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- 01.09.2005
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Drogenuntod
Kurz vor dem Erwachen hatte Andreas Hirn das Klingeln des Telefons in seinen Traum eingebunden. Er hatte sich auf einem sinkenden Schiff befunden und die Alarmglocke, die die Passagiere warnen sollte, hatte befremdlicherweise den piepsigen, digitalen Klang eines modernen Tastentelefons gehabt. Jetzt riss er die Augen auf und stellte erleichtert fest, dass seine Füße trocken waren. Noch vor Sekunden hatte sie das eiskalte Meer benetzt, eine nasse Ahnung von der bevorstehenden Qual des Ertrinkens.
Andreas richtete sich auf, machte die Nachttischlampe an, wischte sich mit der Hand durch das Gesicht und beseitigte dabei Schweiß und die Erinnerung an seinen Traum. Die wachende Welt hatte ihn wieder. Er sah auf die Uhr und fluchte. Zwei Uhr Fünfzehn. Den Hörer umklammernd, als wolle er ihn in zwei Teile brechen, legte er sich wieder hin.
„Hallo?“
„Hallo?“
„Hallo?“
„Hallo?“
„Was soll der Scheiß, wer ist da?“
Schneller Atem am anderen Ende. Andreas spielte mit dem Gedanken, aufzulegen und das Telefon für den Rest der Nacht aus der Buchse zu ziehen, als der Anrufer sagte:
„Das würdest du mir eh’ nicht glauben. Entschuldige das vorhin, der Empfang ist hier unten nicht sehr gut.“
„Wer ist denn da, verdammt noch mal?“
Eine überflüssige Frage. Nur ein Kunde rief um die Uhrzeit an. Andreas hatte davon gehört und auch selbst gesehen, wie die Gier nach Heroin Leute zu Dingen getrieben hatte, die der tolldreisteste Schriftsteller als „unglaubwürdig“ aus seinem Manuskript gestrichen hätte. Anrufe zu nachtschlafender Zeit waren da die Spitze des Eisberges, an dessen Boden sich Geschichten von Frauen tummelten, die den Bauch ihres Säuglings mit einer Bastelschere öffneten, nachdem das Kind das letzte Tütchen H im Haus verschluckt hatte.
„Was willst du?“
Mit Fingern, aus denen langsam die Müdigkeit wich und die Kraft eines sportlichen, wachen, achtundzwanzigjährigen Mannes zurückkehrte, öffnete Andreas seine Nachttischschublade und holte einen Schlagring daraus hervor. Der Penner sollte seinen Stoff kriegen. Den Stoff plus ein kleines Extra auf Kosten des Hauses.
„Ich ... ich brauche deine Hilfe ...“
Andreas stand auf und machte einige Schlagübungen mit der Hand, die nicht den Hörer hielt. Er spürte seine Geduld schwinden wie Wasser aus einem undichten Fass.
„Du sagst mir jetzt, wer du bist, oder ich lege auf und du kannst von mir aus den Rest der Nacht Turkey schieben! Ist das klar?“
„Andi, ich ... Du musst hierher kommen, wo ich bin, wo du mich zuletzt gesehen hast. Also wirklich zuletzt. Ich komme hier ohne deine Hilfe nicht raus. Ich ...“
„Meine Freunde nennen mich Andi, du Wichser. Ich leg jetzt a-“
„Hier ist Phillip. Phillip Kriet. Porno-Phillip.“
Andreas hastete zum Lichtschalter und trat dabei einen Stapel DVDs um, der vor seinem Schlafzimmerfernseher stand. Die Dunkelheit war plötzlich unerträglich geworden. Er versuchte, gefasst und unbeeindruckt zu klingen, als er sagte:
„Das ist ja zum Totlachen, Mann. Ein irrer Brüller. Wer ist da? Lucky? Sagt dir das Wort ‚Geschmacklos’ irgendwas?“
Am anderen Ende schien der Anrufer Tränen zu unterdrücken.
