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Eala
Bitte nicht mehr kritisieren. Neue Version wahrscheinlich im Januar 2006.
Seine Augen leuchten beim Anblick des Weihnachtsmarktes. Er nimmt mich an der Hand und zieht mich durch die Menge. Immer wieder bleibt er stehen und sieht sich alles an. Er stellt mir so viele Fragen, möchte über jedes Detail Bescheid wissen, kauft sich eine Bratwurstsemmel, die er bisher nur vom Hörensagen kennt.
„Schmeckt gut“, sagt er und lacht. Nur wenige Minuten später entscheidet er sich für gebrannte Mandeln. Abwechselnd beißt er von der Semmel ab und steckt sich eine Mandel in den Mund. Ich verdrehe die Augen und muss lachen.
„Du bist verrückt“, sage ich.
„Warum nicht?“ Er grinst.
Eine Woge von Zärtlichkeit steigt in mir auf, als ich ihn ansehe. Noch immer leuchtet sein rotes Haar wie Feuer, noch immer sprießen hunderte Sommersprossen in seinem Gesicht. Alles an ihm wirkt viel lang und wenn man ihn beobachtet beschleicht einen der Eindruck, er könnte beim Gehen jeden Moment über seine eigenen Füße stolpern.
Er zieht mich an sich und zwinkert, als könnte er meine Gedanken erraten. Leise beginnt er ein Lied in mein Ohr zu summen. Ich kenne die Melodie. Fast fühlt es sich an, als wäre ich wieder sechzehn Jahre alt.
***
Irland 1988
Die Blicke der Jugendlichen brannten auf meiner Haut wie Feuer. Es half, wenn man ihnen direkt in die Augen sah.
Ich schnappte mein Handtuch, schluckte den Kloß in meinem Hals hart herunter und lief zum Schwimmbecken.
Die verstohlenen Blicke der anderen folgten mir und ich wünschte mich weit fort.
Krebsrot leuchtete das riesige Feuermal auf meinem Oberkörper und meine eigene Hässlichkeit trieb mir Tränen des Zornes in die Augen.
Ron folgte mir.
„Mach dir nichts daraus“, sagte er.
„Ist schon in Ordnung“, murmelte ich und wünschte ihn zum Teufel. Einige Leute starrten uns an und kicherten. Wir gaben ein lächerliches Paar ab.
„Woher kommt das Mal?“, fragte er mich.
„Keine Ahnung. Es war schon immer da.“
„Aber von irgendwoher muss es doch kommen“, bohrte er weiter.
„Das hängt mit erweiterten Blutgefäßen zusammen“, erklärte ich.
„Aha.“
„Meine Oma ist abergläubisch. Sie sagt, wenn eine Frau sich während der Schwangerschaft erschrickt, entsteht das Mal an der Stelle, an der sie sich anfasst.“
„Das muss ein sehr großer Schreck gewesen sein.“
Er lachte und ich konnte nicht anders und musste mit einstimmen.
„Darf ich es einmal anfassen?“
„Klar“, erlaube ich zu meiner Überraschung.
Sanft berührte er mich. „Ich dachte, es wäre heiß.“
Die meisten Leute ekelten sich vor dem Feuermal. Niemand, außer meinen Eltern, hatte es je angefasst. Niemand sprach mich je darauf an.
***
„Eala“, flüstert er mir ins Ohr.
Ein Wort, fast vergessen geglaubt, zaubert eine Gänsehaut auf meinen Rücken.
„Eala“, wiederholt er. Sein warmer Atem kitzelt meinen Nacken.
Aufgeregt pocht mein Herz, meine Hände zittern und ich möchte von ihm in die Arme genommen werden.
Es schmerzt, ihn weg zu schieben. Es schmerzt, das Unverständnis in seinem Blick zu sehen, die stummen Fragen zu hören.
„Schau mal dort“, sage ich und zeige auf einen Weihnachtsmann, der mit ein paar hübschen blonden Engelchen unterwegs ist.
„Schön.“ Er spielt mit.
***
„Eala“, flüsterte er. Gras kitzelte meine Beine, Sonne blendete meine Augen.
„Eala“, wiederholte ich, verzaubert vom Klang des Wortes.
„Das bedeutet Schwan“, sagt er. Er vergrub seine Finger in meinem Haar und presste seine Lippen auf meinen Hals.
Ich verstand nicht, warum es mit Ron so schön war. Er sah nicht aus wie einer, in den man sich verlieben konnte.
„Erzähl mir eine Geschichte“, bat ich ihn.
Er konnte wundervoll erzählen und mit seinen Worten in fremde Welten entführen.
Ron lächelte. „Es war einmal ein Schwan“, begann er.
Ich kuschelte mich wohlig in seine Arme und ließ mich von seiner Stimme einlullen.
