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Drei Tage Paris. Eine Nachwendegeschichte
für Jeanette
Er sagte einfach: „Guten Morgen, Jeanette,“ setzte sich neben sie und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Natürlich war sie nicht überrascht, ihn heute morgen in diesem Bus zu sehen. Aber war es auch so selbstverständlich, dass sie hier saß? Verstohlen sah sie ihn von der Seite an. War er sich seiner Sache so sicher?. Sie konnte jetzt noch aussteigen. Da wandte er sich ihr zu und sah ihr offen in die Augen. Es war ein Blick voller Zärtlichkeit und Dankbarkeit, er wischte alle ihre Ängste und Bedenken mit einem Schlag weg. Sie beugte sich vor und legte ihre Wange auf seine. Nur einen Moment, dann sank sie entspannt in den Sitz zurück. Er nahm ihre Hand. Sie sprachen kein Wort, auch als der Bus Magdeburg schon lange verlassen hatte.
***
Sie würde es sich kaum vorstellen können, wie groß seine Freude war, als er sie im Bus sitzen sah. Die ganze Zeit hatte er an diesen Abend denken müssen, als er sie kennen gelernt hatte. Die Entrüstung, die in ihren Augen gestanden hatte, als der Typ mit der Sektmasche aufgekreuzt war. Nur weil sie ein bisschen Geld hatten, glaubten diese Wessis, über alle verfügen zu können. Er hatte sie bewundert für das Feuer, das er in ihren Augen gesehen hatte. Wenn sie ihn auch in diese Schublade steckte, würde sie nicht kommen. Es gab tausend andere Gründe für sie, nicht zu kommen. Sie war zwar nicht verheiratet, schien aber einen festen Freund zu haben. Sie hatte mitbekommen, dass er Kinder hatte, und konnte sich denken, dass er verheiratet war. Was sagte es schon, dass er keinen Ring trug? Ob sie das überhaupt bemerkt hatte? Was wollte er von ihr? Würde sie ihm in Paris nicht ausgeliefert sein? War ihr klar, dass es eine einfache Gruppenreise war, dass sie sich nur der Gruppe anzuschließen brauchte, um von ihm unabhängig zu sein? Wenn sie es als plumpe Masche betrachtete, sie in einem Preisausschreiben gewinnen zu lassen, an dem sie gar nicht teilgenommen hatte, konnte sie ihm ganz einfach ein Schnippchen schlagen. Ihr Freund brauchte nur die gleiche Reise zu buchen. Plätze gab es , wie er bemerkt hatte, genug, und besonders teuer waren sie auch nicht: Er wäre ihr noch nicht einmal böse gewesen. Sie war im Recht. Wie konnte er überhaupt annehmen, dass sie darauf eingehen würde? Das mit dem Preisausschreiben hatte er nur gemacht, damit sie einen Grund hatte, sich Urlaub zu nehmen, und vielleicht auch gegenüber ihrem Freund nicht gleich zu einer konsequenten Entscheidung gezwungen war. Natürlich wollte er sie gewinnen. Er hatte sich maßlos verliebt und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sie in Zukunft an seiner Seite zu haben. Er wollte ihnen beiden die Gelegenheit geben sich kennen zu lernen. Zu prüfen, ob es für eine gemeinsame Zukunft tatsächlich eine Chance gab.
***
Er hätte niemals gewagt, daran zu denken. Aber er hatte seine „Wette mit dem Schicksal“ gewonnen. An dem Abend, als er Jeanette kennen lernte, war es ein Traum. Ein so zauberhaftes Geschöpf beim Tanzen im Arm zu halten. Zart fühlte er die Hand, die auf seinem Arm lag. Ihr jugendlicher Körper schmiegte sich leicht an ihn. „I want to be good to you”, leise summte sie die Melodie mit. Er hätte sterben können in diesem Moment. „So etwas sagt man nicht,“ hatte sie mit leisem Tadel gesagt. Bis zu diesem Augenblick war es einfach ein schöner Abend gewesen. Er hatte das Glück gehabt, sich in Gesellschaft von drei jungen Frauen gut unterhalten zu haben. Karin hatte ihn mit ihrem hellen Lachen angelockt. Ihr verdankte er, dass er sich in dem Kreis gleich unbefangen gefühlt hatte und aus sich herausgehen konnte. Die Schönheit von Jeanette hatte ihn sofort gefesselt, aber er hatte sich längst abgewöhnt, bei schönen Frauen mehr als die Fassade zu erwarten. Karin war es, die ihn interessiert hatte. Und die Geschichte dieses gemischten Ost-West-Trios. Angesichts der vielen Vorurteile, der Ablehnung bis hin zum Hass, die er im Verhältnis der Deutschen aus Ost und West auf beiden Seiten antraf, freute er sich über jedes positive Beispiel. Die realen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten waren groß genug und würden ohne eine positive Grundhaltung zueinander umso schwerer zu bewältigen sein. Aus diesem Grund hatte er sich gegenüber Frauen in Magdeburg sehr zurückgehalten. Immer wieder hatte er sich für die Aufreißer aus dem Westen geschämt. Wenn er sich wirklich einmal für eine Frau interessiert hatte, merkte er aber schnell, dass man kaum aus dieser Schablone herauskam. Und Jeanette war noch dazu sehr jung, 25 Jahre hatte er geschätzt. Sie war 23. Und er war Realist. Was konnte sie an einem Mann wie ihm finden? Auch als er im Laufe des Abends immer deutlicher erkannte, dass sie nicht nur schön war, sondern auch Charakter und Intelligenz besaß, hatte er nur begonnen, ihre Nähe zu genießen, ohne mehr zu erwarten. Bis zu diesem Augenblick.