„Bitte leg nicht auf, Mann. Ich brauch dich. Du warst ... bist mein bester Freund, und ich brauch dich jetzt und hier.“
„Die Stimme ist nicht schlecht. Jetzt, wo ich drauf achte, klingt es wirklich ein bisschen wie Phillip. Was den Witz nicht witziger macht. Gute Nacht.“
„Warte! Oh Gott ... Andi, Mann ... Wie kann ich ... Weißt du noch, wie wir damals auf LSD miteinander rumgemacht und es auf Video aufgenommen haben?“
Röte legte sich heiß auf Andreas Gesicht.
„Und du kleines Arschloch bist irgendwie an das Band gekommen und willst mich jetzt erpressen, oder was? Wer ist da, verdammte Scheiße?“ schrie er. Aus der Wohnung des Werkzeugmechanikers nebenan trommelte wütendes Klopfen gegen die viel zu dünne Gipswand.
„Nein, nein ...,“ wimmerte die Stimme am anderen Ende. „Überleg mal! Es geht darum: Wem hast du’s erzählt? Doch wohl niemandem, oder? Und ich auch nicht, das garantiere ich dir. Es war ja nur ’n Experiment, deswegen ist man ja nicht gleich ’ne Schwuchtel, aber wir beide wissen, wie einem so was den Ruf ruinieren kann in diesem Geschäft-“
„Zum letzten Mal: Wer ist da?“ Andreas legte den Schlagring zurück in die Schublade und nahm stattdessen ein Butterflymesser heraus. Er stellte sich vor, wie er es in die Eingeweide des Anrufers rammte.
„Die Nummer!“, schrie die Stimme am anderen Ende.
„Was?“, fragte Andreas.
„Die Nummer! Du kennst doch meine Nummer auswendig! Sieh auf dein Display, Mann.“
Das tat Andreas, erkannte die Zahlenfolge, spürte die Kraft aus seinen Beinen weichen und setzte sich auf den kalten Linoleumboden.
„Ich ... bin unterwegs“, stammelte er.
„Bring was zum Graben mit! Oh Gott, ich danke dir, Mann!“
Andreas legte auf. Er wusch mit eiskaltem Wasser sein Gesicht, um sich zu vergewissern, dass er nicht noch immer träumte. Dann machte sich mit einem Spaten aus dem Gemeinschaftsgartenhäuschen seiner Mietskaserne auf zum Südfriedhof, wo er vor einer Woche „Porno-“ Phillip Kriets Beerdigung beigewohnt hatte.
Bela Lugosi ließ sich in seinem Dracula-Umhang begraben. Mit seinem Geschäftshandy in der Tasche die finale Reise anzutreten ist die Vorstellung eines Dealers von Letzter-Vorhangsromantik. Man nimmt etwas mit sich, das symbolisch für das Leben steht, das man gelebt hat, so als könnte man damit auf der anderen Seite aufschneiden und zeigen, zu was man es gebracht hatte. In Philip Kriets Nummernspeicher befanden sich, genau wie in dem von Andreas, die Durchwahlen von Kunden und Geschäftspartnern – Junkies und Dealern.
Andreas zündete sich eine Zigarette an und drehte das Radio laut. Der Empfang ist hier unten nicht sehr gut. Großer Gott ...
In der Schule hatte er Das vorzeitige Begräbnis von Edgar Allan Poe gelesen. Die Vorstellung, in einer Kiste zu erwachen, mit einer Elle Luft zwischen sich und dem gnadenlosen, unnachgiebigen Holz, hatte ihn jahrelang nicht mehr losgelassen. Etwas in ihm hatte ihn regelrecht gezwungen, so viel wie möglich zu dem Thema zu lesen oder anzuschauen, auch wenn er jedes Mal gewusst hatte, dass die erneute Beschäftigung mit dem furchtbaren Schicksal der irrtümlich Verabschiedeten ihm wieder viele Nächte den Schlaf rauben würde.
