Ein Blatt im Indischen Ozean
In dem Moment, als Katrin die Dachkammer betrat, blieb die Welt draußen, kauerte sich auf der obersten Stufe der uralten Holzleiter zusammen und wartete auf ihre Rückkehr. Ihre Rückkehr von einem Ort zu dem die Welt nicht zu folgen vermochte. Ein Ort bestehend aus aufgegebenen Träumen, unendlicher Hoffnung und einem vergilbten Stück Papier – mit einem abgenagten Bleistift beschrieben.
Gestern hatte Katrin endlich alles gesehen. Sie beobachtete die zerbrechliche, junge Frau, wie sie die Holzleiter hinaufstieg. Ihre Augen waren kalt, als hätte sich ihre Seele weit ins Innere des Körpers zurückgezogen und zwei eisblaue, leblose Glasschalen zurückgelassen. Lange saß die Gestalt in dem geblühmten Ohrensessel, das Papier auf dem Schoß und kaute an dem Ende eines Bleistiftes, bevor sie anfing zu schreiben.
***
“Einmal Rehomelett!“, rief er lachend, als er den Inhalt der Pfanne auf einen Teller schob. Es war ihr erster Abend, nachdem sie bei ihm eingezogen war. In die Küche drang das Licht der sich langsam abwendenden Sonne. Jens hatte alles vorbereitet, eine Kerze angezündet und drei Gänseblümchen in ein Schnapsglas auf den Tisch gestellt. Für jedes Jahr das sie zusammen waren eines. Sie wußte, dass diese Kleinigkeiten für ihn von Bedeutung waren. Katrin konnte da nicht mithalten, so kam es ihr jedenfalls vor.
“Soso, Rehomelett?“
“Omelett für mein Rehlein.“
“Warum gibts denn zur Feier des Tages nicht mal Fisch?“
Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit und sofort bereute sie ihren Satz. Sie wollte das Thema nicht auf diese Weise beginnen. Nicht auf diese Weise und nicht an diesem besonderen Abend.
Eine Weile schwiegen sie beide.
Schnell bemühte sie sich, ihm für das Essen zu danken und mit gezwungen fröhlicher Stimme seine Kochkünste zu loben. Bald plauderten sie über belanglose Dinge und trotzdem spürte sie die sich langsam senkende Mauer. Eine Mauer, die sich vor sein Herz schob und von ihr trennte.
Einmal schenkte ihr Jens ein welkes Blatt. Als sie ihn verständnislos ansah, erklärte er es ihr. „Es ist von der Kastanie, unter der wir uns vor einem Monat das erste Mal geküsst haben.“
Natürlich erinnerte sie sich an den Kuss, es war nach der Lesung gewesen, bei der sie sich kennengelernt hatten. Sie hatte alles organisiert. Die Versicherungsgesellschaft, bei der sie angestellt war, hatte sie dafür ausgesucht. Die Idee stammte vom Vorstand und die Durchführung überließen sie ihr.
Es war ein japanischer, unbekannter Autor, der die Lesung hielt und Jens hatte die Illustrationen in der deutschen Übersetzung des Buches gemacht.
Katrin nahm das Blatt und legte es zwischen die Seiten von Jens Weltatlas, um es zu trocknen. Ein Blatt im indischen Ozean.
“Mein kleines Rehlein“ nannte er sie immer. Katrin war geschmeichelt. Für sie war ein Rehlein ein putziges Tierchen und ein netter Kosename. Er liebte ihre ausgelassene Art und ihre sanften braunen Augen.
Sie dachte sich nichts dabei, dass er ein Poster von einem Delfin im Schlafzimmer hängen hatte, als sie sich kennenlernten, ebensowenig viel ihr auf, dass er es schon sehr bald gegen ein Poster mit dichtem grünen Wald austauschte.
“Siehst du das Reh nicht?“ Fragte er sie später einmal. Es steht dort hinter der großen Fichte.“Ja, du hast recht, jetzt sehe ich es“ war ihre Antwort, weil sie seine Welt verstehen wollte.
Und weil sie seine Fantasie liebte, ließ sich von ihm verborgene Dinge zeigen. Es war, als wäre sie wieder Kind und könnte die Welt staunend neu entdecken.
Er sah sovieles, was sie nicht wahrnahm oder als nebensächlich abtat. Mit seinen Gedanken und Worten war er in der Lage den Kleinigkeiten Bedeutungen zukommen zu lassen, die andere Menschen nicht erkennen konnten.
