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Ein Bücherleben

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06.02.2001
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Ein Bücherleben

Ein Bücherleben

Ein paar Menschen bilden sich ein, ich hätte viel für sie getan – aber das ist nicht wahr.
1955 habe ich begonnen, mich für Bücher zu interessieren. Ich war damals acht Jahre alt und es war mir, als sei es bereits eine sichere Sache; Ich würde mein Leben den Büchern widmen.
Man kann das nicht mit Worten beschreiben, man kann es nur nachfühlen, wenn man selbst so denkt. Aber das tun die wenigsten – vor allem in der heutigen Zeit.
Ich war ein Bücherwurm; ein kleines Mädchen, das es nicht mochte, um die Häuser zu ziehen. Ein kleines Mädchen, das in der Schule wegen seinen Sommersprossen und Brille gehänselt wurde... Aber wissen Sie was? Ich habe es überlebt. Und jeder, der das durchgemacht hat, was ich damals durchgemacht habe, wird bestätigen; Kinder können unglaublich grausam sein. Grausamer als jeder Erwachsene.
Ich habe schon immer viel gelesen und zwanzig Jahre später, da begann ich in der Bücherei von Tollstone eine Lehre als Bibliotheksassistentin. Ich habe mir die Hände schmutzig gemacht, denn einmal im halben Jahr machten wir sowas wie einen Großputz; alle Bücher abstauben, sortieren, neu einbinden und so weiter und so fort. Das war die Zeit, in der ich von morgens bis abends mit Büchern zutun hatte – und das war die Zeit, in der ich viel nachdachte.
Ich war anders als die anderen; ich hatte kein Interesse an gewöhnlichen Dingen. Ja, noch nicht mal Jungs konnten mich beeindrucken... Später mußten die aufgewacht sein und bildeten sich ein, ich wäre ein hübsches Mädchen. Aber das war mir egal. Es war mir so egal, wie es einem Menschen nur egal sein konnte.
Meine Jugend verbrachte ich in diversen Büchern. Ich verbrachte sie mit diversen Büchern und um diverse Bücher. Und ich fühlte mich so wohl dabei, wie ein Wurm sich in frischer Erde wohl fühlen muß... Oder wie ein – ach, vergessen Sie die Sache mit den Vergleichen, das ist mir nie gelegen.

Meine Lehrzeit war hart. Ich war der letzte Dreck, litt unter der Tyrannei meiner Chefin, die mich oft bis zu 9 Stunden arbeiten ließ... Karten stempeln, Bücher empfehlen... Wobei sie schnell dahinter kam, daß mir das „Bücher empfehlen“ richtig Spaß machte – und kaum hatte sie das raus, durfte ich es nicht mehr tun.
Als sie dann schließlich starb und ich eine neue Chefin bekam, änderte sich das alles. Die anfänglichen Zweifel, die doch vorhanden waren und besagten, daß ich doch die Lehre abbrechen und etwas anderes machen sollte, verflogen wie im Fluge.
Meine neue Chefin, Miss Edborrey war die beste Chefin, die man sich vorstellen kann... Sie war nett, charmant, liebenswürdig – und vor allem hatte sie etwas, was meine vorherige Chefin nie gehabt hatte; Herz. Vielleicht mochte sie mich auch einfach – ich weiß es nicht. Jedenfalls fühlte ich mich richtig wohl bei meiner Arbeit... Ich fühlte mich... wichtig. Und das war ein unbeschreiblich tolles Gefühl.
Miss Edborrey hatte stechend blaue Augen, einen weisen, gütigen Blick und ich weiß noch, daß sie immer schwarze Damenstrumpfhosen trug, die ihr überhaupt nicht standen. Sie kam selbst im größten Winter mit Röcken zur Arbeit und im Alter von zwanzig Jahren begannen ihre Haare bereits grau zu werden.
Das erzählte sie mir jedenfalls, nachdem wir Freunde geworden waren.
Wenn Sie genau drauf achten; jeder Bibliothekar bekommt früh graue Haare. Ich weiß nicht, woran es liegt, ich weiß nur, daß es so ist.