Einmal hatte er im Fernsehen einen Bericht über die Geschichte der Bestattung gesehen, in dem unter anderem davon die Rede gewesen war, dass man in den USA Menschen eine Zeit lang auf Wunsch mit Telefonen begraben hatte – für alle Fälle. Andreas erinnerte sich daran, wie er nachts wach gelegen und sich gefragt hatte, für wen der Horror wohl größer war: Den Eingesargten oder den, bei dem das Telefon klingelt und der ... Er hatte lange darüber nachgedacht, was man wohl am anderen Ende hören würde. Ein Schreien, ein Weinen, ein Kreischen, oder aber eine nüchterne Umstandsbeschreibung, die Stimme gefestigt von der Hoffnung auf die baldige Rettung? Alter, ich hoffe du sitzt, du rätst im Leben nicht, wer dran ist, hahaha.
Nun war dieser vergessene Alptraum der Adoleszenz zurückgekehrt, nicht verdientermaßen eingesperrt auf der Leinwand eines Kinos oder den Seiten eines Buches, sondern entfesselt und freigesetzt in derselben Welt, in der Schulabgänger Ausbildungen zum Industriekaufmann beginnen und Fußballweltmeisterschaften ausgetragen werden. Andreas fühlte sich, als hätte er in einer Jauchegrube gebadet, als ihm klar wurde, dass er so etwas wie Freude empfand, weil es nicht ihm passiert war.
Das Nikotin und die frische Luft, die durch den offenen Fensterspalt ins Auto drang, ernüchterten seinen Verstand zunehmend. Seine Beine zitterten weniger heftig. Seine Gedanken begannen wieder, die Form von Sätzen anzunehmen. Mit der Ordnung des Kopfes kamen analytische Fragen, Fragen nach der Logik, die nun nicht länger von der überwältigenden Grauenhaftigkeit der Situation unterdrückt wurden.
Andreas machte das Radio leiser. Schleppend erlosch mit der Lautstärke auch die lateinamerikanische Feuer in Shakiras trotzig geschmetterten „Don’t bother, I’ll be fine.“
Erstens: Auch mit Handys der neuesten Generation hatte man für gewöhnlich Netzprobleme, wenn man z.B. in der U-Bahn versuchte, zu telefonieren. Philip lag unter einigen Kubikmetern Erde.
Zweitens: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass man noch einmal lebend im Sarg erwachte, wen man als Drogendealer bei Revierstreitigkeiten ums Leben gekommen war, den Hals in Scheiben geschnitten von zwei geübten Messerstößen?
Ein verständnisloses „Pff“ kam über Andreas Lippen. Das Licht seiner Scheinwerfer ließ den Hinweis „Südfriedhof 2 km“ in der Dunkelheit erstrahlen.
Die frische Erde des Grabes war ausgehoben worden, der Sarg aufgebrochen. Er war leer. Vielleicht hatte Philip zur Sicherheit mehrere Leute angerufen, für den Fall, dass der eine oder andere schlafbesoffen „Ja, klar, bin gleich da“ in den Hörer stöhnte, um sich anschließend wieder ins Bett zu legen, im Halbschlaf fluchend über den nächtlichen Scherzkeks.
Philips Grab befand sich nahe des Einganstores West, das an einer unbefahrenen Landstraße lag, von der Andreas jetzt Stimmen hörte. Er machte die Taschenlampe aus und versteckte sich hinter einer Gruft. Einige Meter entfernt, auf dem schmalen Grünstreifen zwischen Straße und Friedhofszaun, legten zwei Männer einen gefesselten dritten in den Kofferraum eines Wagens.
Es war dunkel und für einen Moment redete Andreas sich ein, das schwache Licht einer entfernten Straßenlaterne würde seinem Sehsinn einen fiesen Streich spielen, doch dann war er sicher: Im Kofferraum des Wagens wand sich, gekleidet in den dunkelblauen Anzug, in dem er beerdigt worden war, Philip Kriet. Der französische Akzent, mit dem Philips Entführer (Grabschänder?) sprachen, ließ Andreas von Drogen und Alkohol auf Sparflamme gehaltenes Gedächtnis explodieren: Die Dealer aus Tahiti!
Einige Wochen zuvor, als Philip noch lebte, hatten die beiden versucht, sich in den Markt zu drängen – zunächst friedlich. Mit ihrem albernen Akzent und ihrem Getue, ihrem Image, das man vielleicht mit „Gangsta-Rap meets Voodoo“ umschreiben könnte, hatten sie eine Abfuhr nach der anderen kassiert. Keine Kooperation, keine teilweisen Revierüberlassungen, auch nicht bei Zahlung einer Gebühr. Niemand hatte diesen schwarzen Inselclowns mehr zugetraut als in der Asidisco zu Aggro-Berlin-Beats böse zu gucken.
