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Ein blauer Lutscher, riesengroß
Ein blauer Lolli, riesengroß
Meine Tochter hat morgen Geburtstag. Vor drei Wochen hat sie mir den Wunschzettel überreicht, den sie in den drei Wochen davor angefertigt hatte und auf dessen Umfang selbst James Joyce stolz sein könnte.
Als sie letzten Sonntag bei einer „Freundin“ war, die schlicht die größere Puppensammlung hat, haben meine Frau und ich uns dieses Monumentalwerk von Wunschzettel einmal angesehen.
Unsere Tochter ist ein praktisch denkender Mensch, was auch schon die Wahl ihrer Freundinnen beweist und die Wünsche, die sie hat, sind durchaus nachvollziehbar – irgendwie.
Beispielsweise wünscht sie sich ein Barbiepuppenhaus in Lebensgröße, „(min. fünfhundert Quadratmeter Grundfläche)“, wir bauen bald ein Haus und die Kleine hat eine hohe Auffassungsgabe. Dazu will sie auch Puppen haben, „die aus Mamas Zeitung“. Mamas Zeitung ist die Vogue Italia. Die letzte Herbstkollektion von Versace hatte es meiner Tochter besonders angetan.
Auch andere, durchaus verständliche Wünsche sind dabei. Eine Palastanlage, samt nahkampfgeschulter Wachen, für ihr Kaninchen. Aber nicht zu groß, sonst kann sie das Kaninchen nicht zur täglichen Malträtierung einfangen. Ein weiterer Wunsch ist ein Swimmingpool mit Poolboy, doch der Swimmingpool braucht nur ganz klein zu sein, und ich habe den dringenden Verdacht, dass sie der Pool nur mäßig interessiert, und der Poolboy das eigentlich interessante ist, und das obwohl sie erst neun ist, außerdem wäre ein Pool im Kinderzimmer ja auch unpraktisch.
Doch es ist ja nicht so, dass sie an Größenwahn leidet, denn es gibt ja auch den einen oder anderen vernünftigen Wunsch, diese würden allerdings gerade mal ein Reclamheft füllen.
Da wäre zum Beispiel ein Fahrrad, ihre altes ist kaputt und zu klein, ein rosa Tennisspieler, den hat sie sich verdient, denn für eine Neunjährige ist sie ziemlich gut, einen Fußball, nicht für sich selbst, sondern damit sie ihren Bruder quälen kann, der seinen immer verschießt, ( ich weiß, dass das der Beweggrund ist und nicht etwa, dass sie Fußball spielen will, sie neigt nämlich ein wenig zum Sadismus, bei Familienausflügen ist es immer schwer sie davon abzuhalten diverse Insekten zu ärgern ).
In dieser Art geht es dann weiter, bis auf Seite dreiundzwanzig des Reclamhefts steht : ein blauer Lolli, RIESENGROSS. Wahrscheinlich einer der so groß ist, dass der Farbstoff, wenn man fertig ist, soviel Zeit hatte in die Zunge einzuziehen, dass diese noch nach Wochen die jeweilige Farbe haben wird.
Meine Frau und ich haben uns nichts dabei gedacht und den Lolli auf das Ende der Besorgungsliste gesetzt und ihn dann dort vergessen.
Am Freitag hat sie Geburtstag, es ist Donnerstagabend, neunzehn Uhr dreißig, meine Frau ist nicht da und der Lolli war mein Job.
