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Dreieinhalb Stunden
Karin war eine hübsche Frau mit langen blonden Haaren. Damals. Bevor Sie Thorben kennenlernte und er sie, die Dolmetscherin mit Aussicht auf eine Stelle im Europaparlament überredet hatte, in eine Kleinstadt zu ziehen, die noch nicht einmal ein Dorf war. Eine Straße mit drei gottverlassenen Häusern am Übergang zum Totenwald. Sie fühlte sich einsam in dem Haus seines Erbonkels, aber er hatte ihr vorgerechnet, wie günstig sie in dem abbezahlten Haus leben konnten. Ihr von der wunderschönen Natur vorgeschwärmt und davon erzählt, wie glücklich ihre zukünftigen Kinder hier auf dem Lande würde aufwachsen können. Nach einigen Diskussionen hatte sie das eingesehen und sich von ihrer Familie und ihren Freunden verabschiedet.
Thorben war ein liebevoller, vorausschauend denkender Mann. Er wusste immer, was er tat, und seine Gedanken waren so voller Weisheit und Pragmatismus, dass sich Karin ihrer Logik und Strahlkraft nicht entziehen konnte. Thorben war ihre fehlende Hälfte, ihre Bestimmung. Noch spielten sie nicht in der gleichen Liga. Sie würde noch viel lernen müssen, um ihm eine gute Ehefrau und Mutter sein zu können und nicht seinen Jähzorn zu erregen. Und bei Gott, nach den ersten Tagen des Umzugs schon, versuchte sie verzweifelt, nicht seinen Jähzorn zu erregen. Einige Monate strichen ins Land, bis sie sich der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen gewahr wurde und sie im Affekt einen Fluchtversuch unternahm. Da prügelte er sie halb tot und sperrte sie tagelang in seinem Bunker ein, bei Brot und Wasser und einem Eimer als Toilette. Er sagte, er tue es nur, weil er sie liebe, weil er ihr Wesen und ihr Potenzial voll entfalten wolle.
Nur im Notfall ging er zum Äußersten über und schlug sie so hart, dass dabei einer ihrer Knochen zerbrach. Das letzte Mal war es die Nase gewesen, was ihm hinterher doch leidtat, aber nicht viel, da es ihrer Züchtigung gedient hatte. Da er sie nie einem Arzt vorstellte, war auch dieser Bruch nur schlecht verheilt und durch die neu entstandene Krümmung des Nasenhöckers war ihr auch der letzte Funke Schönheit genommen worden. Das sagte er ihr. Sie würde keinen mehr abbekommen. Sie nicht. Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er bei ihr blieb.
Karin überlegte, wieviel Zeit vergangen war seit ihrem Umzug. Es waren drei Jahre und 97 Tage. Sie hatte mitgezählt. Einen Kontakt zur Außenwelt hatte sie nicht. Kurz nach ihrer Ankunft, hatte Thorben im Haus sämtliche Zeichen moderner Zivilisation entfernt. Nicht einmal ein Radio war ihr geblieben. Nur ein kleiner Bestand an Büchern, die sie schon mehrere Male gelesen hatte. Ein Wunder, dass sie die alte Bottichwaschmaschine nach längerem Bitten doch hatte behalten dürfen. So brauchte sie nicht sämtliche Kleidung mit der Hand durchzuwalken, seine Manschettenhemden natürlich schon. Diese mussten nach einer genau von ihm vorgegebenen Vorgehensweise gereinigt und gestärkt werden. Sie hatte es nicht gleich verstanden und sich nach dem ersten Mal verschämt bei ihm entschuldigt. Als auch das zweite Hemd nicht seinen Vorstellungen entsprach, hatte er ihren Kopf in die Seifenlauge gedrückt, sodass sie nicht atmen konnte und panisch um sich schlug, doch er griff ihre Arme und wiederholte die Prozedur noch zweimal. Noch tagelang brannten ihre Augen und waren hochrotentzündet, aber jetzt wusste sie wirklich, wie es ging.
