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Drei Uhr Nachts
Es ist 3 Uhr als du wach wirst. Du merkst schnell, dass etwas nicht stimmt. Du weißt, dass du nur noch wenig Zeit hast. Also springst du aus dem Bett und eilst zur Toilette. Kaum bist du dort, ergießt sich dein Mageninhalt in das Becken. Nachdem du das überstanden hast, meldet sich auch dein alter Freund, der Kopfschmerz. Der muss sich wohl einen Schlagbohrer besorgt haben, mit dem er von innen deine Stirn aufbohrt.
Jetzt geht es darum, die Pause möglichst gut zu nutzen. Du weißt genau, dass es längst noch nicht vorbei ist. Also stehst du auf, um deinen Vater zu wecken. Der wird schon wissen, was zu tun ist. Fünf Minuten später liegst du in deinem Bett, neben dem ein Eimer steht. Auf deiner Stirn liegt ein feuchter Lappen, der dem Schlagbohrer etwas die Härte nehmen soll. Da kommt auch schon der nächste Schub. 'Ruhig bleiben, das geht vorbei', denkst du dir. Der Magen ist ohnehin fast leer. Jetzt heißt es warten, bis die Schübe aufhören. Den Tee, den dein Vater ihm gekocht hat, hält es auch nicht lange in dir, aber immerhin musst du nicht trocken würgen.
Irgendwann lassen die Schübe nach, und es fängt an, dir wieder besser zu gehen. Anziehen ist angesagt. Dann geht es mit dem Auto quer durch die Stadt, ins Krankenhaus. So früh morgens findet sich da sogar ein Parkplatz. Dein Vater und du geht zusammen zur Anmeldung. Du bekommst nur nebenbei mit, dass die Schwester deinem Vater nicht glaubt, dass du gerade akute Drucksymptome hast. Aber immerhin dürft ihr euch ins Wartezimmer setzen. Da sitzen andere Eltern mit ihren Kindern. Du weiß nicht, warum die da sind, aber es interessiert dich auch nicht besonders. Deine Lippen sind ganz trocken, und du spürst ein unangenehmes Gefühl im Mund. Es hat wohl doch nicht gereicht, dass du vor der Fahrt noch die Zähne geputzt hat.
Jetzt heißt es warten.
Nach einer Zeit, die sich wie Stunden angefühlt hat, aber wohl eher nur ein paar Minuten lang war, werdet ihr in einen Behandlungsraum gebeten. Der Arzt hört deinem Vater interessiert zu, wie der von seinem Zettel deine Krankengeschichte erzählt. Mit genauem Datum für jede größere Erkrankung, jede Operation. Dann untersucht dich der Arzt. Ein paar einfache Untersuchungen, die du ganz gut meisterst, wie du meinst.
Als Ergebnis der Untersuchung darfst du da bleiben. "Stationäre Aufnahme für weitere Untersuchungen", nennt es der Arzt. Dir ist es Recht, Hauptsache, es kümmert sich jemand darum, dass der Kopfschmerz wieder verschwindet. Der hat inzwischen den Schlagbohrer gegen einen Schmiedehammer eingetauscht, mit dem er immer wieder auf deine Stirn einschlägt.
Die Tage im Krankenhaus wechseln sich ab zwischen Langeweile und Untersuchungen. Was sie nicht alles untersuchen: Ein Computertomogramm fertigen sie an, von dem dich das Gerät sehr fasziniert. Dann gibt es eine Hirnstrommessung, bei der sie mit einem Stroboskop interessante Lichtmuster auf deine Augenlichter malen, dann gibt es Blutuntersuchungen, die du nicht ausstehen kannst, weil Nadeln dir noch nie lagen. Das Ergebnis der ganzen Untersuchungen ist aber ernüchternd: Sie meinen, du hättest keinen Überdruck. Dass dein Vater da anderer Meinung ist, ist den Ärzten scheinbar gleichgültig. Als du entlassen wirst, meint dein Vater noch, dass es nicht lange dauern wird, bis ihr wieder da seid.
Er soll Recht behalten. Nicht einmal vier Wochen später geht das ganze Spiel von vorne los. Diesmal zählst du mit, wie oft du dich übergeben musstest. Am Ende kommst du auf die rekordverdächtige Anzahl von 20 Schüben.
