Dreizehn Kacheln oder: Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet
Dreizehn Kacheln oder: Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet
Als es laut wurde und alle sich erhoben, stand auch er auf. Krampfhaft presste er seine schweißigen Hände zusammen. Sein Blick wanderte vom Klettverschluss seiner schwarzen Schuhe über den Fußboden nach vorne bis zur Kante. Er zählte die Kacheln. Von ihm bis zum Podest waren es dreizehn, das wusste er mittlerweile. Aber was sollte er sonst zählen. Auf dem Boden vor ihm war kaum etwas anderes von Interesse.
In diesem ruhigen Moment spielerischer, elementarer Mathematik platzte der dumpfe Alt seiner Schwester. Alle um ihn herum hatten angefangen zu singen. Aufgeschreckt drehte er sich um und griff nach dem Gesangbuch. Hastig fuhr er wieder herum. Wie im Daumenkino raste sein Blick durch die Seiten.
„Mama, wo denn?“
Seine Mutter griff ruppig nach dem Buch, schlug es auf, blätterte und gab es ihm zurück. Er griff es sich, senkte den Kopf wieder. Kaum merklich begann er seine Lippen zu bewegen – ohne allerdings Töne zu erzeugen. Zumindest las er mit und seine Lippen formten Worte. Dann Zahlen. Neun, zehn, elf, zwölf. Es waren immer noch dreizehn Kacheln. Ob dieser Erkenntnis oder aus Unachtsamkeit entglitt das Gesangbuch seinen feuchten Händen und klatschte auf Kachel Nummer eins; sein Kopf: ein Feuermelder. Erschrocken schaute er hinter sich. Aber niemand hatte das Missgeschick mitbekommen. Fast.
„Basti!“
Kurz, dafür kraftvoll packte seine Mutter seinen Arm. Schnell wollte er das Gesangbuch wieder aufheben, stieß aber mit dem Fuß dagegen. Er musste einen Schritt nach vorne machen.
„Hör jetzt auf! Benimm Dich endlich anständig!“
Das Lied war aus. Mühselig fingerte er in seinen Kragen und versuchte ihn zu weiten. Für einen Augenblick wurde es laut als alle wieder auf den Bänken Platz nahmen. Er gab auf, wischte sich nur kurz über die schimmernde, schmierige Stirn.
„Mama, mir ist so warm.“
Sie hörte ihn nicht. Ihre Ohren hatten sich in den Armen von Papa vergraben. Sie heulte hemmungslos. Und ihre Tränen ließen aus „warm“ ein „heiß“ werden. Basti drehte sich um. Ein Hilfe suchender Blick zur Schwester. Die hatte aber nur Augen und Ohren für den Pfarrer. Wieder zur Mama. Er atmete schwer.
„Ach ich mach einfach das Jackett hier vorne auf. Dann ist`s schon gar nicht mehr so warm, Mama. Mama?“
Minutenlang stierte er auf die Kacheln. Ohne sie zu zählen.
Irgendwann stand die erste Reihe auf und verließ langsam die Kirche. Auch Basti. Dabei war jeder seiner Schritte eine abgeschlossene Bewegung. Er konzentrierte sich auf jeden Einzelnen. Bis seine Schwester seine Hand nahm.
Draußen schaute er wie alle dem Sarg hinterher. Aber nur bei ihm formten die aufgerissenen Augen die Augenbrauen zu einem flachen M der Verwunderung.
„Was ist da drin?“
Seine Schwester kniete sich hinter ihn und legte ihre Arme um ihren Bruder.
„Opa.“
Seine Augenbrauen: ein spitzes V der Ratlosigkeit. Er drehte sich um.
„Was macht Opa denn da drin?“
Behutsam schob ihn seine Schwester wieder herum und hielt ihn von hinten fest.
„Opa schläft, Basti.“
„Aber wie kommt Opa da wieder raus, wenn er aufwacht?“
„Gar nicht. Opa schläft für immer. Er wird nicht wieder aufwachen.“
Ihr Griff lockerte sich. Als sie aufstand, ging Basti ein paar Schritte nach vorne. Näher zu dem Auto, in das der Sarg geschoben wurde. Er schob seinen Kopf leicht vor, drehte ihn zur Seite. Dann schnellte er herum und rief nach seiner Schwester.
„Ist er wirklich so müde?“
© 2005 by Maxinho