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Dreh dich kurz um
Dreh dich kurz um
Man kann es fast riechen und es auf jeden Fall schmecken. Es brennt auf der Haut, es kribbelt im Magen. Am schlimmsten aber ist es im Kopf. Genau da, wo es entsteht. Dort, wo sie es erwartet haben. Es gewusst haben. Alle, außer mir natürlich. Die monotonen Bilder werden zu Filmen und diese wiederum zum berühmten großen Alptraumkino. Hollywood selbst hätte es nicht besser machen können. Der gute, alte!
„Dreh dich nicht um!“ Warnung oder Drohung? Ich weiß es nicht mehr. Irgendwann hört man auf zu vertrauen. Erst den anderen und dann sich selbst. Sexy ist das bestimmt nicht.
„Ich sagte, dreh dich nicht um!“ Ich war noch ein kleiner Junge, als ich diese alte Frau sah. Merkwürdig seltsam erschien sie mir. Ich glaub´ sogar, ich hatte Angst vor ihr. Sie hüllte sich in blauen Dunst, aber nicht um sich zu verstecken. Soviel wusste ich damals schon. Es war kein teures Café, einfach möbliert und niedrige Decken. Ich saß mit meinen Eltern zwei Tische weiter und Vater bestelle Cola für mich. Es muss ein besonderes Datum gewesen sein, vielleicht mein Geburtstag.
„Diese Verdammten! Diese Verdammten!“ Keine Kraft mehr zu schreien, tränenlos.
Die alte Frau sah mir direkt in die Augen. Sie schien keine Notiz von den anderen Gästen zu nehmen. Auch hier verbarg sich die Mathematik der gegenseitigen Gesetzgebung. Ihr Blick war weder freundlich noch böse aber auf gar keinen Fall inhaltsleer oder fremd. Ich konnte dem einfach nicht standhalten und rutschte, immer nervöser werdend, auf meinem Stuhl hin und her. Ich konnte es doch keinem sagen, schon gar nicht meinen Eltern. Die hatten mich eh nie verstanden. Aber das war nicht schlimm, denn das habe ich ja auch nicht!
„Nagelt ihn fest, fangt mit den Händen an!“ Während sie mich fixierte schien die alte Frau etwas zu murmeln. Immerhin bewegte sie die Lippen. Ich stand von meinem Platz auf und schmiss den Tisch um. Ich trat gegen meinem Stuhl, bis dieser zerbrach. Ich war doch kein kleiner Junge mehr, ich war ein Mann. Meine Eltern waren gar nicht dort, sondern meine Frau, aber seit wann war ich verheiratet? Nein, ich träumte nicht. Hieraus gab es kein Erwachen.
„Und jetzt die Füße, los Beeilung!“ Ich schlug wie wild um mich, weil ich beruhigt werden wollte. Meiner Frau war mein Ausraster wohl sehr peinlich, denn sie schaffte es nicht ihre Augen vom staubigen Boden der französischen Eckkneipe zu lösen. Ich brüllte sie an, wollte erfahren, warum ich. Unwissend, das es keine Antwort gab, niemals mehr.
„Ich bin es nicht! Ich wollte es auch nie sein! Warum hört ihr mir nicht zu?“- Das alles schrie doch direkt nach Verrat.
Die Madame wurde mit jedem Schritt, den sie auf mich zu ging schöner- aber nicht jünger. Ihre Arme suchten die Straße zu meiner Stirn, obwohl ich doch gar nicht berührt werden wollte. Ich wollte mich viel lieber verstecken, in der kleinen Nische an der Ecke, die ein bisschen so aussah wie ein Himmelbett.
„Er ist es auf jeden Fall! Der Kuss war der Beweis, also hört nicht auf sein Geschwätz!“
Ich spürte den Schall der Schläge in meinem Gesicht und dass sich etwas Nasses, Warmes seinen Weg an meinen Beinen nach unten bannte. Jetzt lachten sie alle über mich: Meine Eltern, meine Frau, ja sogar meine Kinder grinsten mit hässlichen Fratzen auf meine Hose. Ich war längst nicht mehr in der Lage Scham zu spüren, oder etwas anderes. Das Himmelbett war weg, stattdessen nur ein kleiner Hocker aus Holz.
