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Drei Kerzen
'Seelsorge ist ein wichtiger Auftrag, aber manchmal kann ich mich um Gemeindeglieder nur sorgen und erreiche sie nicht.' Dieser Gedanke ging der Pfarrerin nach ihrem Besuch bei dem Ehepaar Meier durch den Kopf. Die Meiers waren Rentner. Ihr einziger Sohn hatte bei ihnen gelebt und sie versorgt, bis er vor einem halben Jahr bei einem Betriebsunfall sein Leben verlor. Waren die drei schon vor diesem tragischen Ereignis für sich geblieben, so verkroch sich das Ehepaar jetzt noch mehr. Frau Meier war gar nicht mehr zu sehen und Herr Meier ging einmal in der Woche zum Einkauf und blieb die andere Zeit zu Hause.
Die Pfarrerin hatte den Sohn beerdigt, einige Mitarbeiter und der Firmenchef waren bei der schlichten Trauerfeier gewesen. Dann besuchte sie das Ehepaar jeden Monat, aber wie sie ihnen helfen könnte, blieb ihr verborgen. Frau Meier saß bei den Besuchen geradezu apathisch auf dem Sofa, sie antwortete auf keine Frage und ließ auch kaum erkennen, ob sie zuhörte. Auch Herr Meier sprach nur einige Worte. Dabei schienen die beiden gar nicht sehr zu trauern, eher hatte die Pfarrerin den Eindruck, dass sie etwas erwarteten und gar nicht mehr ganz in der Welt waren. Aus einigen kurzen Sätzen gewann die Pfarrerin den Eindruck, dass beide Eheleute meinten, oft mit ihrem Sohn zu sprechen und ihn manchmal auch zu sehen. Das beunruhigte sie und im Frauenkreis fragte sie, ob sich nicht einige Frauen zu Besuchen bereit fänden, um sie zu unterstützen.
"Die Meiers sind doch nie im Gottesdienst. Sie sollten sich vielleicht mehr um die treuen Gemeindeglieder kümmern," schimpfte Frau Köhnlein. Sie war dafür bekannt, dass sie ihr Herz auf ihrer spitzen Zunge trug, aber die anderen Frauen murmelten zustimmend und so verfolgte die Pfarrerin ihren Plan nicht weiter.
Bei ihrem letzten Besuch lud sie die Meiers zum Totengedenken am kommenden Sonntag ein. Da sagte Frau Meier: "Wir brauchen uns nicht zu erinnern, unser Sohn ist uns ja ganz nahe und bald werden wir wieder zusammen sein."
Die Pfarrerin war so überrascht, dass sie gar nichts erwidern konnte. Nach einer kleinen Pause, sagte Herr Meier: "Unser Sohn ist uns vorausgegangen in die Ewigkeit. Das haben Sie uns ja bei der Beerdigung gesagt. Wir werden ihm nachfolgen. Darauf freuen wir uns und wir wünschen uns nur, dass Gott uns bald zusammenbringt."
'Jetzt ist die Gelegenheit für ein Gespräch,' dachte die Pfarrerin, aber die Meiers schienen schon wieder weit weg zu sein.
Der Gottesdienst am Totensonntag begann, die Kirche war gut gefüllt. Ob Meiers gekommen waren? Gesehen hatte sie die beiden nicht, aber sie hatte auch gar nicht alle Gemeindeglieder am Eingang begrüßen können.
Die Namen der Verstorbenen waren verlesen worden, die Angehörigen konnten jetzt vor den Altar treten und eine Kerze anzünden und in vorbereitete Sandkästen stecken.
Die Schlange ging zu Ende, der Organist begann schon leise mit dem Vorspiel zu "Wachet auf", da schlurfte Herr Meier aus dem Seitenschiff in den Altarraum. Er schien der Pfarrerin sehr blaß zu sein, aber er lächelte leise, nahm drei Kerzen aus dem Kasten, zündete sie an der Osterkerze an und steckte sie so in den Sand, dass sie ein Dreieck bildeten. Dann verschwand er.
Die Pfarrerin hörte in ihren Gedanken das Getuschel der treuen Gottesdienstbesucherinnen: 'Wieso nimmt er sich drei Kerzen? Er hat doch bloß einen Sohn verloren. Wo ist seine Frau. Wieso kommt er so spät?'
Aber wo war Herr Meier geblieben. Er konnte sich ja schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Also blendeten alle dieses Geschehen aus und vergaßen es ganz schnell. Nur die Pfarrerin konnte dieses Bild nicht verdrängen. Wie Herr Meier drei Kerzen in den Sand steckte und dann nicht mehr da war. Verschwunden war, als ober nie in der Kirche gewesen wäre. Aber die drei Kerzen brannten dort im Sand und flossen jetzt, weil sie so nahe standen, ineinander.
Am Ausgang griff die Pfarrerin den Arzt, der auch im Kirchenvorstand saß, am Arm und sagte: "Bitte bleiben Sie, wir müssen noch einen Besuch machen." Er hatte weit hinten gesessen und so nichts mitbekommen. Beide fuhren zum Haus der Meiers und holten, als sich niemand meldete, die Feuerwehr, um ins Haus zu kommen.
Sie fanden die beiden friedlich im Bett liegend. "Sie sind heute Nacht eines natürlichen Todes gestorben," stellte der Arzt nach der Untersuchung nüchtern fest. Und als er das zweifelnde Gesicht der Pfarrerin sah, fügte er hinzu: "Sie waren beide schon sehr hinfällig und ich wundere mich eher, dass sie noch so lange gelebt haben."
"Ihr Sohn ist ihnen vorausgegangen und Gott hat ihren Wunsch erfüllt und sie mit ihrem Sohn vereint," sagte die Pfarrerin an den offenen Gräbern. Nur der Beerdigungsunternehmer und der Arzt standen neben ihr, aber ihr schien, dass auch die Toten aufmerksam zuhörten. Eine innere Wärme breitete sich in ihr aus, ihre Sorgen waren plötzlich fort und sie wußte, dass die Meiers sich auf diesen Tag gefreut hatten und die drei Kerzen ihr dies zeigen sollten.