Die Leichtigkeit seiner Stimmung war dahin. Er hatte sich verliebt und fürchtete die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe. Fast zehn Jahre lang hatte er mit diesem Gefühl gelebt, hatte sich mühsam davon befreit. Das wollte er nicht noch einmal durchmachen. Seine Strategie, sich erst gar keine Hoffnung zu machen, hatte hier versagt. Wenn er Jeanette in die Augen sah, glaubte er, zumindest Sympathie zu erkennen. Aber was gab ihm das Recht, mehr darin zu sehen? Außerdem konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sie ein Auge auf Wolfgang geworfen hatte. Er selbst hatte diesen Wolfgang an den Tisch geholt. Ein Versuch, der aufkeimenden Sympathie für Jeanette einen freundschaftlichen Charakter zu geben. Er schien ein netter Kerl, die beiden würden zusammenpassen. Aber je länger er die beiden beobachtete, um so weniger konnte er sich gegen die Vorstellung eines langweiligen bürgerlichen Paares mit zwei süßen kleinen Kindern wehren. Er kannte diese Paare zu Dutzenden. Er kannte das schleichende Unglück dieser Frauen, die eigentlich keinen Grund hatten, unglücklich zu sein. Das war nichts für Jeanette. Aber hatte er seine Frau nicht auch unglücklich gemacht? Mit vier Kindern und der fehlenden Sicherheit einer bürgerlichen Existenz. Er wusste, dass er Fehler gemacht hatte. Aber daran war seine Ehe nicht gescheitert. Das Problem war die unterschiedliche Grundeinstellung. Er hatte seine Ziele, war bereit, dafür auch ein Risiko einzugehen. Wenn es nötig war, arbeitete er Tag und Nacht. Sie sehnte sich nach Sicherheit, sonntäglichen Spaziergängen und einem regelmäßigen Urlaub. Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er die Sicherheit einer gutbezahlten Stellung aufgegeben hatte, nur um eigene Ideen zu verwirklichen. Manchmal fragte er sich, ob er das Recht dazu gehabt hatte.
Und Jeanette? Was wusste er von ihr? Wer sagte ihm, dass sie nicht auch gerade auf der Suche nach dieser bürgerlichen Existenz war? Überhaupt, wenn er es recht bedachte, war das alles vollkommen aussichtslos. Er war auf dem besten Weg, sich zum zweiten Mal in eine hoffnungslose Liebe hineinzusteigern. Das musste er radikal herausschneiden. So machte er seine Wette mit dem Schicksal: er wollte nichts unternehmen, sie wiederzusehen. Sollte er sie aber innerhalb der nächsten vierzehn Tage woanders als im Musikcafé treffen, würde er alles daransetzen, diese Frau für sich zu gewinnen.
Er hatte sie wiedergesehen. Ausgerechnet Wolfgang hatte ihn gebeten, für ihn eine Verabredung mit Jeanette wahrzunehmen. Er war verhindert und kannte weder den Nachnamen noch die Adresse, um absagen zu können. Zuerst war sie enttäuscht, ihn und nicht Wolfgang zu sehen, aber dann wurde es ein schöner Abend. Er hatte ihr nichts von seiner Wette mit dem Schicksal gesagt. Auch sonst nichts von dem, was ihn bewegte. Drei Tage Paris sollten die Entscheidung bringen. Wenn sie nicht mitkam, würde er alleine fahren, und es würde ihm gelingen, sie zu vergessen - es musste.
***
Aber sie war gekommen. Hand in Hand gingen sie durch die Gassen des Quartier Latin, dieses Viertels, dessen liebenswürdige Schlampigkeit er liebte. Ob sie auch an die verfallenen Häuser in Magdeburg dachte und den Unterschied bemerkte? Er vermied es, sie danach zu fragen. Sie saßen in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Michel und betrachteten die Menschen. Er hatte sich nie satt sehen können an diesem Getümmel, das bei schönem Wetter in den großen Straßen von Paris herrschte. Als sie weitergingen, genoss er das Gefühl, ein Teil dieses Getümmels zu sein. Er war stolz auf die schöne Frau an seiner Seite, nach der sich die Männer auch im verwöhnten Paris umdrehten. Im Jardin du Luxembourg saßen sie in der sinkenden Spätsommersonne. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, sie lehnte sich leicht an ihn. Lange blickte er sie von der Seite an. Sie drehte sich zu ihm und sie küssten sich zum ersten Mal. Zum Abendessen fanden sie ein kleines Restaurant am Montparnasse. Immer wieder musste er in ihre strahlenden Augen sehen. Sie redete beinahe ohne Unterbrechung, sie musste einfach all die vielen Eindrücke verarbeiten, die heute auf sie eingeströmt waren. Er sah Paris mit ihren Augen und entdeckte immer neue Züge. Es war spät geworden, als sie eng umschlungen zum Hotel gingen. Der Portier hatte etwas Verschwörerisches im Blick, als er ihnen die Zimmerschlüssel gab. Vor ihrem Zimmer nahm er sie noch einmal fest in die Arme. „Ich wecke Dich zum Frühstück,“ sagte er, dreht sich dann abrupt um und ging zu seinem Zimmer. Er spürte, dass sie ihm nachsah. Aber wenn er zurück gesehen hätte, wäre er mit Sicherheit umgekehrt. Und das wollte er nicht.