Genau diese versteckten Inhalte waren es, die in seine Bilder einflossen und den Betrachter fesselten. Und genau das war es, was sie an ihm so liebte.
“Beatrice war meine Frau.“ Der Satz traf sie wie ein Fausthieb in den Magen. Jens hatte nie von ihr geredet, sie nicht einmal erwähnt. Oder doch? Steckte sie vielleicht in jeder kleinen Andeutung? Hätte sie es nicht schon lange wissen müssen? Statt dessen war einem seiner Freunde der Name herausgerutscht, während er Katrin die Hand zur Begrüßung hinhielt. An diesem Abend hatte Jens Geburtstag und im Bücherregal lag ein Blatt zwischen den Seiten eines Weltatlas seit mehr als zwei Jahren im Indischen Ozean.
Obwohl sie viele Freunde hatten und die meisten von ihnen Beatrice gekannt haben mussten, hatte noch keiner von ihnen ihren Namen in den Mund genommen. Es war, als wäre sie aus dem gemeinsamen Gedächtnis aller ausgelöscht worden.
Dies war der Abend, an dem es begann. Waren es Visionen? Träume? war es Beatrice? Zuerst war es nur ein unheimliches Gefühl, das sie manchmal beschlich.
Er sprach nie über Beatrice und Katrin wollte ihn nicht dazu drängen. Immer wieder wich er ihr aus, wenn sie beiläufige Fragen über seine Vergangenheit stellte. Und sie begann zu begreifen, dass seine Vergangenheit Beatrice war. Er musste sie geliebt haben und womöglich tat es ein Teil von ihm immernoch. Ihr Herz begann zu begreifen, aber ihr Verstand wollte es nicht wissen.
Die bohrende Ahnung wuchs, doch das wendige Reh wich ihr aus und klammerte sich ans Jetzt.
Sie lagen nackt ganz nah beieinander. Er war eingeschlafen, den Kopf hatte sie auf seine Brust gelegt und ihr Bein um seines geschlungen.Die Intensität seiner Nähe war beruhigend.
Doch ganz plötzlich begannen die kleinen Härchen an ihrem Arm sich aufzustellen und Katrin bekam eine Gänsehaut. Vorsichtig löste sie sich von ihm, zog sich ihr Nachthemd über, als sie den Schatten sah. Die Lichter der nächtlichen Stadt schimmerten durchs Fenster. Undeutlich bewegte sich der Schatten, direkt neben einem Poster voll düsteren Wald.
Es gab nichts im Raum, was diesen Schatten hätte werfen können. Katrin fror, jeder Muskel in ihr spannte sich. Sie sah ein flinkes Reh im schwarzen Wald an der Wand verschwinden - und die Vergangenheit brach mit einer Macht hervor, die Katrin den Atem nahm.
Immer öfter kamen die Visionen. Leise und sacht schlichen sie sich in Katrins Welt wie eine Krankheit. Eine Krankheit, die man nicht wieder los wird. Katrin glaubte nicht an Geister, aber sie glaubte an eine Mauer, die sich lautlos senkte. Und sie glaubte an eine verlorene Liebe.
In der Abstellkammer entdeckte sie das Poster von einem Delfin. Es war voll intensivem, leuchtenden Blau. Ein Delfin unter Wasser. Lebenslustig und geheimnisvoll zugleich. „Für den Matrosen der Fantasie vom Delfin“, hatte sie in kindlichen Buchstaben auf der Rückseite geschrieben.
So hatte er sie also genannt. Eifersucht begann in Katrin aufzusteigen. Ein Delfin war so viel mystischer, vielschichtiger und eleganter, als ein stinknormales, hausbackenes Reh. Sie hatte in seiner Welt gelebt. Sie war intelligent und fantasievoll, sie hatten perfekt zusammengepasst.
Es wurde noch schlimmer, als sie bei ihm eingezogen war. Sie spürte Beatrice Gegenwart in jeder Ecke des Hauses. Ob sie diese Tapeten ausgesucht hatte? Ob sie das kleine Tischchen dort vors Fenster gerückt hatte? Die Ungewissheit nagte in ihrem Inneren. Irgendwann musste sie mit Jens darüber reden, aber immer wenn sich ein Moment geboten hätte, versteckte sich das Reh im dichten grünen Wald. Nur wenn es Beatrice aus seinen Gedanken verbannt hatte, sprang es sorglos und vergnügt umher.
