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E.T., der Überirdische
Eddie Thorsson fühlte kalte Erde an seinen Fingern. Auf allen vieren kroch er den Bahndamm hoch.
Oben angekommen zögerte er. War sein Vorhaben nicht Wahnsinn?
Denk an Waco, ermahnte er sich. Sofort waren die Bilder wieder da. Wie das F.B.I. damals den Sitz der Davidianer gestürmt hatte, wie Rauch aus dem Gebäude aufgestiegen war. Er hatte alles im Fernsehen verfolgt. Nur durch Zufall war er nicht dabei gewesen. David Koresh tot, und all die anderen, siebzehn Kinder ...
Hass loderte wie eine Stichflamme in ihm auf. Die Schweine sollten bezahlen. Dafür lohnte es sich, alles zu riskieren.
Er holte die dicke Kette aus seinem Rucksack, wickelte sie sich mehrmals eng um seinen Körper, und fädelte sie dann durch die Eisenbahnschwelle. Das Schnappen des einrastenden Schlosses hatte etwas Entgültiges.
Jetzt der Schlüssel. Er klebte in seiner schweißnassen Hand, als wollte er es ihm möglichst schwer machen.
Eddie zögerte, rief sich die Stimme Guy Hanlons ins Gedächtnis. Tief und machtvoll dröhnte sie in seinem Kopf.
„Nur in Lebensgefahr, wenn sich kein anderer Ausweg bietet, wenn ihr nur noch Angst seid, kann sich die in euch schlummernde Kraft zum ersten Mal offenbaren. Dann ist sie für immer eure Dienerin.“
Eddie glaubte Guy. Er hatte ihn die irrsten Sachen mit dieser Kraft machen sehen. Erst neulich hatte Guy ein Schwert durch das Sanktuarium schweben lassen. Das war Klasse gewesen, besser als dieser Jedi in Star Wars, wie hieß er noch gleich. Joki, Jodi ...? War ja auch egal. Das Ding war wie ein Luftballon bis zur Decke geschwebt, mit einem rot funkelnden Licht an seinem Griff. Dann war es gegen die Wand gesaust und hatte sich in das Bild des Präsidenten gebohrt.
Das waren keine Taschenspielertricks gewesen. Bald würde er das auch können.
Und dann? Er konnte in Las Vegas in einer eigenen Show auftreten und Elefanten durch die Luft schweben lassen. Vergesst David Copperfield, hier kommt E.T., der Überirdische. Las Vegas – es dürfte kein Problem sein, der Roulettekugel gut zuzureden, oder den Würfeln... tausende von Möglichkeiten.
Aber das alles war Kinderkram.
Tief im Inneren fühlte er, dass es für ihn keinen anderen Weg gab – er würde weiter bei Guy mitmachen, in der Hierarchie aufsteigen und bald zum inneren Kreis gehören. Dort hatte er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl, kein Niemand zu sein. Wenn sie genug wären, könnten sie diese korrupte Bande beseitigen, die sich Regierung der Vereinigten Staaten nannte, und sich um jemanden, der im Golfkrieg sein Leben riskiert hatte, einen Dreck kümmerte. Keine Armee der Welt wäre imstande, sich ihnen entgegen zu stellen.
Also los. Heute war der Tag der Prüfung und Guy erwartete von ihm und den anderen Kandidaten, dass sie sich als würdig erwiesen und ein deutliches Zeichen setzten.
Eddie warf den Schlüssel weg, ein Stück weit nach vorne, so dass dieser außerhalb seiner Reichweite aber für ihn gut sichtbar neben den Schienen zu liegen kam. Noch einmal zog er an der Kette. Er hatte nur wenige Zentimeter Spielraum. Es gab kein Zurück. Alles oder nichts. Zwischen den Schienen arretiert blieb Eddie nur noch eins zu tun. Er starrte auf den Horizont, wo die Schienen zusammenliefen und wartete.
Da!
Er richtete sich etwas auf, kniff die Augen zusammen, aber es war keine Täuschung. Ein Zug näherte sich. Es wurde ernst.
Wie er es gelernt hatte, schloss Eddie die Augen, atmete tief ein und aus und visualisierte die Lichthand. Probeweise ließ er deren Finger einknicken, sich zu einer Faust ballen, wieder strecken. Na bitte, wie in ihren Meditationsstunden. Er öffnete die Augen wieder und die Lichthand war noch da. Weiß und phosphoreszierend schwebte sie über den Schienen.
Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte, als er nach vorn blickte, und bemerkte, dass der Punkt am Horizont zu einer Lokomotive angeschwollen war. Eddie sah wieder auf die Lichthand und dirigierte sie zu dem Schlüssel, wollte sie zu dem Schlüssel dirigieren, doch die Hand rührte sich nicht von der Stelle.
Er versuchte es nochmals. Nichts. Wieso funktionierte es nicht? Er hatte eine Scheißangst, sein Herz wummerte wie ein verrückt gewordener Trommler, aber die Hand bewegte sich keinen Millimeter, waberte nur einfach so in der Luft und verströmte ihren nutzlosen Glanz.
Ein Blick nach vorn. Dort waren inzwischen Einzelheiten auszumachen. Es war ein Güterzug mit lauter Waggons, die Autos transportierten. Die Fenster der Lok – schmale bösartige Sehschlitze – schienen ihn zu fixieren und ihr metallenes Bulldoggengesicht war rot – vielleicht vor Wut über das unerwartete Hindernis. Ein Bulldoggengesicht, dass unaufhaltsam auf ihn zu raste. Eddie spürte Schweiß auf seiner Stirn, seine Finger krampften sich um die Kette, ohne dass er es merkte. Noch eine, maximal zwei Minuten, dann würde ihn dieses Gesicht zermalmen. Du musst dich konzentrieren, dachte er, bemüht, die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Er kratzte die letzten Reste seines Denkens zusammen und versuchte krampfhaft, die Lichthand zu bewegen. Nichts passierte. Im Gegenteil, die Hand verblasste und ihr Phosphoreszieren wurde schwächer. Was zum Teufel war los?
Eddie verlor wertvolle Sekunden, als er wie verrückt an der Kette zerrte. Die metallenen Glieder schnitten in seine Haut und er riss sich die Finger blutig. Das Warnsignal und das Rattern des Zuges dröhnten in seinen Ohren. Die Lichthand war weg.
Es geht nicht, dachte er noch, dann schwemmte eine Welle der Panik alle Gedanken aus seinem Kopf. Ein dünner Speichelfaden rann ihm aus dem Mund.
Mit weit aufgerissenen Augen sah er auf den Zug.
Er schrie.
Ein gigantischer weißer Finger erschien neben der Lok ...
Der Pilot ließ den Polizeihubschrauber Kreise über der Unglücksstelle beschreiben, während der Beamte neben ihm ununterbrochen seinen Fotoapparat klicken ließ.
„Das gibt’s doch nicht“ , murmelte der Pilot nun schon das dritte Mal kurz hintereinander, ohne sich dessen bewusst zu sein und schüttelte, wie um seine Worte zu unterstreichen, den Kopf. Unter ihnen war ein Großaufgebot der Polizei dabei, das Gelände weiträumig abzusperren. Die ersten Spezialfahrzeuge der Bahn waren eingetroffen. Leute umwuselten wie Ameisen die aus den Schienen gesprungenen Waggons, die von hier oben einen grotesken Anblick boten. Als hätte die Hand eines Riesen sie exakt zu den Buchstaben E und T angeordnet.