Thorben arbeitete als verbeamteter Lehrer am Gymnasium in einer nahegelegenen Kleinstadt, die diesen Namen auch verdiente. Seine Kollegen mochten den 1,94 m großen, stets gut gekleideten und gutgelaunten, charmanten und redegewandten Mann. Dass er etwas übergewichtig war, machte ihn nur noch sympathischer. Meist wusste Karin, was für ein Glück sie mit ihm hatte. Doch als mit den Wintermonaten die Blumen aus ihrem Garten und die letzten wärmenden Sonnenstrahlen verschwunden waren, machte sich Erschöpfung in ihrem Körper breit, der schon wieder fünf Kilo verloren hatte. Immer öfter war sie unkonzentriert und machte Fehler. Immer öfter schlug er sie. Oft glitt sie jetzt über in einen Zustand der Apathie, es fühlte sich an, als verließe sie ihren Körper und dies war auch der einzige Wunsch, den sie noch hatte.
Am ersten Januar begann sie, ihn wöchentlich um eine Schlaftablette zu bestehlen. Immer hatte sie Panik, dass er es merken würde. Doch falls es ihm aufgefallen war, so hatte er es ignoriert. Zumindest war dies nie ein Grund zum Streit gewesen, nicht wie das Essen, oder der Fraß, wie er es nannte, den sie ihm vorsetzte, nachdem er stundenlang darauf hatte warten müssen, während sie sich in der Küche eine schöne Zeit gemacht hatte. Oder wie das Bad, dass sie nur nachlässig geputzt hatte, woraufhin er einen Eimer Dreckwasser ausgekippt und ihr damit eine zweite Chance gegeben hatte. Wenn sie nachdachte, würden ihr noch mehr Beispiele einfallen, aber sie dachte nicht mehr oft nach. Sie versuchte nur noch, seinen Wünschen zu gehorchen und eine gute Ehefrau zu sein. Es tat ihr leid, dass es oft nicht genug war, dass sie nicht genug war. Er hatte etwas Besseres verdient. Mittlerweile hatte sie 13 Tabletten beisammen und sie betete, dass dies ausreichen würde. Heute wollte sie es tun.
Es war noch sehr früh, erst vier Uhr dreißig. Nur mit einem knielangen grauen Nachthemd bekleidet, schlich sie auf Zehenspitzen ins Bad. Dabei musste sie an seinem Schlafzimmer vorbei, wo die Tür nur leicht angelehnt war. Selbst wenn es so aussah, dass Thorben schlief, konnte er jederzeit herausgesprungen kommen und ihre zarten 48 Kilo gegen die Wand schleudern, sodass ihre Lungen nach Luft schrien, während sie versuchte, jeden Schmerzenslaut zu unterdrücken, da diese ihre Tortur nur verlängern würden. Auch das hatte sie gelernt. Ein weiterer Schritt. Ihr Herz begann die Frequenz zu steigern. Sie versuchte sich zu beruhigen, konnte aber das Zittern ihrer Hände nicht unterdrücken. Sie dachte an den Bunker. Das nächste Mal würde er sie ein halbes Jahr dort einsperren, hatte er gesagt, ganz ruhig, als wenn es das Natürlichste von der Welt wäre, als wenn es seine Pflicht wäre und vielleicht war es das auch. Doch noch einmal dort unten und sie würde verrückt werden. Ein weiterer Schritt wie in Zeitlupe, die rechte Hand jetzt am Kreuz ihrer Kette, die sie momentan tragen durfte. Inbrünstig hoffte sie, dass keine der alten Dielen einen verräterischen Ton abgab. Nochmals blieb sie stehen und lauschte, doch es war nichts zu hören. Rein gar nichts. Das konnte ein schlechtes Zeichen sein. Das konnte heißen, dass auch er gerade hören wollte, was sie tat. Wieder klopfte ihr Herz schneller, setzte sogar einmal aus, bevor es den Rhythmus wiederfand.