Katrin wußte, dass Jens diese Sorglosigkeit an ihr liebte und dennoch wurden diese Momente immer seltener. Konnte es denn ein Reh überhaupt mit einem so verspielten Wesen, wie einem Delfin an Sorglosigkeit aufnehmhen?
Sie sah den Schatten nun immer öfter, sogar am Tage. Er huschte durch die Küche, das Wohnzimmer oder durch den kleinen Garten. Sie war überall. Sie sah sie vor dem Bücherregal stehen und auf dem Boden lagen die trocknen Krümel eines Laubblattes. Es schwamm nicht mehr im Indischen Ozean. Blätter hatten dort nichts zu suchen. Es war ein guter Ort für Delfine.
***
“Warum redest du nie über sie?Verdammt, was war mit Beatrice? Nun sags mir schon!!“
Endlich war es raus. Nun musste er mit ihr darüber sprechen, ob er wollte oder nicht. Und wenn es sein musste, würde sie vor einem Geist den Hut ziehen. Sie konnte die Situation einfach nicht mehr ertragen.
“Was soll ich sagen? Du weißt es doch, sie war meine Frau.“
Jens war erstaunlich gefasst und ruhig.
“Wie ist sie gestorben und warum hast du nie mit mir über sie geredet? Liebst du sie noch?“
Ihre Stimme zitterte, dies war der Moment, vor dem sie sich zwei Jahre lang gefürchtet hatte. Um so mehr ärgerte es sie, dass Jens so extrem unbeteiligt wirkte.
“Woher weißt du, dass sie tot ist?“ fragte er eher verwundert als betroffen.
“Ich hab es einfach geahnt.“
“Hm, tja, ich hab es vor etwa zwei Jahren erfahren. Sie hatte einen Verkehrsunfall in einem Pariser Taxi. Ich wollte dich damals nicht damit belasten. Wenn ich ehrlich bin, hat es mir nicht viel bedeutet. Sie hat mir nie viel bedeutet, weißt du?“
Katrin verstand es nicht. Wie konnte er so kalt über den Tod seiner Frau sprechen? Der Frau, die durch dieses Haus spukte und um ihn kämpfte? Sie sah ihn mit verständnislosen Augen an.
“Ich wusste ja nicht, dass dich das Thema so beschäftigt“ sagte Jens schuldbewusst, als er in ihren Augen den Schmerz der letzten Jahre las.
“Ich liebe sie nicht mehr und ich habe sie nie geliebt. Unsere Ehe ist eine reine Zweckehe gewesen. Wir kannten uns nur flüchtig. Ich habe damals noch studiert und hatte immer Geldprobleme, verstehst du? Sie wollte heiraten, um Ruhe vor ihren Eltern und Verwandten zu haben. Sie war lesbisch. Ich habe mitgespielt, dafür hat sie mich finanziell unterstützt. Es ging nicht lange gut, denn wir waren grundverschieden. Sie brachte häufig Besuch übernacht mit und veranstaltete rauschende Partys. Ich brauchte meine Ruhe um zu lernen und zu malen. Ihr Lieblingsplatz war oben auf dem Dachboden. Dorthin hat sie auch oft ihre Besucherinnen mitgenommen.
Wir hatten dann immer öfters Streit. Nach zwei Jahren konnte ich es nicht mehr ertragen, mit ihr verheiratet zu sein und wollte auch ihr Geld nicht mehr annehmen. Wir haben uns dann scheiden lassen. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört, bis zu ihrem Unfall...“
Eine von Eifersucht gebaute Mauer zerfiel mit lautem Scheppern.
***
Die zerbrechliche Gestalt saß in dem geblühmten Ohrensessel und schrieb einen Liebesbrief. Es war ein letzter Versuch, sie zurückzuerobern. Ihre große und einzig wahre Liebe, mit der sie so viele Stunden in diesem Haus verbracht hatte. Oft haben sie zusammen gelesen, oder mit der kleinen Nichte von Jens gespielt, die von allen liebevoll „Delfin“ genannt wurde.
Und Nachts haben sie sich hier auf dem Dachboden leidenschaftlich geliebt. Sie würde für diese Frau kämpfen, bis in alle Zeit.