Kein Dealer sieht gerne unnötig viele Wettbewerber oder Teilhaber auf dem Markt. Jeder Partner ist gleichzeitig ein potentieller Konkurrent, jeder Freund kann aufgrund seines Wissens schnell der Typ werden, der dich für dreißig Silberlinge der Prägung „Strafmilderung“ an die Bullen verpfeift.
Als die Tahitianer sich zum dritten Mal bei ihm vorstellten, um ihm ein Angebot zu unterbreiten und dabei so taten, als wären sie in der Lage, ein „Nein“ mit dem Auslösen des dritten Weltkriegs zu vergelten, hatte Phillip einen der beiden – szeneintern zu dem Zeitpunkt bekannt als „Der Neger mit ohne Zähne“ - mit einem Luftgewehr in die Eier geschossen.
Als Andreas den Anruf bekam, dass man Philip mit tranchiertem Hals in einer Straßenecke gefunden hatte, waren die beiden Möchtegerns im Milieu schon wieder vergessen. Witzige Trottel, die keine zwei Wochen in diesem Geschäft überlebt hätten, da war man sich einig gewesen.
Philip war geknebelt. Die Laute aus seinem Mund klangen, als würde jemand unter Wasser schreien.
Andreas steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und schulterte den Spaten links, der rechte Arm baumelte betont lässig an seiner Seite. Ein cooler Auftritt war die halbe Miete. Psychologische Kriegsführung. Wenn er so locker wie scheiß Clint Eastwood in diesen italienischen Western plötzlich vor ihnen stehen würde, vielleicht liefen sie dann nach ihrer Mama schreiend in die Nacht hinaus und überließen ihm kampflos das Feld. Und vielleicht konnten Schweine wirklich fliegen, wenn man ihnen nur genug Zeit ließ.
Andreas atmete noch einmal tief durch und betrat dann das Geschehen, wenige Meter von dem Kofferraum entfernt, in dem sich sein verstorben geglaubter Freund wand. An den Schuhen und Hosenbeinen der beiden Schwarzen klebte frische Erde. Sie verteilten sie überall wo sie standen und gingen. In der Dunkelheit sah es so aus ... Eine Sekunde lang zog Andreas in Betracht, das Gespräch mit der Indiskretion einer vermuteten Stuhlinkontinenz seiner Gegenüber zu beginnen, entschied sich dann aber für einen weniger filmreifen Auftakt.
Er räusperte sich.
Die beiden Schwarzen fuhren herum. In ihren Augen glänzte der Schrecken, den das unerwartete Ableben der nächtlichen Stille ihnen eingejagt hatte. Sie hielten sich am Kofferraum fest wie Senioren an ihren Gehhilfen. Andreas unterdrückte ein Lächeln. Erste Spielminute, Tor. Porno-Philip machte ein Gesicht wie jemand, der nach zweieinhalb Stunden Fahrt in einem Zug mit kaputter Toilette endlich Wasser lassen konnte.
Einer der beiden Schwarzen kam langsam auf Andreas zu. Er hatte sich sichtlich gefangen. Jetzt begann der schwierige Teil.
„Was willsdu, blöder Wichser, blöder?“, fragte er und zog dabei ein Stilettmesser aus seiner Hosentasche.
Andreas überlegte einen Moment, die Zigarette aus seinem Mundwinkel zu nehmen, wurde sich dann aber bewusst, dass die Geste das Zittern seiner Hände verraten könnte und blieb also stehen, unbeweglich wie der Eifelturm.
„Willst du nicht erst mal wissen, wer ich bin?“, fragte er den Schwarzen zurück.
Der drehte sich zu seinem Kompagnon um, der ihn angrinste. Andreas sah, dass es sich bei dem am Auto Gebliebenen um den Neger mit ohne Zähne handelte.