Nach einer Unendlichkeit von weiteren zwei Schritten hatte sie es geschafft und schloss die Badezimmertür hinter sich ab. Den Schlüssel hatte sie zufällig auf dem Dachboden gefunden und Gott dafür gedankt, da Thorben nun einen Moment brauchen würde, bevor er sich mit roher Gewalt den Zugang zu ihr verschaffen konnte. Für ein paar Minuten war sie sicher. Vielleicht war dies heute ihre letzte Chance. Sie lief hinüber zum Spiegel, einem kleinen handgroßen Spiegel, der an der Rückseite des Badezimmerschranks vergessen worden war. Thorben mochte keine Spiegel. Er hatte sie alle entfernen lassen. Bis auf diesen. Er war alt und stumpf, vielleicht noch vom Onkel. Der Spiegel konnte seine Arbeit nicht mehr leisten und war dennoch begnadigt worden. Wenn sie sein Schicksal nur teilen könnte. In einem Anflug eines Wunsches nach Selbsterkenntnis schaute sie hinein und sah große blau-graue Augen zurückblicken, die einmal hübsch gewesen waren. Wann habe ich mich in die Frau im Spiegel verwandelt, fragte sie sich und zog eine Augenbraue in die Höhe. Doch die Frau im Spiegel antwortete nicht. Sie sah grässlich aus, ungesund und unglücklich. Aber da war noch etwas anderes, urplötzlich geboren in der Stunde höchster Not und Erregung und möglicherweise dem Rausch des Adrenalins in ihren Adern geschuldet. Sie sah, dass sich ihre Augen zu Schlitzen verengten, sie sah die Wut, die in ihr aufstieg, jetzt, wo es doch schon fast zu spät war. Es fühlte sich merkwürdig an, so unvertraut war dieses Gefühl in ihr. Doch jetzt schwoll es an wie die Trommeln im Bolero. Sie steckte den Arm in den Schrank und fand das Taschentuch, in dem sorgsam eingehüllt die Schlaftabletten steckten. Wieder blickte sie in den Spiegel, dann hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie würde es auf den Bunker ankommen lassen, schoss es ihr durch den Kopf, während sie gleichzeitig ein Geräusch wahrnahm, das aus Richtung Flur kam. Hastig legte sie die Schlaftabletten zurück an ihren Platz.
„Karin, was tust du? Wieso bist du nicht im Bett?“ Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie Thorbens Stimme vernahm. Sie musste ruhig bleiben, ruhig und normal klingen. „Es ist nichts, ich habe nur Bauchschmerzen. Es wird noch etwas dauern.“ Sie betete, dass er nicht versuchen würde, die Klinke zu drücken und dabei feststellte, dass die Tür abgeschlossen war. „Dann hast du wohl gestern wieder zu viel gegessen. Karin, ich sage dir doch immer, dass du nicht mehr als zwei Kartoffeln essen darfst. Aber gut. Wir werden dein Essen für heute streichen. Dann wird es dir bald wieder besser gehen. Beeil dich. Ich komme in fünf Minuten wieder.“ Ein leises Schlurfen verriet, dass er sich tatsächlich von der Tür entfernte. Fieberhaft arbeitete Karins Hirn an einem Fluchtplan.
Heute war Dienstag, das konnte ihr helfen. Heute würde der mobile Bäcker, Punkt 8 Uhr und mit drei Glockenschlägen vor ihrem Haus halten. Sie hatte nur einmal mit dem netten alten Herrn sprechen und zwei Mohnbrötchen und ein Landbrot kaufen dürfen. Es war für Thorben eine zu intime Situation dabei entstanden. Er hatte ihr vorgeworfen, mit dem Verkäufer geflirtet zu haben und sie auf ihr Zimmer geschickt. Von da an hatte er den Brotkauf selbst übernommen und sie hatte das Haus, was auf der Hinterseite von einer dichten Ligusterhecke umschlossen war, nur noch in Richtung Garten verlassen dürfen. Bis auf diesen Brotverkäufer, hatte sie niemals Kontakt mit einer anderen Person als Thorben gehabt.