Als ich neunundzwanzig Jahre alt war, wurde mein Hund Cherry überfahren und starb noch am Unfallort in meinen Armen. Ich weiß nicht, ob das normal ist oder nicht, aber ich fühlte mich schrecklich dabei; Cherry war mein Bruder gewesen, Cherry war mein Freund – alles, was ich zu diesem damaligen Zeitpunkt an Kontakt hatte... Er wußte mein Leben. Er wußte, wer ich war – er kannte mich besser, als jeder andere. Selbst besser als meine Eltern, die sich nie viel aus Hunden machten.
Ich litt fürchterlich unter Cherrys Tod. So sehr, daß ich mich fragte, was das verdammte Leben noch sollte. Was ich hier noch sollte... Jetzt war niemand mehr da, der bellte, wenn ich nach Hause kam. Niemand mehr da, der seine Pfoten in meinen Schoß legte und mich mit großen Kulleraugen ansah... Niemand mehr da, mit dem ich stundenlang spazieren gehen und dem ich Geschichten erzählen konnte... Dem ich sagen konnte, wie es in mir drinnen aussah...
Ich wollte mich die ersten paar Tage krank melden, doch schon nach ein paar Stunden merkte ich, daß das ein Fehler war; Cherrys Tod hatte eine große Lücke hinterlassen und ich kam mir zu Hause nutzlos und allein vor.
„Was soll das, Kind, war doch nur’n Köter“ – mußte ich mir täglich von meiner Mutter anhören. Und ich konnte nichts drauf erwidern – was hätte ich sagen sollen? Egal was, sie hätte es ohnehin nicht verstanden.
Also ging ich doch zur Arbeit. Und kaum hatte ich die Bücherei betreten, kaum sah mich Edborrey hinter dem Tresen, winkte sie mich zu sich... Ich hatte noch nicht mal den Mantel ausgezogen, schon packte sie mich am Arm und führte mich ins Nebenzimmer. Sie sagte, „Claire, übernimm‘ den Laden hier mal“ – und schon... schon war alles wie früher. Die Art, wie sie diese Worte ausgesprochen hatte... Das erinnerte mich an meine vorherige Chefin... An ihren Griff um mein Handgelenk, an ihre scheltenden Ermahnungen, immerzu...
Aber das war Edborrey. Und ich mochte Edborrey ohne zu wissen, warum.
Was machste dir Sorgen? Sie tut dir doch nichts...
Claire – meine Kollegin – nickte, ließ eine Kaugummiblase platzen und machte sich das Haar zurecht. Sie warf mir einen grinsenden Blick zu.
Ich wußte nicht, ob ich Claire mögen oder hassen sollte.
Ich wischte mir die Rotze am Ärmel ab, während ich Edborrey ins Nebenzimmer folgte und langsam aber sicher alles erzählte. Es kam mir wie eine Beichte vor. Sie sah mich an, mit ihren forschen, gutmütigen Augen, und sagte nichts. Preßte die Lippen aufeinander, ging auf und ab, während ich auf dem harten Bürostuhl saß und sie dabei beobachtete.
Ich sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Mit jedem Schritt schien sie nachzudenken...
Das Geräusch ihrer Pfennigabsätze in meinen Ohren:
PLOCK PLOCK --- PLOCK PLOCK --- PLOCK-
Ich wurde fast wahnsinnig.
Dann richtete sie sich plötzlich auf und lächelte mich an.
„Ich kann Sie verstehen“, sagte sie mit ihrer rauhen Frauenstimme.
Ich starrte sie an. Für mich machte sie nur Scherze. Ich ermahnte mich innerlich, auf der Hut zu sein.
„Wirklich? Ich meine... ähm...“ – mir gingen die Worte aus.
Und dann ihr Blick, ihre Augen, ihren schief geneigten Kopf und ihre Handgeste.
„Ja. Ich habe selbst Tiere verloren und mit jedem Mal... mit jeder SEELE, die von mir gegangen ist, ist ein Teil von mir gestorben.“
Am Liebsten hätte ich aufgeschrien vor Erleichterung. Am liebsten hätte ich sie umarmt. Ihr Gesicht war während meiner „Beichte“ ausdruckslos, ja fast schon hart gewesen – ich hatte nichts, absolut rein gar nichts, darin lesen können...
Von diesem Tag an änderte sich alles. Wir siezten uns nicht mehr.
Wir wurden dicke Freunde.
Und das alles habe ich Cherry zu verdanken. Cherry, meinem treuen, besten Freund - meinem kleinen Rauhhaardackel.

