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Ein Alltag für die Welt...
Ein Hauch des Unbekannten legt sich wie ein dichter Nebel auf das, was einmal vor meinen Augen stand – die Welt, wie ich sie kannte, verschwindet in dem undursichtigen Dunst meiner gegenwärtigen Verfassung.
„Soll ich die Jalousien hochziehen?“, fragte mich die Frauenstimme – wie ich die Frau nannte – zunächst unsicher, dann fügte mitfühlend hinzu. „Es ist ein sonniger Tag heute!“
Ich lächelte, dankbar für ihre Rücksicht, obwohl nicht danach verlangend.
„Ja, bitte“, sagte ich freundlich und versuchte das Zittern in meiner Stimme versteckt zu halten, als ich hinzufügte: „Könnten Sie auch das Fenster aufmachen?“
„Das ist eine gute Idee!“, sagte die Frauenstimme fröhlich.
Das so oft von mir gesehene aber nie als wichtig erachtete Ereignis sich öffnenden Fensters verwandelte sich nun in einen Geräusch, eines von vielen.
„Danke“, flüsterte ich fast.
Eine Hand berührte meine Schulter – beruhigend, aufbauend, sanft.
So viele Gäste um uns herum. Sie alle applaudierten und lächelten.
Wir standen in diesem lebenden Kreis und hatten Augen nur für uns. Die Band spielte unser Lied, das wir spontan ausgesucht hatten, damit der große Augenblick in unserer Erinnerung vollkommen bleiben sollte.
Wir bewegten uns im Takt der Musik. Ihre Hände lagen in meinen Händen, ihr Blick spiegelte mein Glück wider und unsere Herzen verschmolzen zu einem einzigen.
Meine Lippen legten sich auf ihre und wir verharrten in einem langen Kuss, der mein Leben vor unserer Begegnung, unwichtig erschienen ließ.
Das Johlen der Hochzeitsgäste verklang, wir waren nun ganz allein - nur meine Frau und ich…
… sie schrie voller Entsetzen.
Ich drehte am Lenkrad wie ein Verrückter, drückte das Bremspedal. Das Auto schlitterte seitlich über die Fahrbahn, überschlug sich und rammte das entgegenkommende Fahrzeug.
Der laute Knall, Metall gegen Metall, dröhnte in meinen Ohren, verschlang alle anderen Geräusche und schaffte Desorientierung. Die Fenster explodierten regelrecht – die Glassplitter übergossen uns und verfingen sich in meinen Augen. Ich schrie vor plötzlichem Schmerz auf, und rief nach meiner Frau, doch sie antwortete nicht.
Ich versuchte panisch, meine Augen von den Splittern zu befreien…
„Hören Sie mich!“
Eine Stimme - kein Gesicht.
Eine Berührung.
„Sie sind in einem Krankenhaus!“
Wieder diese Stimme. Krankenhaus?
„Ich bin Doktor Krammer!“
Doktor! Krankenhaus!
„Sie hatten einen Autounfall!“
Autounfall?
Autounfall!
„Ruhen Sie sich noch etwas aus, wir reden später über alles!“
„Guten Morgen!“
Der Doktor war wieder da.
„Wenn Sie es sagen!“, erwiderte ich lustlos.
„Wie fühlen wir uns denn heute?“
Er stand jetzt ganz nah bei mir.
„Verworren!“
„Ja, das geht mit der Zeit vorbei. Haben Sie Schmerzen?“
„Ja!“
„Es wird noch etwas dauern, bis sie völlig verschwinden!“
„Ist das normal, dass ich noch nichts sehen kann?“, fragte ich direkt.
„Es war eine schwierige Operation, die sie gut überstanden haben. Die Sehkraft kommt auch noch, … mit der Zeit! Bis dahin müssen Sie eine Augenbinde tragen, um ihre Augen zu schonen!“
„Wo ist meine Frau?“, fragte ich ungeduldig.
Es veränderte sich etwas in der Luft, sobald die Frage an Bedeutung gewann. Ich spürte es ganz genau. Der Doktor brauchte mir nichts mehr zu erklären.
„Nein, sagen Sie nichts, Doktor, ich will es nicht wissen!“
Eine Pause entstand.
„Wenn Sie noch etwas brauchen, betätigen Sie einfach diesen Knopf, eine Krankenschwester wird sich sofort melden!“
Er legte meine Hand auf eine Fernbedienung.
Ich blieb stumm und der Doktor ging raus…
„Wie fühlst du dich, mein Sohn?“
Meine Mutter besuchte mich. Ich fragte mich, wo mein Vater war!