***
Seine Nähe fühlt sich immer noch vertraut an. Wir sitzen in einem Kaffee und er plaudert über Irland und die vergangenen Jahre. Ich möchte ihn fragen, warum ich all die Jahre nichts von ihm gehört habe, doch ich schweige.
„Du bist so wunderschön“, unterbricht er plötzlich seine Erzählung.
Ich spüre, wie die Röte in mein Gesicht schießt und ich das altbekannte Schwindelgefühl bei seinen Worten bekomme. Es ist fast so, als würde ich diese Worte zum allerersten Mal hören.
„Ach was“, sage ich und mache eine ungeduldige Handbewegung. Gleichzeitig beginnen wir zu lachen.
„Du bist wie früher.“ Er lächelt. „Fast kommt es mir vor, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren.“
***
Ich genoss die Tränen, die über meine Wangen liefen. Ich genoss den Schmerz, den unser Abschied in mir hervorrief. Weinend saß ich im Auto, zusammengerollt wie ein Embryo. Meine Mutter warf mir über den Spiegel besorgte Blicke zu.
„Du kanntest den Jungen doch kaum, Sandra. Du wirst dich schon wieder verlieben.“
Ich wollte mich nie mehr verlieben.
***
Plötzlich bin ich wütend und möchte ihm sein Lächeln aus dem Gesicht schlagen. Ich zähle langsam bis zehn und hoffe, dass die Wut vergeht. Ich zähle weiter bis zwanzig, dreißig. Erst als ich bei hundertdreißig angekommen bin, kann ich wieder klar denken. Er sieht aus, als wüsste er, was in mir vorgeht.
„Was war all die Jahre los?“, frage ich.
„Wir sind umgezogen. Du weißt doch, mein Vater. Mutter hat ihn verlassen.“
Ich erinnere mich an die Erzählungen über seinen Vater, einem Mann, der die irischen Klischees erfüllte. Seine Abende verbrachte er in Pubs. Zu Hause gab es Schläge für die Ehefrau.
„Irgendwann konnte meine Mutter nicht mehr. Wir sind mitten in der Nacht abgehauen und in London gelandet. Weit weg von zu Hause. Und ich glaube selbst das war ihr nicht weit genug. Vielleicht gab es keinen Ort, der weit genug gewesen wäre.“
Mein Zorn gerät ins Wanken, er sieht so traurig aus.
„Mein Vater starb im letzten Jahr. Ich habe ihn nie mehr besucht.“
„Das tut mir leid, Ron.“
Er zuckt mit den Schultern: „Ich wollte mich damals nicht melden, ich wollte ein neues Leben beginnen. Deine Briefe haben mich natürlich nie erreicht. Monate später spielte ich mit dem Gedanken, dir zu schreiben. Ich habe mich nicht getraut, Sandra.“
Noch heute möchte ich rot werden bei dem Gedanken wie oft und verzweifelt ich ihm geschrieben habe.
Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt ihm alles zu erzählen, aber ich schweige, weil ich weiß, dass sich danach alles ändern wird. Ich habe ihn doch gerade erst wieder gefunden.
***
Mit Wucht presste ich meine Hand auf meinen Bauch, boxte mit der Faust direkt hinein. Es tat weh, doch es half nichts.
Zornerfüllt packte ich ein herumliegendes Buch und schleuderte es gegen die Wand. Es half nicht, dass es auseinander fiel und die Seiten auf den Boden flatterten.
Ich lief im Zimmer hin und her und fluchte, doch auch das verschaffte mir keine Erleichterung.
Aufgebracht riss ich ein Blatt Papier aus einem Block und begann an Ron zu schreiben. Die hässlichen Worte, die aus mir herausströmten, füllten Seite um Seite.
***
„Komm, lass uns noch ein wenig laufen!“, schlage ich vor. Er drückt mich an sich und küsst mich stürmisch auf den Mund.
„Lass uns zu dir gehen“, flüstert er.
Energisch schiebe ich ihn weg. „Nein.“
Enttäuscht lässt er seine Schultern hängen und schickt mir einen Hundeblick.
„Wir müssen uns erst wieder neu kennen lernen.“
„Du bist mir immer noch vertraut.“
„Wir kannten uns doch damals kaum, Ron.“
„Das zwischen uns, das war schon immer anders. Du kannst mir nie fremd sein.“
„Es ist lange her. Gib mir doch etwas Zeit.“
Er hakt sich bei mir unter, schweigt beleidigt, doch es dauert nicht lange und er plaudert wieder munter vor sich hin.
Ich muss die Tage mit ihm genießen, nach der Wahrheit könnte alles vorbei sein.
***
Ich hasste das Wesen, das in meinem Bauch heranwuchs. Ich hasse es, weil sein Vater mich so beständig ignorierte und weil es mein ganzes Leben durcheiander brachte.
Nächtelang lag ich verzweifelt wach und überlegte, an wen ich mich wenden könnte. Ich wollte dieses Kind nicht.