Wir hatten Stammgäste in unserer Bücherei; das war zum Einen gleich mal die 80jährige Miss Underbourgh; kesse Dame mit der Eleganz einer Miss Marple. Sie schminkte sich täglich – und sie verwischte täglich ihren Lippenstift, weil sie die Angewohnheit hatte, immer auf der Unterlippe herum zu kauen, wenn sie las.
Lisa Underbourgh gehörte zu jenen Menschen, die einem mit wenigen Worten sehr viel sagen konnten – und sich dabei oft selbst in eine Falle redeten. Einmal lehnte sie sich locker über den Tresen, hielt ihren Schiller Ausgabe 1953 in den Händen und sagte betont; „Wissen Sie, ich habe auch mal ein Buch geschrieben.“
Ich mußte mir das Lächeln verkneifen, tat, als wäre ich über sie mehr als nur überrascht und sagte mit einer Stimme, die mir selbst übertrieben vorkam: „Aber das ist doch großartig!“
Sie versprach, mir eine handsignierte Ausgabe ihres Buches (Leberkäse mit Bratkartoffeln) zu schenken – aber die habe ich, selbstverständlich, niemals zu Gesicht bekommen.
Miss Underbourgh konnte man eigentlich nur mögen. Ich liebte es bei meinem Gang durch die Bücherei regelrecht, sie lesen zu sehen – sie gehörte nämlich zu den wenigen Menschen, die so mit den Helden eines Buches mitfiebern, daß man es ihnen an ihrem Gesicht ablesen kann. Jede Gefühlsregung, die sie empfinden – und meistens werden sie so von einem Buch gefangen, daß sie einiges (um nicht zu sagen; sehr viel) empfinden – selbst bei den schlechtesten Büchern.
Es war wirklich immer eine Wonne, sie zu beobachten; man tat es stets mit einem Lächeln auf den Lippen – und einer Gänsehaut im Nacken.
Ich mochte Miss Underbourgh, die jedes Buch so behandelte, als sei’s eine Antiquität. Ich mochte sie sehr und ich bin überzeugt, daß sie zu den ersten, wirklichen Emanzen Amerikas gehörte.

Und da gab es natürlich noch den fünfundzwanzigjährigen Jessie; seine Eltern, stets besorgt um ihn, stets hilfsbereit. Er selbst; Nickelbrille, Sommersprossen, zierliche Statur und verträumte Augen. An ihm haben mich immer besonders seine Augen fasziniert; sie wirkten, als wären sie von einem anderen Menschen – oder aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Er sah aus wie ein naiver Junge, aber wenn man mit ihm sprach, dann verirrte man sich in seinem Wissen.
Jessie war Rollstuhlfahrer seit seiner Geburt, denn er war in der Nähe von Hiroshima auf die Welt gekommen – und hatte verkrüppelte Beine.
Er tat mir leid, weil seine Eltern - wenn sie ihn auf seinem fast täglichen Gang in die Bücherei begleiteten - mir gegenüber oft sagten, sie würden ihren Sohn schon zum Laufen bringen. Da gäbe es Fortschritte... Da könnte man einiges machen... Und dann sah ich Jessie an, wie er mit seinem Rollstuhl durch die Gänge fuhr – mal hierhin, mal dorthin, den Blick auf diverse Buchrücken geheftet – und hätte am Liebsten auf ihn gedeutet und geschrien: „Ja, sehen Sie denn nicht, wie es um Ihren Sohn steht? Der wird niemals laufen können! Seine Beine sind völlig am Arsch! Was wollen Sie da noch machen?“
Aber was wollte man erwarten? Jessies Vater war Langläufer und seine Mutter tänzelte sich als Eiskunstläuferin in die Herzen eines breiten Publikums.