„Gut!“
„Wie ist das Essen hier?“
„Gewöhnungsbedürftig!“
„Tut es… tun dir die Augen weh?“
„Nein, die Ärzte haben gute Arbeit geleistet!“ Ich log, obwohl ich es hasste meine Mutter anzulügen. Doch ich wollte sie nicht beunruhigen.
Sie berührte die Augenbinde. Ein schwerer Seufzer entkam ihr. Ich nahm ihre Hand in meine – ihre Finger zitterten – und schob sie weg.
„Es ist alles gut!“, versicherte ich ihr so gut wie ich nur konnte.
„Nein, ist es nicht!“, meinte sie, stand vom Stuhl auf, küsste mich auf die Wange und ging aus dem Zimmer raus.
Nachdem sie mich geküsst hatte, spürte ich etwas Nasses auf meiner Haut. Es war eine Träne…
„Wir vermissen dich in der Firma!“
Mein Arbeitskollege, Freund und Trauzeuge saß vor mir auf dem Stuhl.
„Deinen Humor hab ich schon immer gemocht!“ Ich lächelte schwach.
„Ich tue, was ich kann“, sagte er gut gelaunt.
„Wer vertritt mich?“, fragte ich ihn, um das ganze auf ein Thema zu bringen, das ihm sehr lag – er liebte seinen Job.
„Marina Hase, die Frau meiner Träume!“
„Ja, die Traumfrau!“, sagte ich gedankenverloren.
Irgendwann sagte er noch: „Du schaffst das!“
Seine Worte kamen nicht an mich heran…
Sie stand an der Bar eines Restaurants in einem goldenen Abendkleid, welches ihren Rücken bis unter die Schulterblätter den gierigen Männerblicken frei gab, und nippte an einem Weinglas.
„Hallo!“, sagte ich zu ihr.
Sie drehte sich um und lächelte mich müde an. „Guten Abend!“
Ich war wie paralysiert, starrte sie wie ein Trottel an, meine Gedankenwelt besaß keinen Gedanken außer einem: Als Gott an Schönheit dachte, hatte er sie vor Augen.
Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie sagte: „Sie sind doch nicht einer dieser Pantomimen, oder?“
„Nein“, erwiderte ich zögerlich, „eigentlich nicht!“
Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte ich mich etwas besser. „Ich heiße übrigens Karl-Heinz Steinmauer!“
„Ein Mitglied der überaus mächtigen Familie von Anwälten, stimmt‘s!“ Ihr Lächeln blendete mich.
„Wenn Sie das Adjektiv „mächtig“ weglassen würden, dann ja!“ Irgendwie schaffte ich es gelassen zu sein.
„Sind Sie auch Anwalt?“ Ihre Augen, o Gott, was für Augen.
„Seit einem Monat offiziell!“
„Und wie ist das, in die Fußstapfen des Vaters zu treten?“ Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
„Wäre besser gewesen, wenn er nicht mein Boss wäre!“ Ich schenkte ihr ein Lächeln, das frei von jeglicher Anspielung war. Vor ihr konnte ich mich nicht so verhalten wie vor anderen Frauen. Es war verrückt!
„Ich finde, er ist ein netter Boss!“
„Sagen Sie bloß, Sie arbeiten für ihn?“ Ich war überrascht, denn so wären wir uns bestimmt längst über den Weg gelaufen.
„Ja, natürlich! Und was machen Sie hier?“
„Ich hatte Hunger!“
„Ein guter Grund zweihundert Euro an einem Abend aus dem Fenster zu werfen!“
„Tja, vergessen Sie nicht meine „mächtige“ Familie und ihre Reichtümer!“ Blöde Erwiderung auf ihren Sarkasmus, den ich zugegebenermaßen mochte.
„Ich werde daran denken, wenn Sie das Substantiv „Reichtümer“ weglassen würden!“
„Wenn Sie mir ihren Namen verraten!“
„Werden wir uns dann duzen müssen?“
„Auf jeden Fall!“
„Ich heiße, Lilia Wider! Du darfst mich Lily nennen!“
Sie streckte mir ihre Hand entgegen, die ich so zart wie nur möglich drückte.
* * *
Dieser Nebel ist allgegenwärtig, und führt mich stets an den Rand der Verzweiflung. Die Tatsache, dass Lily für immer fort ist, schmerzt mich sehr, doch die Zeit, als sie noch da war, wird nie erlöschen und das ist mein ewiger Anker, mithilfe dessen ich den Weg zurück finde.
„Warum liebst du mich?“, fragte ich sie eine Woche vor unserer Trauung.
„Die Frage beantworte ich nur, wenn du mir sagst, warum du mich liebst!“, sagte sie.
„Weil du an mich glaubst!“, sagte ich.
Sie lächelte und sah mich mit ihren bodenlosen Augen schweigend an.
Für mich war diese stumme Antwort jedoch mehr wert als alle Worte dieser Welt.