„Wer bisdu, blöder Wichser, blöder?“, fragte der mit Zähne und grinste jetzt ebenfalls.
Andreas spuckte durch den Mundwinkel ohne Zigarette.
„Ich bin der Totengräber.“
Lautes, schallendes Lachen aus dem Mund mit Zähnen. Es klang wie eine Hyäne, die den Mond angackert.
„Und was willsdu, Totengräberwichser, blöder?“
Andreas spuckte wieder.
„Ihr zwei Tucken habt mich beklaut.“
Clint Eastwood wäre stolz gewesen.
Der Neger mit Zähne fügte der Nachtluft einige Schnitte mit seinem Messer zu, so als würde er eine unsichtbare Ente in tellergerechte Portionen schneiden. Dabei kam er langsam auf Andreas zu und sagte: „Und was genau willsdu dagegen machen, blöder Wichser, blöder?“ Er hatte die zweite Silbe von ‚machen’ betont.
Plötzlich blieb der Schwarze stehen und grinste noch ein bisschen breiter.
„Oh, c’est tu!“ lachte er. „Du bist tatsäschlisch gekommen! Obwohl er natürlisch der Plan war, disch hierher zu locken, hätte isch niemals gedacht, dass du ... eh bien. Bisdu bereit, blasser Wichser, blasser?“
Da Angriff die beste Verteidigung ist und Andreas, den Zustand Porno-Philips bedenkend, keine Lust hatte herauszufinden, für was genau er bereit sein sollte, schwang er den Spaten von seiner Schulter, griff ihn auf halbem Wege mit beiden Händen und ohrfeigte damit seinen Gegenüber. Der sah ihn überrascht mit dem linken Auge an. Das rechte hatte die Form eines Eis angenommen. Aus dem Loch an der Stelle, wo die Haut sich zuvor über den Jochbeinknochen gespannt hatte, hätte man Wasser trinken können.
Der Geohrfeigte stolperte rückwärts und fiel auf den Hosenboden, sagte etwas, das klang wie „Opp,“ und legte sich dann auf die Straße, genauso ungebremst wie man sich erschöpft auf eine weiche Matratze fallen lässt.
Der Komplize schien in Panik, was Andreas verriet, dass der führende Kopf dieses Joint Ventures gerade aus Nase, Mund und Auge auf den Asphalt blutete. Der zahnlose Schwarze – einige dunkelgelbe Stümpfe waren alles, was ihm von seinem gottgegebenen Gebiss geblieben war – zog eine Pistole hervor und entsicherte sie mit zittrigen Fingern. Er hatte noch Zeit, etwas auf Französisch zu fluchen, dann traten Porno-Philips schwarze Lackschuhe ihn aus dem Wagen heraus in den Rücken, so dass er über seine eigenen Füße stolperte und vornüber auf die Straße fiel.
Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht dachte Andreas, er würde träumen, denn obwohl die Art des Fallens einen schmerzhaften Sturz hatte erahnen lassen, war er sicher, dass ein Kopf dabei unmöglich explodieren konnte. Dann wurde ihm klar, dass der unglückliche Angreifer auch verdammt unglücklich gefallen war – Der Lauf direkt im Gesicht hatte das PENG! der Pistole zu einem PETUFF! abgemildert, gefolgt vom Plätschern eines feinen Regens aus Blut, Hirn und Knochensplittern.
Andreas ging auf den Kofferraum des Wagens zu und übersprang angewidert die Sauerei, die die maßlose Ungeschicklichkeit hinterlassen hatte: “Iiiihhmboa ...“ Er befreite seinen Freund von dessen Fesseln und bekam eine Geschichte zu hören, von der er vermutete, dass sie genau so oder ähnlich zeitgleich bei irgendeinem B-Filmstudio in Drehbuchform in einer Schreibtischschublade mit der Aufschrift „Nur für Notfälle!“ Staub fing.
Die zwei Jungs aus Tahiti – Patrice (mit Zähne) und Francois (ohne) hatten offenbar keine Lust mehr gehabt, die Pausenclowns zu geben und hatten beschlossen, sich mit Hilfe von Voodoo-Magie aus der Heimat in den hiesigen Drogenhandel zu hexen.