In mir wuchs Verachtung von Ron, weil er seelenruhig in Irland sitzen konnte und weil es nicht sein Körper war, in dem das Baby steckte.
In Büchern las ich, dass heiße Bäder abführend wirken konnten. Ich badete so heiß, dass meine ganze Haut davon brannte und mir danach so schwindelig war, dass ich mich am Rand der Wanne abstützen musste.
Verzweifelt suchte ich im Garten nach Kräutern, die dieselbe Wirkung haben sollten, stopfte sie in mich hinein und hoffte jeden Tag auf ein Wunder. Das Kind war hartnäckig.
***
Fiona sieht mich grinsend an. „Na, wie war es?“ Es klingt anzüglich. Ich lächle, während ich meinen Mantel aufhänge.
„Sei nicht so neugierig.“
„Ach komm, spann mich nicht so auf die Folter.“
„Es war nett.“
„Wie ist er?“
„Sensibel, ehrlich, lustig. Er ist toll“, sage ich.
„Das hast du alles heute Abend herausgefunden?“
„Klar.“
Sie wendet sich wieder dem Bildschirm zu und lächelt in sich hinein. Plötzlich überkommt mich der Wunsch, sie ganz fest an mich zu drücken.
Verwundert sieht sie mich an, doch dann erwidert sie meine Umarmung.
„Ich hab dich lieb, Mama.“
„Ich dich auch, Fi.“
***
„Sag mal Sandra, ist alles in Ordnung?“ Meine Mutter sah mich mit diesem besorgten Blick an.
„Klar“, antwortete ich. „Warum auch nicht?“
„Bist du schwanger, Sandra?“
Wir starrten uns schweigend an und das war Antwort genug.
„Mensch Sandra“, seufzte meine Mutter, setzte sich auf einen Stuhl und schlug die Hände theatralisch vor ihr Gesicht.
„War das dieser Junge? Dieser Ire?“
„Er heißt Ron“, schrie ich sie an.
„Wie kannst du nur so dumm sein, Mädchen! Ich darf gar nicht daran denken, wie dein Vater reagieren wird. Du bist so jung, Sandra. Du kannst das Kind auf keinen Fall bekommen. Wir finden da schon eine Lösung.“
„Ich will das Kind“, antwortete ich trotzig.
Und in diesem Moment wusste ich, dass es stimmte.
***
„Fi, was würdest du davon halten deinen Vater kennen zu lernen?“
Sie starrt mich gebannt an. „Wie? Ich dachte, du hast keinen Kontakt.“
Sie wippt aufgeregt mit dem Fuß und kaut auf ihrer Unterlippe herum.
„Ich habe mich heute mit ihm getroffen.“
„Was? Wieso weiß ich nichts davon!“
„Er weiß nicht, dass es dich gibt. Ich kann doch nicht gleich mit der Türe ins Haus fallen.“
„Trotzdem“, erwidert sie.
„Ich werde es ihm bald sagen.“
"Ich möchte ihn sehen."
Mein Herz klopft so wild in meiner Brust, dass mir davon übel wird. Ron hält meine Hand und gibt eines seiner romantischen Hirngespinste zum Besten.
„Ron, wir haben eine Tochter.“
Er unterbricht seine Erzählung, starrt mich ungläubig an.
„Mein Gott“, sagt er.
„Sie ist jetzt siebzehn Jahre alt“, erzähle ich hastig, bevor mir einfällt, dass diese Information unnötig ist.
„Fiona ist wirklich toll. Sie... sie möchte dich kennen lernen.“
„Ich bin Vater“, murmelt er. Er hält sich an seinem Weinglas fest und stürzt es auf einen Schlag herunter.
Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, verknote meine Finger ineinander. Die Verlustangst schnürt mir die Kehle zu.
„Warum hast du nichts gesagt?“, fragt er mich.
„Ich konnte dich doch nicht erreichen, Ron.“
„Meine Güte. Du warst so jung.“
„Es war schwierig.“
Leise erzähle ich ihr von den Streitereien mit meinen Eltern, von den Vorwürfen und den Tränen. Ich erzähle, dass ich bei meiner Tante unterkommen musste, weil ich es zu Hause nicht mehr aushielt. Und vor allem sage ich ihm, dass ich es nicht bereue. Nie bereut habe.
„Tut mir leid, Sandra, ich muss kurz alleine sein“, sagt er, nachdem ich meine Erzählung beendet habe.
Er legt einen Geldschein auf den Tisch und verschwindet im Freien. Ich möchte ihm hinterher schreien, dass er sich nicht so einfach aus der Affäre ziehen kann, doch ich schweige.
„Sandra?“, sagt er am Telefon.
„Ja“, meine Stimme klingt kalt.
„Ich möchte Fiona sehen. Alleine.“
Ich schlucke hart. „Was wird aus uns?“
„Wenn ich mich ausführlich mit ihr unterhalten habe, kommen wir nach Hause.“