- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Drei gesunde Möhrenschnipsel
„Noch fünf Minuten. Hier, ich habe Feuer.“ Beate hielt die Flamme an Thomas’ Zigarette und zündete sich dann selbst eine an. „Sollen wir den Sekt schon mal aufmachen?“
„Ich gehe ihn holen.“
Thomas zog auf dem Weg zur Küche drei Mal an seiner Kippe. Und auch Beate rauchte hastig. Bloß nichts verschwenden. In wenigen Minuten würde alles anders sein. Sie hatten sich geschworen, im neuen Jahr nicht mehr zu rauchen. Und im darauf folgenden auch nicht. Nie wieder. Beate schauderte. Ob es wohl sehr schwer war? Was war, wenn Thomas es schaffte und sie nicht? Sie könnte nie wieder in den Spiegel gucken. Nein, sie würde es schaffen. Ganz sicher. Oder?
Thomas kam mit dem Sekt und zwei Gläsern zurück. Ohne Zigarette.
„Wieviel Uhr haben wir?“
„Achtundfünfzig.“
Schnell nahm sich Thomas eine Marlboro aus der Packung und zündete sie an.
„Ich habe den Sekt geholt, du machst ihn auf.“
Seufzend drückte Beate das letzte Rauchzeichen ihrer bis zum Filter heruntergebrannten Zigarette im Aschenbecher aus und griff sich die Sektflasche.
„Das ist gemein“, murrte sie.
„Aber gerecht!“ Thomas sog genüsslich grinsend den Rauch ein.
„Fünf, vier, drei“, leitete Beate den Countdown ein. „Zwei, eins…“
Thomas zog noch einmal an seiner Kippe.
„Null! Ein frohes neues Jahr, mein Schatz!“
Thomas drückte die Zigarette aus und nahm Beate in seine Arme.
„Auch dir ein frohes neues Jahr. Ab jetzt sind wir Nichtraucher.“
„Lass uns das feiern. Komm, wir gehen raus.“
Sie nahmen ihre Sektgläser und traten Arm in Arm vor die Haustüre. Seit Stunden schon waren vereinzelte Böllerschüsse zu hören gewesen, doch nun krachte und donnerte es unablässig von allen Seiten. Beate betrachtete verzückt die bunten, glitzernden Farbtupfer, die zur Erde hinabrieselten, zuckte aber immer wieder zusammen, wenn ein lauter Kracher in unmittelbarer Nähe explodierte. Als das Feuerwerk zwanzig Minuten später deutlich spärlicher wurde, gingen sie wieder hinein. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein grob gezimmertes Holzkästchen, das Thomas gestern selbst gebaut hatte. Dort legten sie die beiden angebrochenen Zigarettenschachteln und das Feuerzeug hinein und nahmen es mit durch die Terrassentür in den Garten. An der alten Kastanie lehnte eine Schaufel. Thomas begann zu graben. Nach kürzester Zeit rann ihm der Schweiß in die Augen, während Beate bibbernd mit dem Minisarg in ihrer Hand neben ihm wartete.
„Der Boden ist steinhart. Alles gefroren“, presste er zwischen den Lippen hervor.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis er einen etwa zwanzig Zentimeter tiefen Quader ausgehoben hatte. Beate hatte sich in der Zwischenzeit ein zweites und ein drittes Glas Sekt geholt. Sie fror jetzt nicht mehr, aber die Lust auf eine Zigarette wuchs und wuchs. Das ging ihr immer so, wenn sie Alkohol trank. Wie schon unzählige Male zuvor schielte sie zu dem Holzkästchen hinüber, das sie unter der Kastanie abgestellt hatte. Sie biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß nicht schwach werden, dachte sie. Eine Stunde war erst vergangen, seit sie Nichtraucherin wurde. Diese Zeitspanne machte ihr doch sonst nichts aus. Auf der Arbeit, wo sie für jede Zigarette nach draußen gehen musste, rauchte sie schließlich auch oft vier bis fünf Stunden nicht. Das ist Vergangenheit, bläute sie sich ein.
Thomas stellte seufzend die Schaufel beiseite.
„Puh, Nichtraucher zu sein ist ja echte Schwerstarbeit“, witzelte er.
Beate versuchte zu lächeln, bekam aber nur eine schiefe Grimasse hin.
„Na komm, lass uns das Gift begraben, hm?“, versuchte Thomas sie aufzumuntern.
Beate nahm das Kästchen, streichelte mit der freien Hand darüber und setzte es sanft in dem Erdloch ab. Beide legten eine weiße Lilie auf den Sarg, die Beate am Vormittag in einem Blumengeschäft gekauft hatte, und warfen je eine Handvoll Erde hinterher. Dann schaufelte Thomas das Loch zu. Als er fertig war, wachte Beate aus ihren trüben Gedanken auf. Sie stampfte mit dem Fuß auf die lockere Erde.
„Du machst uns das Leben nicht mehr zur Hölle!“, rief sie. Sie machte einen Satz auf den winzigen Erdhügel und sprang darauf herum.
„Bäh, bäh, bäh, wir brauchen dich nicht!“
Thomas lachte und nahm sie in die Arme.
„Ist ja schon gut“, murmelte er in ihr Ohr. „Komm, lass uns tanzen.“
Sie tanzten einen langsamen Blues auf dem kleinen Grab, während hier und da vereinzelte Feuerwerkskörper den Himmel erleuchteten.