Besonders gut aber kann ich mich an den kleinen Schriftsteller erinnern, der seit seinem zehnten Lebensjahr dreimal im Monat die Bücherei besuchte und zig Bücher auslieh. Er hatte eine große Ähnlichkeit mit mir als Kind; er wirkte verschüchtert, er war nicht hübsch und er zuckte zusammen, wenn man ihn beim Namen nannte - es war ja schon eine Kunst von mir, den überhaupt aus ihm heraus zu bekommen.
Billy, hieß er. Der kleine Billy, der einmal Schriftsteller werden wollte.
Er kam zu uns schon seit mindestens drei Jahren, als eine dementsprechende Bemerkung über seine Lippen kam. Mir war vorher aufgefallen, daß er sich bei den Sachbüchern herumtrieb, daß er gelegentlich eines aus den Regalen zog, sich drei- oder viermal umdrehte und wenn sich ihm dann jemand näherte, es so schnell wie möglich zurück ins Regal stellte. Das kam mir schon sonderbar vor, aber wie sonderbar sind manchmal kleine Jungen?
Allmählich begann ich mich dafür zu interessieren, welches Buch ihn denn so faszinierte – und welches Buch er sich denn nie auslieh. Ich versuchte, mich an ihn anzuschleichen – doch er bemerkte mich, egal, wie sehr ich mich bemühte, unentdeckt zu bleiben. Dann hörte er ein paar Wochen damit auf – und schließlich verschlug es ihn doch wieder an die Bücher im Sachbuchbereich.
Irgendwann kam er unruhig zu mir und fragte mich, was ich denn für einen Traum hätte. Ich war verwundert, habe ihm aber erzählt, daß ich von je her den Traum hatte, in einer Bücherei zu arbeiten. Er meinte, ja, den Traum hätte ich mir erfüllt – aber sein Traum, ob er sich den denn auch erfüllen könnte?
„Dazu muß ich wissen, was dein Traum ist, Billy“, antwortete ich ihm und sah ihn durchdringend an. Ich kannte langsam seine Gesichtszüge; ich kannte die verschiedensten Arten seines ständigen Naserümpfens – denn das tat er oft, eigentlich immer, wenn er las.
Er sagte leise: „Ich möchte Schriftsteller werden.“
Ich lächelte ihn an, strich ihm durchs Haar, zerzauste es, drückte ihn an mich und...
„O Billy“, sagte ich, richtig stolz, das Geheimnis endlich aus ihm herausbekommen zu haben, „dafür mußt du dich doch nicht schämen! Nimm ruhig die Sachbücher übers Schreiben mit!“
Er fragte mich, ja, was glauben Sie denn, könnte ich’s schaffen?
„Du schaffst alles, was du willst, glaube mir. Du bist sicher talentiert, du liest viel, du bist klug und ich bin sicher, du wirst mal ein großer Schriftsteller, wenn du nur an dich glaubst.“
Ich konnte ihn dazu überreden, mir ein paar seiner Geschichten zu geben – und schließlich kam er immer zu mir, wenn er etwas Neues geschrieben hatte. Ich korrigierte es und ermutigte ihn, damit weiterzumachen, niemals aufzugeben – den Traum nicht aufzugeben.
Und ich muß zugeben; er war gut. Er war sogar so gut, daß er zehn Jahre später einen Bestseller nach dem anderen herausbrachte.

Edborrey meinte mal, ich hätte aus Billy einen Schriftsteller gemacht und ich hätte Jessies Eltern dazu gebracht, ihren Jungen so zu akzeptieren und zu lieben, wie er war – aber das ist nicht richtig. Ich habe die Menschen beobachtet, die in der Bücherei aus und ein gegangen sind. Ich habe ein paar von ihnen studiert und ich war verdammt stolz auf Billy, als er mir sein handsigniertes Buch übergab – aber es stimmt nicht, was darin stand. Er schrieb nämlich, ich hätte ihn zu dem gemacht, was er nun war – und das stimmt nicht. Als die Journalisten kamen und mich zu Billy interviewten, bekräftigte ich es, doch sie sahen meine Worte nur als einen Akt der Bescheidenheit.
Daß ich etwas für Billy getan hatte, bestritt ich nicht. Ich hatte aber nichts weiter getan, als ihm dabei zu helfen, seinen inneren Schweinehund zu überwinden.
Das Gleiche bei Jessies Eltern.
Ich bin kein Typ Mensch, der andere beeinflußt. Ich beobachte Menschen. Ich mische mich nicht in ihr Leben ein.