Diesmal wirst du im Krankenhaus gleich stationär aufgenommen. Die Untersuchungen sind auch nicht mehr so ausführlich, auch wenn sich scheinbar nichts geändert hat, glauben die Ärzte deinem Vater jetzt wohl. Ein OP-Termin wird angesetzt. Sie wollen es erstmal mit einem einfachen Eingriff versuchen. Dir ist auch das wieder Recht, immerhin ist das dann deine elfte Operation in deinem bisher Zwölf Jahre langen Leben.
Nach der OP kannst du erstmal nicht sprechen, der Beatmungsschlauch war wohl wieder mal zu dick. Ein paar Tage behalten sie dich noch da, zur Beobachtung. Dir geht es erstmal besser.
Dann wirst du entlassen und darfst die Zeit bis zu den Pfingstferien wieder zu Hause verbringen. Deine neue Narbe siehst du erst nachdem die Fäden gezogen sind. Noch sieht sie dünn aus, aber das wird sie nicht bleiben, wie du schon von den vorherigen Narben weißt. Später wirst du dich nicht mehr daran erinnern, was in diesen Tagen in der Schule für Themen drankamen. Wenn du erstmal dein Abitur hast, wird danach ohnehin nie jemand fragen. Die Ärzte haben zwar deinen Eltern damals erklärt, dass du nie besonders gut sein würdest, aber auch Ärzte machen manchmal Fehler.
Zwei Wochen später ist Pfingsten. Am Pfingstsamstag Fahrt ihr mit dem Schiff nach Helgoland. Der Ausflug gefällt dir wirklich gut. Was dir nicht gefällt: Am Pfingstsonntag Morgen hast du wieder Überdruck. Diesmal musstest du dich aber nur 16 Mal übergeben. Das betrachtest du als Verbesserung. An die Fahrt ins Krankenhaus und die Untersuchungen kannst du dich hinterher nicht mehr erinnern, das verschwimmt alles in deinem Gedächtnis. Du bist wohl als Notfall-OP drangekommen, sagt dein Vater. Du bemitleidest den Chirurgen, dessen Pfingstsonntag du versaut hast, aber du kannst ja nichts dafür. Diesmal gab es die große OP, bei der der Shunt komplett gewechselt wurde. Das war wohl auch notwendig, der alte Shunt muss schon ziemlich kaputt gewesen sein, sagt dein Vater. Du hast den Shunt nie gesehen, und musst ihm das einfach glauben. Dein Vater hat dir mal erklärt, was genau ein Shunt ist, und warum der für dich wichtig ist. Ohne den würde sich die Flüssigkeit in deinem Kopf ansammeln und auf dein Gehirn drücken. Das brauchst du dir nicht vorstellen, deine Erinnerungen an die Nächte sind noch frisch genug. Hydrocephalus sagen die Ärzte zu deiner Krankheit, den deutschen Begriff Wasserkopf magst du aber nicht. Auch den Begriff Ventil für den Shunt mochtest du nie, auch wenn er eigentlich stimmt. Aber in der Schule haben dich die anderen Kinder dann gerne damit geärgert, von Fahrradventilen zu erzählen. Seit dem Umzug musst du dir das aber nicht mehr anhören.
Die nächsten Wochen im Krankenhaus willst du am liebsten im Liegen verbringen. Sobald du aufstehst, bekommst du Kopfschmerzen. Immerhin ist es nicht dein bekannter Kopfschmerz, aber angenehmer sind die Schmerzen auch nicht. Der neue Shunt fühlt sich anders an. Immer, wenn du aufstehst, surrt er leise hinter deinem Ohr. Der Arzt, den du befragst, weiß auch nicht, ob das normal ist, aber du bist dir sicher, dass es ein gutes Zeichen ist. Solange er surrt, funktioniert der Shunt. Sorgen willst du dir erst machen, wenn er nicht mehr surrt.
Nach deiner Entlassung stellst du fest, dass du dich gar nicht so genau mehr an die zwei Wochen zwischen den Operationen erinnern kannst. Aber dafür funktioniert dein Gedächtnis danach umso besser. Du hoffst darauf, dass der Shunt dir möglichst lange erhalten bleibt, aber garantieren kann dir das natürlich niemand. Es kann jeden Tag wieder losgehen, und seit du bei ihm ausgezogen bist kann dein Vater nicht da sein, um dir zu helfen. Der Shunt hat auch schon aufgehört zu surren, aber du hast keine Angst. Du hoffst nur darauf, an dem Tag nicht alleine zu sein. Wann immer er kommt.