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Dorothy
Ich weiß nicht genau, wann Dorothy aufhörte meine Freundin zu sein und damit begann, zu meiner schlimmsten Feindin zu werden. Wir waren jung.
Heute bin ich erwachsen, das alles liegt zwanzig Jahre zurück, aber oft schleicht Dorothy sich nachts in meine Träume, wendet mir ihr Gesicht zu und schaut mich an. Schaut mich einfach nur an.
Es geschah in einem Sommer irgenswann Ende der achtziger. Dorothy und ich waren beide gerade zwölf geworden. Wir waren schon seit dem Kindergarten die besten Freundinnen. Sie wohnte im Haus neben mir. Ständig war sie bei mir und meiner Mutter. Wir hatten beide keinen Vater mehr. Meiner war abgehauen, ihrer war schon lange tot. Dorothy liebte meine Mutter. Vielleicht ganz besonders deshalb, weil sie von ihrer eigenen nicht viel Liebe bekam. Dorothys Mutter war immer schlecht gelaunt. Sie arbeitete ständig und trotzdem war das Geld immer knapp. Für ihre Tochter interessierte sie sich kaum. Bei uns war das anders. Meine Mutter hatte einen gut bezahlten Job und gute Laune gehörte einfach zu ihrer Natur.
Dorothy hat mich ständig um meine Mutter beneidet. "Ich wünschte meine Mutter wäre wie deine", sagte sie oft. Ich wusste nie was ich darauf antworten sollte.
Doch eines Tages tat Dorothy etwas, dass meine Mutter so dermaßen in Rage brachte, dass sie mir den Umgang mit ihr verbot. Dorothy klaute eine Kette, die meiner Mutter sehr viel bedeutete, weil mein Vater sie ihr einst geschenkt hatte. Meine Mutter fand es heraus. Ich war sehr wütend auf Dorothy, nicht nur weil sie geklaut hatte, sondern auch, weil sie genau gewusst hatte, wie viel diese Kette meiner Mutter bedeutete. So etwas war bis dahin noch nie vorgekommen. Von da an sprach ich kein Wort mehr mit ihr. Wenn sie anrief legte ich auf. In der Schule ignorierte ich sie.
Das alles muss für Dorothy und ihre sowieso schon immer angeschlagene Psyche zu viel gewesen sein. Damals war mir nicht klar, wie weh ich ihr tat. Heute weiß ich es.
Es war der letzte Tag im August, als Dorothy abends vor unserer Tür stand. Ich öffnete. "Was willst du?", fragte ich sie wütend. "Reden", sagte sie und dann drängte sie sich einfach an mir vorbei ins Haus. Als ob es ihres wäre. Mein Mutter kam in den Flur gelaufen. "Raus hier Dorothy! Ich habe dir gesagt, dass ich dich hier nicht mehr sehen will!", schrie sie. Dorothys Miene blieb versteinert. Ich bemerkte, wie mich ein ungutes Gefühl beschlich. "Dorothy, bitte geh. Du machst alles nur noch schlimmer", sagte ich. "Vergiss es. Ich habe ein Messer", sagte sie. Und da holte sie aus ihrer Tasche ein Messer. Meine Mutter wurde blass. "Dorothy, ich warne dich. Weg mit dem Messer, oder ich hole die Polizei", sagte sie mit zitternder Stimme. Dorothy lachte. Dann machte sie einen Schritt auf meine Mutter zu und hielt ihr das Messer an den Hals. "Nein!", schrie ich. Meine Mutter stand gegen die Wand gedrängt da, sie konnte nicht entkommen. Dorothy hatte sie am Arm gepackt. Für ihre zwölf Jahre war sie schon sehr groß und stark. "Ihr geht jetzt beide die Treppe hoch in dein Zimmer", sagte sie zu mir gewandt. Dorothy schien mir wie in einem Wahn zu sein. Ich musste vorangehen, während Dorothy, immer noch das Messer am Hals meiner Mutter, mir folgte. ich hatte Angst wie noch nie zuvor in meinem Leben.
In meinem Zimmer angekommen musste ich mich aufs Bett setzen. Dorothy blieb mit meiner Mutter stehen. Meine Mutter weinte lautlos. "Ich werde nun deine Mutter töten", sagte Dorothy. "Nein!", brüllte ich und sprang auf. Ich wollte mich auf sie stürzen , doch da war es zu spät. Dorothy schnitt ihr die kehle durch. Ich blieb stehen. Erstarrt vor Schreck, während sich der Teppich zu Füßen meiner Mutter blutrot färbte. Und dann fiel ich in Ohnmacht.
Als ich erwachte, lag die Leiche meiner Mutter quer über mir und Dorothy starrte auf mich herab. Sie wirkte abwesend. "Was habe ich getan?", fragte sie mich. Ich konnte nicht antworten. Ich stand unter Schock. Ich schaffte es, mich unter der Leiche hervor zu winden und stand auf. Ich zitterte und weinte. "Du Mörderin!", schrie ich. Und da schien Dorothy aus ihrem Wahn zu erwachen. Sie sagte kein Wort mehr, sondern ging zu meinem Fenster. Sie öffnete es. "Ich wollte, dass du das verlierst, was dir auf der Welt am meisten bedeutet. Es tut mir leid", weinte sie. Und dann sprang sie aus dem Fenster. Das war das Ende von Dorothy.
Was danach geschah ist nur noch eine verschwommene Erinnerung irgendwo in meinem Kopf. Irgendjemand hatte wohl unser Geschrei gehört und die Polizei gerufen. Diese kam auch und fand mich neben der Leiche meiner Mutter in einer Pfütze aus Blut liegend. Erneut ohnmächtig. Es gab eine ganze Reihe von Befragungen, bis die Polizei endlich die ganze Geschichte aus mir heraus hatte. Natürlich glaubte mir zuerst keiner. Aber nach einigen polizeilichen und gerichtsmedizinischen Untersuchungen konnte keiner mehr leugnen, dass Dorothy erst meine Mutter und dann sich selbst umgebracht hatte.
Ich wuchs danach bei meinen Großeltern auf.
Manchmal wenn ich durch meinen heutigen Wohnort laufe habe ich das Gefühl, dass Dorothy mich beobachtet. Von dort oben aus dem Himmel. Oder von da unten aus der Hölle?