Als Billy zwölf und noch kein Schriftsteller war, freundete er sich mit der 80jährigen Lisa Underbourgh an - was mich sehr freute. Sie saßen bei einem gemeinsamen, zufälligen Gespräch am Lesetisch und unterhielten sich über einen Roman von Lessing („Nathan der Weise“). Underbourgh war natürlich völlig hingerissen von der Art des Schreibens – und von Nathan selbst. Sie sagte, nach vorn gebeugt, so daß sie niemand verstehen konnte (dachte sie, aber ich hab’s trotzdem gehört): „Weißt du, ich könnte mich in diesen Nathan richtig gehend verlieben.“ Daraufhin kicherte der kleine Billy und gestand, daß er Zweidrittel des Buches nicht verstand und recht scheiße fand.
Am nächsten Tag brachte er mir ein kleines Gedicht, das ich noch heute mit mir im Geldbeutel herumtrage:

Nathan der Weise
Frißt täglich Scheiße
Streift müde durchs Schriftstellerland
Weiß nicht, daß er von einer alten Hand
Geschrieben und verfaßt wurde
Denn sonst fände er das absurde.
Nathan der Weise
Frißt täglich Scheiße
Sabbert und glaubt, daß er alles weiß
Doch in Wirklichkeit isses alles nur Scheiß
Nathan der Weise
Auf seiner weiten Reise
Verdummt die Klugen, verdummt die Dummen
Dem sollt‘ mal wer ein Liedchen summen.
Nathan der Weise
Ist richtig scheiße
Aber Underbourgh mag ihn
Würd‘ am Liebsten mit ihm ziehn
Ich mag ihn nicht
Und jetzt ist fertig, das Gedicht.

Ich fand das Gedicht für einen Zwölfjährigen mehr als nur gut und ich muß zugeben; es hat mich sogar beeindruckt.

Später gesellte sich Jessie (auf mein Anliegen hin) zu den beiden, die einen großen Altersunterschied hatten, sich aber trotzdem prächtig verstanden. Jessie war zunächst scheu, doch als er aufgetaut war, konnte ihn niemand mehr bremsen.
Die Drei hatten ein Spiel: Sie lasen dieselben Bücher, das heißt, jeder schlug mal eines vor, das dann von allen gelesen und kritisiert wurde. Die besten Sachen kamen bei ihren Diskussionen heraus und für meine Ohren war es die reinste Wonne, sie diskutieren zu hören.
Ich genoß die Tage, in denen ich öfters zu ihnen an den Tisch gehen und sie ermahnen mußte, etwas leiser zu sein. Denn dann sah ich in die strahlenden Gesichter verschiedenster Generationen – und fühlte mich wohl, fühlte mich glücklich, das sehen und erleben zu dürfen.
Natürlich waren die drei keine Minute lang ruhig – und so ging das Spiel eine Weile, bis sie sich in die Rumpelkammer, die Edborrey und ich extra für sie umräumten, zurückziehen konnten.

Ich hatte viel Spaß in der Bücherei – es war mein Traumjob, wie ja schon erwähnt. Aber manchmal, da war es die reinste Hölle für mich.
Edborrey starb `74 an Krebs; die letzten Jahre über kam sie mehr als Besucher, als als Chefin und ich – wo ich ihre Freundin geworden war – litt schwer darunter. Ich mochte sie und den „Laden“ ohne sie und mit Claire (die ich nicht leiden konnte, wie sich schnell herausstellte) schmeißen zu müssen, war hart für mich. Aber dann hatte ich ja immer noch die Drei, die in der Rumpelkammer heftige Diskussionen über Goethe und Stephen King abhielten.
Und kaum ging es wieder aufwärts, passierte etwas, was mich wieder zu Fall brachte; Lisa Underbourgh starb an einem Gehirntumor exakt drei Monate nach meiner Chefin.
Es war grauenhaft – nicht nur für mich, weil ich die alte Dame sehr ins Herz geschlossen hatte, sondern vor allem für Billy und Jessie. Die beiden kamen seltener und ich versuchte, in meinen freien Minuten, mit ihnen über Underbourghs Tod zu sprechen. Sie gaben sich allerdings verschlossen – und eines Tages glaubte ich, sie würden die Bücherei nicht mehr besuchen.
Da kam Billy mit einem Gedicht und mit einer Geschichte über die bemerkenswerte Frau. Er kam mit roten, verweinten Augen und meinte, das alles sei zwar schon eine Weile her, aber es hätte ihm sehr weh getan. Sie sei sein erster, großer Verlust gewesen und nun wisse er nicht mehr, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Er wolle nicht mehr lesen. Lesen tat weh und erinnerte ihn an Lisa Underbourgh.
Ich sprach mit ihm, so gut ich konnte. Dabei schossen mir Bilder von der Beerdigung, die wir alle besucht hatten (außer Claire), durch den Kopf. Er weinte sich an meiner Schulter aus.
Den „Club der Leseratten“, wie sie sich genannt hatten, gab es nicht mehr. Aber wenigstens kamen Jessie und Billy wieder – wenn auch nicht so oft.