So gering die Chance auch war, aber der Brotverkäufer konnte ihre Rettung sein. Sie musste es schaffen, sich die nächsten dreieinhalb Stunden im Wald zu verstecken und dann um Hilfe schreien. „Habe ich noch eine Stimme?“ flüsterte sie, um sich selbst zu vergewissern, dass nicht auch diese mit den Wintermonaten verlorengegangen war. Sie blickte an sich herunter. Nur im Nachthemd bekleidet wollte sie nicht das Haus verlassen. Dann fiel ihr ein, dass noch ihre nasse Kleidung vom Vortag im Waschbottich lag. Als kleinen Akt der Vergeltung hatte sie diese nicht mehr aufgehangen. Nach ihrem ursprünglichen Plan wäre sie schon dem Leben entflohen, wenn er es bemerkt haben würde. Jetzt zog sie schnell den feuchten Slip, den schwarzen Pullover und die klamme Jeans über. Alles klebte und fühlte sich unangenehm kalt an auf ihrer Haut. Nach ihrer Rechnung hatte sie jetzt noch zwei Minuten, bevor Thorben zurückkam. Sie betätigte die Spülung und eilte ans Fenster, um zeitgleich mit dem Rauschen des Wassers die quietschenden Fensterläden zu öffnen. Als sie die zwei Meter nach unten blickte, fragte sie sich, ob dies nicht doch ein dummer Plan sei, aber dann nahm sie das Kreuz an die Lippen, küsste es und begab sich in Gottes Hände. Hinter ihr wurde die Badezimmertür aufgebrochen. „Karin. Was tust du? Karin? Bist du denn jetzt völlig irre geworden?“ Sie hörte ihn schreien und toben, während sie versuchte, sich aufzurappeln. Der linke Fuß war merkwürdig verkrümmt. Doch sie spürte keine Schmerzen. „Karin. Bleib hier! Karin. Die nächste Tracht Prügel hast du dir selbst zuzuschreiben und der Bunker wartet schon auf dich!“ Kurz sah sie nach oben. Für eine Millisekunde trafen sich ihre Blicke. Dieses Mal würde sie es nicht überleben, las sie in seinen Augen, bevor sie sich mit den Händen aufstützte und sich humpelnd zur Hecke bewegte. „Karin. Verdammt nochmal. Karin. Wo willst du denn hin? Hier gibt es nichts als tote Bäume. Niemand wird dir helfen. Nur ich kann dir helfen. Karin, bleib stehen!“ Doch Karin dachte nicht daran.