„Lauf bloß nicht auf das Licht zu, verdammte Scheiße!“ Sie zwangen mich darauf Platz zu nehmen und bildeten einen engen Halbkreis. Nun sollte es also kommen, unausweichlich: Mein ganz persönliches Jüngstes Gericht. Dabei war ich nicht einmal hungrig.
Dann folgte ewige Stille, zumindest kam es mir so vor. Ich erwartete Vorwürfe oder Anschuldigungen, doch nichts dergleichen geschah. Mittlerweile wurde es um mich herum so hell, dass ich die Augen geschlossen halten musste. Seltsame Vertrautheiten von unbekannten Dingen vermischten sich mit meinen Blut. Den Rest erledigte die schrille Melodie, die sich langsam, aber unaufhaltsam mit dem Raum vermischte und so für Ruhe sorgte. Absolut Paradox! Garantiert alkoholfrei. Nach drei Tagen sollte ich mein Schweigen brechen, denn es war meine eigene Stimme, die mir die Fragen diktierte: „Nun?“ Also gut, es folgen die Chroniken eines Versagers, heute zum halben Preis.
„Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr alles pure Routine, ein wenig Geborgenheit gepaart mit Neugier und Intelligenz. Unausweichlich folgte der Drang zum Studium und mit ihm die Schatten einer Vergangenheit, die mich nicht mehr loslassen konnte. Dabei war es nicht einmal meine eigene.“ Ab diesem Punkt gab es nur noch Erklärungsnöte, weil alles in einer Erkenntnis verschwamm, die sich nur noch durch die eigene Lächerlichkeit übertraf.
„Schon nach kurzer Zeit spürte ich, wie sich meine Persönlichkeit veränderte. Alles ganz normal, es kam vom älter werden. Von wegen! Unbegründete Ängste als Dauerzustand lassen dich alles nehmen. Ich hatte es im Guten, im Bösen und am meisten am Rande des Wahnsinns versucht, jedoch gab es keine Einsicht. Von keinem von uns. Dabei war es nicht mal der Spaß an der Sache, viel mehr schien es um Stolz und falsche Eitelkeit zu gehen. Also tauchte ich mit hinein, in eine Gesellschaft, die ich nicht ertragen konnte. Von Anfang an fühlte ich mich anders, ausgeschlossen. Am meisten von der Person, der ich es um der Liebe willen machte.“
Das Licht wurde zum Käfig und die Madame zu meinem einzigen Publikum. Ich wollte weiter erzählen, mich dadurch befreien, als sie ihren Zeigefinger auf meine Lippen legte. „Du alleine trägst die Verantwortung für dein Handeln. Niemand sonst!“ Trockener Hals trifft auf Reizüberflutung, am liebsten hätte ich geschrien. „Ja, schuldig im Sinne der Anklage. Aber das wusste ich auch schon vorher. Ich musste es ihr doch beweisen, dass ich genauso sein kann. Damit ich wieder zu ihrem Mittelpunkt werden würde!“ Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Es war die Wahrheit. Ich wurde alleine gelassen, als ich besuchte. Wurde stehen gelassen, als die anderen saßen. Uninteressant und langweilig, mehr war eben nicht drin. Nur ein Lückenfüller. Also kam mein letzter Angriff: Der Sturm auf die Bastille. Vollgepumpt mit Synthetik, weit weg vom eigenem Sein. Und nun bin ich hier. Auf mich sind die trüben Augen einer Halluzination gerichtet, einer die Sprechen konnte. „Hast du sie dadurch verändern können?“
„Nein- sie hat es nicht einmal verstanden. Typisches Einzelkind eben. Es scheint keinen Ausweg mehr zu geben.“
„Jetzt hast du ja einen gefunden!“ Die Antwort der Madame war trocken. Mir fiel erst jetzt auf, dass die Stimmen im Hintergrund schon länger nicht mehr zu hören waren.
„Heißt das etwa, der Krankenwagen fährt ohne Blaulicht?“
„Ja“ und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Es ist vollbracht!“