Das alles prägte mein Leben bis ins kleinste Detail. Ich sah die beiden Jungs heranwachsen, ich sah, wie sie größer wurden... Und ich sah, wie sie später schließlich mit ihren Freundinnen die Bücherei betraten; immer mit einem fröhlichen „Hallo!“ auf den Lippen. Ich liebte sie, wie eine Mutter ihre Kinder liebt und als sie wegzogen, als sie erwachsen waren und ein anderes Leben begannen, verabschiedete ich mich unter Tränen von ihnen, so, wie sie früher waren.
Sie hatten etwas mit mir geteilt; die Liebe zu Büchern.
Jessie zog nicht um. Nur in Gedanken tat er das. Er blieb gehbehindert. Aber er wurde ein starker, großer Mann (er war ja schon ein richtiger kleiner Mann, als ich ihn kennenlernte) und ich mußte immer über seine Witze lachen. Als er fünfundreißig war, kam er sogar gelegentlich als Komödiant im Fernsehen – und als er vierzig war, hatte er in der Tonight Show einen festen Platz.
Jessie blieb ortsansässig. Er zog später mit seiner Frau Jenny zusammen, heiratete und bekam zwei wackere, muntere und vor allem gesunde Kinder, die sein ganzer Lebensinhalt waren. Er brachte sie mit in die Bücherei und in meinen Mittagspausen setzte wir uns an einen Tisch und sprachen über Bücher und über alte Zeiten.

Jetzt bin ich eine alte Frau. Ich bin siebzig Jahre alt, meine Hände zittern und mein Leben neigt sich dem Ende zu.
Jetzt bin ich eine alte Frau und Besucher in meiner eigenen Bücherei, so, wie Edborrey es kurz vor ihrem Tod gewesen ist.
In meinen eigenem zu Hause zu Besuch, in meinen eigenen vier Wänden.
Ich sitze in der Rumpelkammer, die wir für den „Club der Leseratten“ umgestaltet haben, und diskutiere mit mir selbst über das Leben. Nicht über Bücher, diesmal nicht.
Ich spreche über das Dasein und für was es sich lohnt, es aufzugeben. Ich stelle Fragen, so viele Fragen.
Und manchmal habe ich das Gefühl, der Tod hört mir dabei zu und wird mir bald Antwort geben.

Stefanie Kißling, 31. Juli 2001

 

Schöne Geschichte. Teilweise so plastisch beschrieben, daß ich die Personen und Orte richtig vor mir gesehen habe!
An manchen Stellen hat Dein Erzählstil Längen, es hält sich aber noch im Rahmen. Die Jahres- und ALtersangaben solltest Du noch mal überdenken: 1955 ist sie acht Jahre alt, also 1947 geboren. 20 Jahre nach 1955 beginnt sie ihre Ausbildung (also mit 28), ist dann aber, als sie bereits die zweite Chefin hat und ihr Hund stirbt, erst 22 Jahre alt.
Und am Ende ist sie 70 - hast Du die Geschichte mit Absicht in die Zukunft datiert, oder war das ein weiterer Fehler, der darauf beruht, daß Du Dir die Zahlen nicht nochmal angesehen hast?
An manchen Sätzen könnte noch gefeilt werden, aber insgesamt finde ich die Geschichte wirklich sehr gelungen!
Gruß,

chaosqueen <IMG SRC="smilies/king.gif" border="0">

 

@chaosqueen

Vielen lieben Dank für Deine Kritik!