*****
Beate zog den Bauch ein und besah sich vor dem Spiegel. Nein, diese Hose konnte sie unmöglich noch anziehen. Der Bauch war nicht das einzige Problem: Ihre Oberschenkel besaßen in etwa den Durchmesser einer Litfasssäule und die Jeans quetschte ihre Pobacken derart, dass sich lauter Wülste bildeten. Ich brauche dringend längere Pullover, dachte sie. Scheiß auf die derzeitige Mode.
Sie zog die Jeans aus und griff sich stattdessen die neue Baumwollhose, die weich fließend ihre Beine umhüllte. Wer nicht zu genau hinsah, konnte beinahe annehmen, dass nicht Fettgewebe sondern Luft die Hose so aufplusterte. Zumindest hoffte Beate das. Seit sie vor einem halben Jahr das Rauchen aufgegeben hatte, musste sie ständig neue Klamotten kaufen. Die ganze Ersparnis durch das Nichtrauchen floss in ihre Garderobe. Zwei Konfektionsgrößen hatte sie nun schon übersprungen und näherte sich mit rasender Geschwindigkeit Nummer drei. Bald passe ich nur noch in Omaklamotten. Ihre Augen schimmerten verräterisch feucht. Ein schneller Blick auf die Uhr, ein kurzer Fluch, dann schnappte sie sich im Laufschritt den Schlüssel, hastete zum Wagen und fuhr zur Arbeit.
„Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Nehme ich heute das Jägergoulasch mit Nudeln oder die Currywurst mit Fritten?“ Catrin legte auf dem Weg zur Kantine nachdenklich die Stirn in Falten.
Beate musterte sie von Kopf bis Fuß. Die Welt war so ungerecht! Diese Frau konnte permanent essen und wurde und wurde nicht dick. Dabei war eine ihrer Schreibtischschubladen mit einer großen Auswahl Süßigkeiten gefüllt, die sie ständig in sich hineinstopfte und regelmäßig auffüllte. Beate könnte Gift und Galle spucken vor Neid. Als sie merkte, dass ihr Blick erwidert wurde, setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf.
„Du kannst es dir ja auch leisten, meine Liebe. Warte mal ab, in deinem Alter vor vier Jahren war ich auch so schlank wie du. Irgendwann rächt sich das“, säuselte sie.
Catrin grinste nur.
In der Kantine steuerte Beate direkt an der Schlange vor der Essensausgabe vorbei zum Salatbuffet. Sie wählte ein großes Salatblatt und drei Möhrenschnipsel, drapierte sie kunstvoll auf ihrem Teller und suchte sich schon einmal einen freien Tisch. Sie wartete auf ihrem Platz, bis die Kollegen mit den Warmspeisen zu ihr kamen.
“Wirst du davon denn satt?“ Catrin deutete auf Beates Teller und griff nach dem Salzstreuer für ihre Fritten.
„Natürlich, ich habe heute Morgen schon ein Müsli gegessen. Und in meinem Büro habe ich noch einen Apfel für den Nachmittag“, erwiderte Beate. „Außerdem ist mein Mittagessen ja so gesund“, flötete sie noch mit einem missbilligenden Blick auf Catrins Teller hinzu. Innerlich brodelte sie derart, dass sie Angst hatte, aus ihren Nasenflügeln würden Dampfwolken wie von Catrins Currywurst aufsteigen.
Als Beate von der Arbeit nach Hause kam, war Thomas noch nicht da. Frustriert rief sie nach ihrer Katze und setzte sich mit ihr auf das Sofa. Das Schnurren tröstete sie ein wenig. Kurz darauf hörte sie Thomas' Schlüssel im Haustürschloss. Sie sprang auf, lief zu ihm und warf sich in seine Arme.
„Ich bin fix und fertig“, schluchzte sie. „Ich mag mich nicht mehr.“
„Nanana, was ist denn los?“
„Ich bin eine fette Kuh, das ist los. Ich passe in nichts mehr hinein, selbst nicht in die zwei Hosenanzüge, die ich mir erst vor drei Monaten gekauft habe. Alle gucken mich so komisch an. So mitleidig. Ich will das nicht!“
„Na komm, wir setzen uns erst mal hin. Guck mal, du ernährst dich gesund, du machst zwei Mal pro Woche Sport, mehr kannst du doch nicht tun. Das ist einfach Veranlagung. Außerdem finde ich dich genauso prima, wie du bist. Warte hier, ich hole den Wein.“
Beate sah ihm nach, als er in Richtung Keller ging. Sie setzte sich wieder auf das Sofa. Insgeheim war ihr klar, dass sie beide zuviel tranken. Aber immerhin hatten sie doch das Rauchen aufgegeben, oder nicht? Und das war schließlich das größte Übel, das es gab. Ein Laster darf der Mensch haben, dachte sie.
Als Thomas mit dem Wein zurückkehrte, hatte Beate ihre Tränen getrocknet und konnte fast schon wieder lächeln.
„Na also“, meinte Thomas. „Soll ich den Cabernet Sauvignon oder den Merlot aufmachen?“
„Lass uns mit dem Merlot anfangen“, antwortete sie. „Sind eigentlich noch Chips da?“