Ich renne hinaus und setze mich hinter das Steuer unseres Autos, der zwar recht schnell ist, so, dass ich auf der Autobahn meistens auf der linken Spur fahren kann, aber dennoch verfügt er nicht über so etwas wie einen Ghost – Modus, mit dem ich durch Sekretärinnen-, Krankenschwestern-, Studentinnen-, Fahrschul-, Banker- und Zahnmedizinstudentenautos einfach hindurch fahren kann. Kann ich nicht und so brauche ich etwas mehr als fünf Minuten. Ich fahre ins Parkhaus, gleich in den obersten Stock, zur Sicherheit, bei einem Tempo, bei dem meine Frau schimpfen würde, mein Sohn und meine Tochter jedoch herzlich jubeln. Im obersten Stockwerk parke ich mein Auto neben einem Porsche Boxer und einem leeren Parkplatz. Im Aufzug überlege ich krampfhaft, „Lollis, wo gibt es die?“ Meine einzige Quelle sind meine Erinnerungen, wo meine Kinder immer quengelnd hin zerren, wenn wir in der Stadt sind.
Erster Versuch, Kaufhof, Untergeschoss, da gibt es zwar Lollis, aber nicht blau, nur grün und rot und auch von beträchtlicher Größe. Zur Sicherheit kaufe ich beide und hetze weiter, vierzehn Euro hat der Spaß gekostet.
Dunkel erinnere ich mich an einen Süßkramladen bei Hertie. Ich winde mich durch die noch volle Einkaufstraße und bin, als ich Hertie erreiche so außer Atem, dass ich als ich durch die ersten Türen gehe, tief einatme und von dieser widerlichen,
warmen Luft so heftig husten muss, dass mich der Wachmann misstrauisch ansieht.
Obwohl ich keine Ahnung habe, wo der Laden sein könnte, gehe ich an der gelangweilten Infotussi vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. An ihrem Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass viele Leute das so machen.
Stattdessen frage ich eines der Schilder, die an den Anfängen der Rolltreppen und Aufzüge stehen. Kinderbekleidung, dritter Stock, vielen Dank.
Doch dort ist nichts, wieder frage ich ein Schild und auch nachdem ich das ganze Schild gelesen habe, weiß ich es nicht. Ich frage eine Frau, die, leicht angewidert, einen Stapel Kinderbekleidung aus den Anprobekabinen trägt.
„Fragen sie an der Info im Erdgeschoss.“, ist die barsche Reaktion auf mein Ersuchen.
Wiederwillig nähere ich mich, zurück im Erdgeschoss, einer jungen Frau, die elegisch Kaugummi kaut, wobei sie immer zwischen jedem Biss eine kurze Pause mit geöffnetem Mund macht und den Unterkiefer mal auf der rechten, mal auf der linken Seite halten lässt. Mit dem linken Zeigefinger, der, wie die anderen Finger, über überlange, weiß lackierte Nägel verfügt, wickelt sie sich eine Haarsträhne ihrer strohigen, blond gefärbten Haare um den Finger.
„Nee, gibt’s hier nich.“, sagt sie.
Der Laden heißt nicht mehr Hertie, sondern Karstadt und einen Süßwarenladen „gibt’s hier nich“, ich soll es mal im Untergeschoss versuchen. Sie hat ein Zungenpiercing und obwohl das kein Vertrauen erweckendes Indiz ist folge ich ihrem Rat.
Hoffentlich wünschen sich mein Sohn oder meine Tochter so etwas nicht.
Hoffentlich machen sie es sich nicht einfach.
Also im Untergeschoss des Kaufhauses Hertie – Karstadt. Dort gibt es ebenfalls nur rot und grün, aber auch gelb, ich nehme gelb und gehe.
Hilflos stehe ich vor dem Eingang des Kaufhauses. Die Hilflosigkeit wird zur Verzweiflung, als ich bemerke, wie zielstrebig sich die Menge, noch um zehn vor acht, bewegt. Das einzige was heraussticht sind die Penner, doch auch sie wissen was sie suchen, das tue ich auch, aber sie wissen auch wo, ich hingegen nicht.
Sie suchen nach Geld, Essen, Arbeit, ganz allgemein, nach Glück und wo? In Mülltonnen. Ich suche auch noch Glück, aber nicht nach meinem eigenem und daher weiß ich nicht wo ich suchen soll.