O je, da hab ich mich ja gewaltig vertan, was die Zahlen betrifft... :( Jedes Mal!!! :( Ich hasse Geschichten, in denen ich Jahreszahlen einbaue, weil ich IMMER einen Fehler mache... :(
ABER ich werde das jetzt natürlich sofort ausbessern, irgendwie! Vielen Dank auch fürs Nachrechnen und daß Du mir das gesagt hast!!!

Griasle und Danke fürs Lesen!
stephy

 

Wow!!!! Stephy, ich bin beeindruckt! Der Rotstift war noch vor kurzer Zeit meine Lieblingsgeschichte von Dir; das hat sich nun geändert. Ich kann überhaupt gar nicht ausdrücken, wie sehr mir diese Geschichte gefällt.
Sicherlich ist sie an manchen stellen zu korrigieren, aber das sind nicht so viele.
Dieser erste Eindruck ist so positiv, dass ich nichts hilfreiches sagen kann. Ich glaube aber, dass diese Geschichte für sich steht und man nicht viel sagen muss. Es ist eine wunderschöne Erzählung. Danke für dieses Lesevergnügen!

 

Mal wieder eine kleine Stephy Geschichte. Du weist doch in jeder Geschichte findet man sich selbst wieder... und andere dich vielleicht auch, aber genau das will du doch, oder?

Mir sind zunächst ein paar zierliche Wiederholungen bezüglich ihres Charakters aufgefallen. Hier dreht es sich ja um ihre Sicht der Dinge, also da wären folgende...

Ein paar Menschen bilden sich ein, ich hätte viel für sie getan aber das ist nicht wahr. [..] Ich fühlte mich... wichtig. Und das war ein unbeschreiblich tolles Gefühl. [...] Ich bin kein Typ Mensch, der andere beeinflußt. Ich beobachte Menschen. Ich mische mich nicht in ihr Leben ein. [...] Ich habe die Menschen beobachtet, die in der Bücherei aus und ein gegangen sind. Ich habe ein paar von ihnen studiert ...
Die Geschichte ist eine wundervolle, auch individuell und soziale Reflexion. - Sie hält sich ganz klar auf Distanz zu irgendeiner äußeren Art von Anerkennung, aber sie versucht genau diese Eigenschaft bei anderen durchzusetzen. Dies versucht sie mit den im Zitat genannten Methoden (Beobachten, Verstehen lernen, Helfen). Übrigens hatten, so gesehen, die Reporter recht mit der Bescheidenheit. Es geht ihr weniger um sich selbst, als um andere.

Ich finde die Stellen besonders gut, wo fast flüssige Überleitungen sind, obwohl sie ja von ihrem ganzen Leben berichtet. So zum Beispiel, der Tod ihres Hundes, durch den letztlich ihre neue Cheffin zu ihrer besten Freundnin wurde. Das Ganze passierte aus tiefstem Verständnis. - Aber das nur als Marginale zu deinem Schreibstil.

Solche Werke wie >Leberkäse mit Bratkartoffeln< klingen harmlos, aber sie beinhalten meist sehr viel mehr als welche die mit >Traktat der Ontologie< betitelt sind. "Mehr Leben" eben und hier bin ich auch schon bei deinen letzten Sätzen, die mir zunächst missverständlich klingen.

Ich sitze in der Rumpelkammer, die wir für den "Club der Leseratten" umgestaltet haben, und diskutiere mit mir selbst über das Leben. Nicht über Bücher, diesmal nicht.
Darf ich das so auffassen, dass sie ein Buch schreibt? Denn so wie ich deine Protagonistin kennen gelernt habe scheint doch ihr Sinn des Lebens die Literatur zu sein, und am Ende liest sie nicht, sondern schreibt. Schliesslich macht sie sich, wie beschrieben, Gedanken um die anderen Menschen(seelen), die ihr nicht den Rücken zuwenden.
Äh, bitte zu dieser, meiner subjektiven These nicht äußern Stephy, dass soll dir nur zeigen das du es hier neben der lebendigen Unterhaltung auch geschafft hast, zum Nachdenken anzuregen.

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Letztlich ist es die Aufgabe des Lesers, einer Geschichte einen Sinn zu geben. - Euer Deutschnote 5 Schüler, Ben P.

 

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