Es gab jetzt nur noch zwei Optionen und keine von beiden beinhaltete ein Weiterleben mit Thorben. Sie zwängte ihren Arm durch den Liguster und sofort war er von Schrammen übersäht und einige Stellen fingen an zu bluten. Mühsam schob sie ihren Körper hinterher, bemüht darum, ihre Augen zu schützen, was das Durchkommen nur noch schwieriger machte. Aber irgendwie gelang es ihr. Auf der anderen Seite angekommen, war ihre Bluse zerfetzt und ihre Haut blutig aufgerissen, aber für einen Moment fühlte es sich gut an, das Gefängnis verlassen zu haben. Dann begriff sie, dass die eingetretene Ruhe bedeutete, dass er aus dem Haus gerannt war und sie in Kürze hier aufgreifen würde. Panisch sah sie sich um. Ein dichter Wald mit größtenteils abgestorbenen alten Kiefern breitete sich vor ihr aus. Sie lief los. „Karin, ich warne dich. Karin, du begehst einen schweren Fehler. Ich werde dich dafür bestrafen müssen. Karin, das siehst du doch ein, oder?“ Sie versuchte, ihren Atem anzuhalten. Sicher hatte sie einen Abstand von gut 50 Metern herausgearbeitet, der schnellste war Thorben nicht mehr, aber das war nicht genug. Außerdem musste sie sich orientieren. Sonst fand sie später den Weg nicht mehr zurück und würde um 8 Uhr nicht an der Straße sein können. Dass der Mond seinen vollen Stand erreicht hatte, war Segen und Fluch zugleich. Sie konnte ihre Umgebung gut erkennen, aber auch Thorben würde sie gut sehen können, wenn sie einen falschen Schritt machte. Noch versteckte sie sich hinter einer mächtigen Tanne. Um 6.37 Uhr würde die Sonne aufgehen. Sie hatte ein ausgeprägtes Zahlengedächtnis und sich irgendwann in ihrer Jugend zu jedem Datum des Jahres die Zeiten der Sonnenauf- und Untergänge eingeprägt. In jungen Jahren hatte man sie für ein Wunderkind gehalten. Thorben hatte sich darüber immer lustig gemacht. Hatte all ihre Fähigkeiten für wertlos gehalten, bis sie das auch getan hatte. Nun, vielleicht würden sie ihr heute zugutekommen. Das Ende dieses Tages kannte bisher nur Gott allein.
Sie riss sich einen herabhängenden Fetzen ihrer Bluse hab und verband damit notdürftig den linken Fuß. Jetzt, da sie etwas mehr Stabilität spürte, drang sie weiter in den Wald ein und trotz seines Namens erschien er ihr wie das schönste, begehrenswerteste Fleckchen Erde, dass sie je zu Gesicht bekommen hatte. Ein Knacken eines Astes verriet ihr, dass Thorben ihre Spur aufgenommen hatte. Wohin nur, wohin? Hinter einer Anhöhe vermutete sie einen verlassenen Fuchsbau. Thorben hatte ihr oft von dem Untier erzählt, das er erschießen wollte, doch er hatte ihn nie vors Rohr bekommen. Karin freute sich für den kleine Fuchs, dass ihm die Flucht gelungen war. Jetzt versuchte sie, zu seiner Höhle zu kommen, deren Eingang mit vielerlei Ästen und Gestrüpp gut verborgen lag. Karin kroch jetzt auf dem Boden und Schmutz und Erde vermischten sich mit dem Blut auf ihrem Körper. Am Fuchsbau angekommen, verbarg sie sich so gut es ging im Unterholz und wartete. Die plötzlich eingetretene Stille war fast noch unheimlicher als die lauten Flüche, die Thorben bis eben noch ausgestoßen hatte. Er schien seine Taktik geändert zu haben. Karin wusste, dass sie jetzt alles getan hatte, sie konnte nur noch abwarten und beten. Wenn er sie fand, war ihre Leben vorbei. Doch er fand sie nicht. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass sie zurückkam und in seine Falle lief. Wie auch immer diese aussah. Und wenn es nur seine Arme waren, die wie Dampfhämmer alles Leben aus ihr herauspressen würden.