***
Er hatte erwartet, die halbe Nacht wach zu liegen. Doch er war sofort eingeschlafen. Glücklich. Das erste Morgenlicht und der einsetzende Verkehrslärm weckten ihn. Er fühlte sich frisch und ausgeschlafen und war gleich auf den Beinen. Die Dusche tat gut, langsam ließ er das Wasser immer kälter werden. Als er an ihre Tür klopfte, machte sie sofort auf: „Komm rein, setz Dich.“ Einfach so. Er nahm sie in den Arm, sie duldete es kurz und schob ihn dann zum Sessel. Sie hatte ein kurzes Nachthemd an und sah mit ihren wuscheligen Haaren bezaubernd aus. „Hast du gut geschlafen?“ Sie strahlte ihn an. „Wunderbar, so ein schönes großes Bett.“ Sie hatte noch nicht geduscht. Ohne Umstände zog sie das Nachthemd über den Kopf aus und schlüpfte unter die Dusche. „Was machen wir heute?“ fragte sie hinter dem Vorhang hervor. Eine Antwort würde sie bei dem Brausen der Dusche kaum verstanden haben. „Reich mir mal das Handtuch ... aber rühr dich nicht vom Sessel“ fügte sie drohend hinzu, als er den Vorhang zur Seite schob. Er setzte sich wieder, dachte aber nicht im Traum daran, auch nur einen Moment den Blick von ihrem schönen Körper zu wenden. Sie ließ es sich gefallen und schien es zu genießen. Sie war sich ihrer Schönheit bewusst. Den Rücken wollte sie sich nicht abtrocknen lassen. „Das kann ich ganz gut alleine,“ sagte sie mit dem Ich-weiß-schon-was-dann-kommt-Unterton. Was immer noch kommen sollte, diesen Morgen, diese zehn Minuten würde ihm kein Mensch mehr nehmen können.
Nach dem Frühstück wollte sie auf jeden Fall zum Eiffelturm. „Es ist mir ganz egal, ob du das für Touristenrummel hältst oder nicht. Das muss man einfach gesehen haben, wenn man in Paris war.“ Sie hatte ja recht und er genoss sogar die unvermeidliche Schlange vor dem Aufzug. Zufrieden wie eine Katze schmiegte sie sich an ihn, er meinte das Schnurren zu hören. Von oben konnte sie sich nicht satt sehen an dem Häusermeer zu ihren Füßen. Er zeigte ihr die verschiedenen Gegenden. „Siehst du, das ist der Dôme des Invalides. Wenn wir schon mal hier sind, werde ich auch mir einen Wunsch erfüllen und wenigstens kurz ins Musée Rodin gehen.“ „Und heute Nachmittag gehen wir zum Montmartre, ich will mir ein Bild von dir malen lassen.“
***
Sie verstand, warum er mit ihr ins Musée Rodin wollte. Lange standen sie beide vor dem „Kuss“. Zärtlichkeit und Leidenschaft, Anmut und Kraft, Ausgeliefertsein und Vertrauen: alles, was die Liebe ausmacht, hatte der Künstler in diese beiden Gestalten gelegt. Nicht leicht und fließend oder selbstverständlich waren die Figuren, sondern sichtbar das Ergebnis harter Arbeit am rohen Material, das sich diesem Thema nicht fügen wollte, das Ecken und Kanten und Unregelmäßigkeiten behielt. Nicht vollendet, wie die Schönheit der Venus von Milo, die sie heute morgen im Louvre bewundert hatten. Nachdenklich wanderte sein Blick zu Jeanette. Ob diese Venus die Botschaft des „Kusses“ verstand. Sie kam auf ihn zu, legte ihm beide Arme um den Hals und zog ihn an sich. Ohne dass sie etwas sagte, verstand er ihre Botschaft: „Heute nacht gehöre ich dir. Sei zärtlich und rücksichtsvoll, sei wild und leidenschaftlich, aber enttäusche nicht das Vertrauen, das ich dir damit schenke. Ich bin kein Abenteuer für Paris. Ich möchte mit dir an unserer Liebe arbeiten.“ Er nahm ihre Hand und ihm war, als hätte er alle Zeit der Welt gewonnen. Wenn das ein Traum war, wollte er niemals mehr aufwachen.