspreizt. Sie zieht bestimmend seinen Kopf in ihren Schoß.
„Ich brauch’ noch, komm, komm ganz nah mit deinem Mund... “ Er würde so gerne ihre Muschi liebkosen, in einem ihrer Träume, lange, zart oder fest, so, wie sie es ihm sagen würde. Er beherrscht das Zungenspiel, das weiß sie doch.
„Sorry, Anne, ich finds anders jetzt grade geiler. Ich will kein großes Vorgeplänkel.“
Ohne weitere Worte zieht er mit seinen Händen ihren Po so nah an sich heran, dass er in sie eindringen kann. Seine Stöße sind kurz, hart und von lautem Stöhnen begleitet. Er scheint sie nicht mehr wahrzunehmen. Anne ist wie versteinert. Weder kann sie sich wehren noch schreien.
Er ist so fern. Wäre sie nur in einem Dornröschenschlaf, würde träumen und könnte ohne Erinnerung aufwachen.
Sie sieht Remo verständnislos ins Gesicht, als er jaulend in ihr zum Orgasmus kommt.
Der Duft seines Rasierwassers lässt sie würgen.
Du Ekel, ist ihr einziger Gedanke und sie wünscht sich, endlich aus ihrer Starre zu kommen.
Wortlos zieht er sich ohne Blicke zurück, verlässt die Küche und verschwindet im Flur.
Neben ihr kocht das Teewasser. Kurz überlegt sie, ob sie es ihm hinterher schütten soll. Aber woher soll sie die Kraft nehmen? Mit angezogenen, zugeklemmten Beinen bleibt sie auf der Anrichte liegen. Kühle kommt von der Arbeitsplatte über ihre Haut in sie hinein. Sie spürt wieder.
Lange stiert sie auf die gegenüberliegende Wand. Noch mehr Fotos. Remo mit einer Blondine im Arm.
„Na, hat er mit dir auch seine Träume ausgelebt?“ fragt sie die vom Foto lächelnde Frau bitter.
Langsam zieht sich Anne an. Die nassen Socken und verschmierten Schuhe nimmt sie kaum wahr. In der Ecke entdeckt sie einen Mülleimer. Sie streift ihren Ring ab und schmettert ihn mit Wucht in den Eimer hinein.
„Soll er dir doch Unglück bringen.“
Mit einem lauten Knall wirft sie die Wohnungstür ins Schloss.
Wörterbörse: peitschen – Schnuller – chinesisch – Quark - Lapislazuli