Durchgefallen
Durchgefallen
„Nun, Frau Feller, Sie können mir also nichts zu den Konflikttheorien der Internationalen Politik sagen?“ Skeptisch hob Professor Möller seine rechte Augenbraue. Er senkte seinen rundlichen Kopf und blickte Sandra über seine Brille, die ihm fast von der Nase rutschte, an. „Nun gut, Frau Feller, dann warten Sie bitte draußen, solange wir über Ihre Ergebnisse beraten.“
Sandra warf Doktor Köhler einen vorwurfsvollen Blick zu und verließ den stickigen Raum. Am liebsten hätte sie die Tür mit aller Wucht zugeworfen, doch die Prüfung hatte ihr jede Kraft geraubt.
‚Ich will nicht durchfallen.’, dachte sie. ‚Hoffentlich läßt er mich nicht hängen. Er muß den dämlichen Prof einfach überreden mich durchkommen zu lassen!’ Langsam ging Sandra den Korridor entlang und blieb vor einem Glaskasten, in dem ein Wust von kleinen und großen Zetteln hing, stehen: Stundenpläne, Prüfungstermine, Sprechzeiten der Professoren. Sie starrte auf die Blätter bis die schwarzen Buchstaben vor ihr verschwammen und sie ihr Spiegelbild in der Glasscheibe erkannte. Ein paar Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht und verdeckten ihre müden Augen. Als Sandra die Haare nach hinten streifte, merkte sie, wie ihre Hand zitterte.
‚Dieser Idiot!’ dachte sie. ‚Wie konnte er nur solche Fragen zulassen? Nach allem, was wir ...’
Plötzlich sprang hinter ihr eine Tür auf und Professor Möller steckte seinen Kopf heraus. „Frau Feller, kommen Sie bitte!“ rief er so laut, daß es die ganze Etage hören konnte.
‚Arroganter Spinner!’ dachte Sandra und ging lustlos in das enge Büro zurück.
„Nun, Frau Feller, wie Sie sich bestimmt denken können, waren wir mit Ihrer Leistung nicht gerade zufrieden. Kurz gesagt, ich weiß nicht, wie Sie es mit diesem Wissensstand überhaupt geschafft haben die Voraussetzungen für die Zwischenprüfung zu erfüllen!“ Professor Möller setzte erneut seinen skeptischen Blick auf und unterschrieb den Prüfungsschein. „Hier ist die Bestätigung, daß sie an dieser Prüfung teilgenommen, jedoch nicht bestanden haben. Sie kennen ja die Studienordnung. Wir sehen uns frühestens in einem Jahr zur Wiederholungsprüfung, dann hoffentlich etwas besser vorbereitet. Noch Fragen?“ Sandra schüttelte den Kopf. „Auf Wiedersehen, Frau Feller!“
„Wiedersehen!“ Ihr blieben die Worte fast im Hals stecken. Bevor sie die Tür schloß, schaute sie noch einmal zu Doktor Köhler. Die ganze Zeit hatte er wie auf einer Beerdigung dagesessen. Den Blick starr nach unten gerichtet und die Hände ineinander verschränkt hatte er die Fragen des Professors hingenommen, ohne einzuschreiten, ohne ihr zu helfen.
Das warme Wasser und der Duft des Schaumbades halfen Sandra wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Seit sie den Prüfungsraum verlassen hatte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern, weder wie sie nach Hause gekommen war, noch wie sie den Nachmittag verbracht hatte. Wieder und wieder lief die Prüfung vor ihr ab. Und mit jedem Mal wuchs Sandras Wut und Enttäuschung über Doktor Köhler. ‚Seinetwegen darf ich noch zwei Semester ranhängen. Er macht noch mein ganzes Leben kaputt! Und dabei hatten wir eine Abmachung!’ dachte sie. Sandra stieg aus der Badewanne und zog ihren Bademantel an. Gedankenverloren ging sie ins Schlafzimmer und legte sich auf ihr Bett. ‚Warum nur? Ich muß das jetzt klären!’ Sie nahm ihr Handy vom Nachtschrank und wählte die Nummer von Doktor Köhler. Es klingelte.
„Köhler.“
„Hallo Peter, ich bin’s.“
„Sandra? Was willst du?“
„Was sollte das heute bei der Prüfung? Wir hatten doch ausgemacht, daß du mir hilfst. Statt dessen ...“
„Tut mir leid, aber ich habe jetzt kein Zeit.“
„Ich finde du solltest ... ach egal.“
„Was ist los?“
„Können wir uns morgen treffen? Ich muß dir unbedingt etwas sagen.“
„Na gut, meinetwegen. Ich kann aber erst nachmittags, frühestens siebzehn Uhr.“
„Okay, dann um fünf in der Cafeteria. Mach’s gut.“
„Tschüß.“
Keine Zeit, wie? In den letzten Monaten hatte er immer Zeit, wenn es darum ging. Sandra legte ihr Handy beiseite und schaltete das Licht aus. Noch nie hat sie sich so einsam, so verlassen gefühlt. Langsam weinte sie sich in den Schlaf.