Patrice war, wie Andreas bereits vermutet hatte, derjenige mit Köpfchen und vermutlich auch, wenn man das so nennt, derjenige mit den Priesterqualitäten gewesen. Er hatte Philip das gelbe Pulver ins Gesicht gepustet, an dem Abend, an dem sie ihm aufgelauert hatten. Francois hatte ihm das Messer in den Hals gerammt. Und es war Patrice gewesen, der Philip ins Ohr geflüstert hatte, was als Nächstes passieren würde, als er verblutend auf der Straße gelegen hatte. Patrice und Francois wussten um den Szene-Brauch, Dealer mit ihrem Handy zu beerdigen. Patrice hatte Philip „behandelt.“ Er hatte einen Zombie aus ihm gemacht. Und wie von Patrice prophezeit, erwachte Philip als lebender Toter in seinem Grab.
Patrice und Francois hatten den völlig verstörten Philip aus seinem Sarg befreit. Mit der Macht, die ein Voodoopriester über „seinen“ Zombie ausübt, hatte Patrice Philip gezwungen, Andreas anzurufen und hierher zu locken. Eigentlich hatte es nur ein Spaß sein sollen, ein Experiment. Die eigentliche Idee war es gewesen, Philip zu seinen ehemaligen Dealerkollegen zu schicken. Ein bekanntes Gesicht, sie lassen ihn rein, aber, wow, warst du nicht tot, bin ich schon so besoffen? Philip sollte sie töten und zombiefizieren, ein Feind, ferngesteuert und mit dem Gesicht eines alten Freundes, weshalb ihm wohl jeder trauen würde, bis es zu spät war. Jedes unverhoffte Wiedersehen alter Freunde und Geschäftspartner würde Patrice und Francois einen neuen untoten Sklaven bringen. Schließlich würden sie die heimische Drogenszene mit ihrer Zombiearmee überrennen.
Dann war Andreas wider Erwarten tatsächlich aufgetaucht. Ende der Vorstellung.
Zigarettenrauch quoll aus den schlecht vernähten Wunden an Philips Hals. Er steckte seinen Zeigefinger bis zum zweiten Glied in eines der Löcher.
„Mann, meine Eltern sollten ihr Geld zurückverlangen! Welches Bestattungsunternehmen hat mich zusammengeflickt?“
Andreas hatte die Augen geschlossen und wiegte seinen Kopf in den Händen. Er sagte: „Was? Weiß nicht ... Weiß ich nicht mehr, Mann. Was ... machen wir denn jetzt?“
„Wir schütten mein Grab zu und hauen ab. Was weist denn hier schon großartig auf uns hin? Ein Idiot hat mit ’ner Pistole gespielt. Puff! Du hast seine Pupillen nicht gesehen. Ich will nicht wissen, was die Polizei alles in seinem Blut findet.“
Patrice hatte angefangen, sich zu bewegen. Kraftlos ruderte er mit den Armen und stöhnte nach seiner „Maman.“
„Was machen wir mit dem?“, fragte Andreas.
Ein Gewitter zog in Philips Augen auf. In den Blitzen sah Andreas die Antwort auf seine Frage gemein leuchten.
„Oh ... Oh, Mann, komm schon, das ist nicht dein Ernst, ich kann doch nie wieder schlafen-“
„Das tut mir leid für dich, aber weißt du, mein Tag war auch nicht so toll.“
Philip nahm die Seile, die ihn bis eben gefesselt hatten, aus dem Kofferraum des Wagen. „Schnapp dir den Spaten, Andi.“
Sie fesselten den immer noch benommenen Patrice und trugen ihn zu Philips Grab. Als der Schwarze gewahr wurde, was sie vorhatten, begann er einen monotonen Sprechgesang, bestehend nur aus dem Wort „Non“. Erst panisch argumentierend, dann rufend, dann schreiend. Durch sein geschwollenes Gesicht klang es ein wenig, als hätte er einen irren Orgasmus.
Sie schlossen den Sarg und schaufelten das Grab zu. Die Erde erstickte langsam aber sicher die Schreie Patrices.
Danach gingen sie zum Auto.