Wiederum beschließe ich jemanden zu fragen, am besten, eine Person, die zur Zielgruppe dieser Art Geschäfte zählt. Schließlich sehe ich eine solche, eine Frau und ein Kind, einen Jungen. Zielstrebig gehe ich auf sie zu und fixiere ihre Augen, sie bemerkt meinen Blick, doch als ich sie erreicht habe und sie gerade ansprechen will, läuft sie einfach weiter und zerrt ihr Kind hinter sich her, das mich interessiert anstarrt.
Doch noch ist nicht alle Hoffnung verloren, auch andere Mütter haben verfressene und gierige Kinder. Ich spreche eine weitere Mutter mit Kind an und frage so höflich ich kann. Diesmal wird wenigstens reagiert und nachdem sie mir gesagt hat sie wisse keinen Laden, wo es tellergroße, blaue Lollis gibt, schauen wir beide auf ihren Sohn hinunter. Der überlegt fachmännisch und sagt dann, an seine Mutter gewandt, dass es neben McDonalds so einen gäbe. Auch ich erinnere mich den Laden aus dem Augenwinkel gesehen zu haben und renne los, nachdem ich mich artig bedankt habe.
Der Laden hat noch offen, ich gehe darauf zu und ziehe an der Tür, sie öffnet sich nicht und für einen Moment überkommt mich Panik, doch dann sehe ich das große Schild, „DRÜCKEN“, erleichtert lehne ich mich gegen die Tür, doch sie gibt nich nach und als ich daran rüttle, tritt ein Frau heran und schüttelt den Kopf, während sie auf die Öffnungszeiten deutet.
Wochentags : 10.00 Uhr bis 19.55 Uhr
Es ist, auf meiner Uhr, 19.57 Uhr. Bittend klopfe ich auf das Ziffernblatt, doch sie schüttelt noch einmal den Kopf und wendet sich ab. Ist es nicht eine Schande, dass solche widerwärtigen Trutschtanten Süßigkeiten an unsere Kinder verkaufen. Denn in den Augen unserer Kinder werden solche niederträchtigen Personen wie Engel gesehen, während wir die Teufel sind, die sie an solchen Läden vorbeischleifen.
Als ich zurück zum Parkhaus gehe, fühle ich mich wie Aktionär, der sich verkalkuliert hat. Passenderweise laufe ich gerade an der Börse vorbei.
Inzwischen steht mein Auto fast alleine auf der Etage, das einzige andere ist ein weißer Lieferwagen, der so deprimierend aussieht, wie ich mich fühle.
Auf dem Rückweg ist mir auch der Verkehr egal und als ich den Schlüssel in die Wohnungstür stecke, bemühe ich mich die Verzweiflung abzuschütteln.
„Wir sind im Kino“, steht auf einem Zettel und die Wohnung ist leer.
Ich schaue noch ein wenig fern und gehe dann ins Bett, um mich den Alpträumen zu stellen.
Freitagmorgen. Mir ist es gelungen die Verzweiflung zu verbannen. Meine Frau hat schon begonnen das Frühstück zu machen, als ich ins Bad gehe, sehe ich sie, schon angezogen, in der Küche hantieren.
Nachdem ich mich fertig gemacht habe, wecken wir die Kinder und meine Tochter öffnet die Wohnzimmertür. Neben einem sehr runden und einem sehr eckigen Geschenkpaket und einem Fahrrad, liegen vier Lollis, ein roter, ein grüner, ein gelber und ein blauer. Während sich meine Tochter an dem Anblick weidet und mein Sohn ihr neidisch über die Schulter schaut, nehme ich meine Frau in den Arm, denn sie hat in ihrer unendlichen Für- und Vorsorglichkeit den
Lolli gekauft. Sie schaut mich fragend an, ob des unerwarteten Ausbruchs an Zuneigung, doch ich schüttele nur grinsend den Kopf.