Langsam stieg die Sonne über den Horizont. Sie kämpfte gegen die Müdigkeit und die Kälte. Sie wollte nur noch schlafen. Friedlich einschlafen. Aber als sie das Kreuz nochmals an ihren Mund führte, um es zu küssen, hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde eine Vision von einem kleinen Mädchen mit großen blauen Augen, dass auf ihrem Schoss saß und sie Mama nannte. Nein, das hier war noch nicht zu Ende. Sie schaute auf die alte mechanische Uhr, die ihr ihre Mutter zum Abschied geschenkt hatte und eine Träne rollte über ihre Wange. Dann straffte sie sich und versuchte zu dem Gefühl der Wut zurückzukehren, dass ihr vorhin die immense Kraft verliehen hatte. Es war jetzt kurz vor sieben. Noch eine Stunde. Sie versuchte anhand der Abstände der Bäume zu errechnen, wie viele Meter sie noch in den Wald eindringen konnte, bevor sie nach links abbiegen musste um in möglichst großer Entfernung um das Totendorf herumzulaufen und dennoch rechtzeitig an der Hauptstraße zu stehen, wenn der Backwagen eintraf. Langsam stand sie auf und suchte sich einen langen Stock, um den Fuß zu stützen. Die Wirkung des Adrenalins hatte nachgelassen und ein pochender Schmerz war eingekehrt, der sich mit jeder Belastung verstärkte. Mit dem Stock ging es. Trotzdem würde es knapp werden. In dem von ihr errechneten Laufradius würde sie 70 Minuten brauchen. Vielleicht kam sie zu spät. Nochmals schüttelte sie energisch den Kopf. „Ich werde jetzt nicht aufgeben.“, flüsterte sie in die Stille des Waldes. Die Antwort, so schien es ihr, kam von einem Buntspecht auf der gegenüberstehenden Fichte, der eifrig klopfte. Für Karin hörte es sich wie ein „Ja gut, ja gut“ an.
Karin war noch immer von dichtem Wald umgeben, als sie eine Stunde später das Läuten des herannahenden Bäckerwagens vernahm. Sie hatte zwar die Orientierung behalten, aber war doch langsamer vorangekommen als vermutet. Der ganze Körper schmerzte mittlerweile unendlich und wieder hatte sich eine Stimme in ihrem Kopf eingenistet, die ihr eingab, dass alles keinen Sinn hatte, dass sie aufgeben und sich stellen sollte. Vielleicht würde er ihr verzeihen, wenn sie ihn auf Knien darum anflehte? Vielleicht konnte sie sogar den Bunker überleben? Was war schon ein halbes Jahr? Aus der Ferne drang das Zwitschern des Buntspechts an ihr Ohr. Es vertrieb die dunklen Gedanken und bei jedem weiteren Schritt lauschte sie nur noch auf ihn. Ein dreifaches Läuten, der Wagen war jetzt zum Stehen gekommen. Karin hatte sich der Hauptstraße genähert, glaubte, Thorben an der geöffneten Verkaufsfläche zu sehen. Aus reinem Instinkt heraus begann sie, die Straße hinaufzulaufen in Richtung des Wagens und laut zu schreien. Dass auch Thorben sie hören würde, war ihr klar. Doch war es ihre einzige Chance. Kurz bevor sie das Auto erreicht hatte, fuhr es plötzlich los und Thorben kam dahinter zum Vorschein. „Karin, da bist du ja.“ Sagte er mit ruhiger Stimme. „Ich wusste doch, dass du zur Vernunft kommst. Das Schreien kannst du übrigens unterlassen. Er hört dich nicht. Trägt bei der Fahrt immer Kopfhörer.“ Mit einem letzten Willensakt stürmte Karin an ihm vorbei und dem Auto hinterher. Er packte sie und warf sie zu Boden. Schlug sie hart ins Gesicht, mit der Faust, immer und immer wieder. So wütend hatte sie ihn gemacht.
Da passierte es, sie verließ ihren Körper und sah die Szene von oben. Sah ihren gemarterten Körper unter seinen Fleischmassen liegen und fühlte sich völlig frei, in einem Sonnenlicht, das ihr voller Liebe schien, fühlte sie sich zum ersten Mal seit drei Jahren und 97 Tagen glücklich. Vollends glücklich. Aus der Ferne sah sie, wie das Bäckerauto kehrt machte und ein Mann ausstieg, der hektisch zu telefonieren schien und gleichzeitig etwas in Thorbens Richtung schrie. Sah, wie Thorben von ihr abließ und ins Haus flüchtete, später den Krankenwagen, der ihren Körper aufnahm und mit Blaulicht davonfuhr. Dann löste sie sich auf und erwachte erst zwei Wochen später im Krankenhaus. Ihre Mutter saß an ihrem Bett.