Eine halbe Stunde wartete Sandra jetzt schon in der Cafeteria. Sie trank bereits ihren vierten Capuccino. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Peter stand hinter ihr.
„Hallo. Tut mir leid, daß ich so spät dran bin, aber Professor Möller hat die Besprechung mal wieder in die Länge gezogen und ist ...“
„Was sollte das gestern?“ fuhr Sandra ihn an.
„Schrei hier nicht so rum.“, zischte Peter. Er setzte sich und blickte verlegen zu den anderen Tischen. Offenbar hatte niemand Sandra gehört.
„Wir hatten eine Abmachung. Du solltest leichte Prüfungsfragen auswählen!“
„Ich .. ich konnte nicht.“
„Wieso, verdammt noch mal?“
„Möller hatte die Prüfungsfragen schon fertig. Na ja, da ließ sich nichts mehr ändern. Es ist sowieso schon riskant genug mit uns. Und hätte ich auf andere Fragen bestanden, wäre alles nur noch auffälliger. Zuletzt flieg’ ich noch wegen manipulierten Prüfungen raus!“
„Toll, echt toll! Nach allem was wir zusammen ...“ Sandra mußte ihre Tränen unterdrücken. „Zuerst versprichst du mir das Blaue vom Himmel und jetzt? Willst mir durch die Prüfungen helfen und später eine gemeinsame Zukunft mit mir aufbauen. Pah, von wegen! Du hast sogar gesagt, daß du dich von deiner Frau trennen wirst. Aber für dich war ich ja anscheinend nur die kleine blöde Studentin, gerade mal gut genug fürs Bett!“ schrie Sandra.
„Jetzt reicht’s aber! Da geht mal etwas nicht nach deinem Kopf und schon rastest du aus! Glaub ja nicht, daß ich das noch länger mitmache. Die Sache mit uns ist vorbei! Und ich werde meine Frau auf keinen Fall verlassen.“
„Aber vielleicht wird sie dich bald verlassen!“
„Was soll das heißen?“
„Nun, ich werde sie gleich nachher anrufen und ihr folgendes sagen: ‚Guten Tag, Frau Köhler. Ich bin Sandra Feller, eine Studentin ihres Mannes. Er ist wirklich ein sehr netter Dozent und kümmert sich immer rührend um uns. Allerdings war seine Fürsorge für mich etwas zu intensiv und jetzt bin ich schwanger von ihm. Ich finde, Sie haben das Recht es zu erfahren, auch wenn es für uns beide sehr unangenehm ist.’“
Peter schaute Sandra entsetzt an.
„Ich bin mittlerweile im dritten Monat. Eigentlich wollte ich es dir schon gestern nach der bestandenen Prüfung sagen, aber daraus wurde ja nichts, wie du weißt. Du fragst dich bestimmt, ob das Kind auch wirklich von dir ist, aber ich kann dir versichern, du warst der Einzige in den letzten sechs Monaten.“
„Das kannst du mir nicht antun!“
„Und ob ich kann! Du denkst wohl, du kannst mir mein Leben einfach so versauen? Ich bin gespannt, was deine Frau dazu sagt. Und die Uni-Leitung wird von einem Dozenten, der Studentinnen schwängert, auch nicht sehr begeistert sein! Schönen Tag noch!“ Sandra stand auf und verließ die Cafeteria. Peter rannte ihr hinterher.
„Hey, warte!“ rief er ihr nach, doch sie war bereits in einen Bus auf der anderen Straßenseite eingestiegen.
Als Sandra am nächsten Morgen auf dem Campus ankam, fiel ihr sofort die große Menschentraube vor dem alten Universitätsgebäude auf. Einige Leute blickten ungläubig nach oben, andere unterhielten sich mit Polizeibeamten. Sandra überquerte die Straße und ging auf die Menschenansammlung zu. Sie sah ihre Kommilitonin Katrin und lief zu ihr.
„Hi, Katrin. Was ist denn hier los?“
„Hallo Sandra. Hast du’s noch nicht gehört?“ sagte Katrin hastig.
„Nein, was denn?“
„Na, Doktor Köhler, er ist von da oben gesprungen!“ Katrin zeigte auf ein geöffnetes Fenster im sechsten Stockwerk. Es war das Fenster zu Doktor Köhlers Büro.
„Tatsächlich?“
„Irgendwann heute Nacht, sagt die Polizei. War wohl sofort tot. Angeblich hat ihn der Pförtner heute früh gefunden. Möchte bloß wissen, warum er das gemacht hat!“
„Schlimme Sache. War wohl ziemlich verzweifelt.“ Sandra blickte auf den großen Blutfleck neben dem Gebäude. „Na ja, ich muß jetzt trotzdem los. Wir sehen uns dann?“
„Bis dann!“
Sandra ging langsam zum neuen Hörsaalgebäude. Sie stellte sich vor ihrem geistigen Auge vor, wie Köhler voller Angst war, seine Frau und Karriere zu verlieren. Wie er keinen anderen Ausweg mehr sah, als an jenem Abend in sein Büro in der sechsten Etage des Universitätsgebäudes zu gehen, das Fenster zu öffnen und zu springen, ohne zu wissen, daß Sandra ihn belogen hatte und nie schwanger von ihm war.