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Ein Brief für Maria
Ich wachte auf und draußen war es schon hell. Mein Gott, dachte ich, ich komme zu spät zur Schule! Schnell sprang ich aus dem Bett und wollte mich anziehen, fand aber keine Socken, weil ich mich so beeilen musste. Also hetzte ich barfuß zu Papa ans Bett.
"Papa?", fragte ich leise und wartete einige Augenblicke. Er schlief weiter. "Papa", diesmal etwas lauter, "ich finde keine Socken mehr." Von ihm kam nur ein Grunzen, dann drehte er sich auf die andere Seite. Mist! Also zog ich mich fertig an - ohne Socken -, Mantel, Stiefel, ein Küsschen noch für Papa, und dann beeilte ich mich in die Schule zu kommen.
In der Nacht hatte es geschneit, aber meine Angst vor dem Lehrer war so groß, dass ich die Kälte nicht spürte. Die Kirchturmuhr schlug halb neun, als ich an der Schule ankam: Ich war eine halbe Stunde zu spät. Das würde Ärger geben.
"Fräulein Niederberger, wie schön, dass Sie uns mit ihrer Anwesenheit beehren." Er blickte mich streng an und ich machte mich ganz klein. Sicher habe ich erbärmlich ausgesehen, nass vom Schnee und mit den ungekämmten Haaren.
"Entschuldigen Sie bitte, Herr Lehrer. Es hat geschneit und ..."
"Sei leise! Setz dich - aber glaub mir, darüber reden wir noch!"
Leise ging ich in die Bank und erntete einen erstaunten Blick von meiner Freundin Johanna.
"Maria, da bist du ja!" Sie sprach leise und ich beugte mich zu ihr. "Ich habe schon gedacht, der Schnee hätte dich verschüttet und wir müssten dich suchen gehen." Sie grinste mich an, ihre Zöpfe baumelten frech hin und her.
"Nein, nein, ich hab verschlafen. Mein Wecker ist doch kaputt, schon ewig lange, aber wir haben kein Geld für einen neuen, wegem dem Krieg und so."
"Den Krieg werden wir bald gewonnen haben, mein Papa hat das gesagt. In Russland sieht es gut aus. Ach, und wegen dem Geld: Ich schenke dir einen Wecker, wenn du willst. Aber sag mal, wie siehst du denn aus? Du bist ja eine halbe Vogelscheuche, und deinen Rock hast du auch falsch herum an."
Ich blickte runter und wurde rot. Sie hatte Recht. Also zog und zerrte ich, bis die Naht an der rechten Stelle war, was mir im Sitzen schwer fiel.
"Still! Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich euch lehren, was es bedeutet, den Unterricht zu stören!"
"Entschuldigen Sie, Herr Lehrer", sagten wir Mädchen wie aus einem Mund und senkten den Blick, die Hände züchtig auf der Bank gefaltet. Er schaute uns nur streng an und machte dann weiter.
Am Nachmittag gingen wir gemeinsam heim, unsere Häuser waren ja nicht weit weg voneinander.
"Treffen wir uns nach den Hausarbeiten?", frage ich Johanna.
"Nein, ich muss Papa helfen. Du weißt, er hat doch dieses kaputte Bein seit dem Krieg. Da kann er eben nicht mehr alles. Und Mama ist nicht da, die ist in die Stadt gegangen, sie kauft da ein."
"Schade. Gut, sehen wir uns ein andermal. Bis bald!"
"Bis bald!"
Zuhause öffnete ich die Tür und trat ins Innere unserer kleinen Wohnung.
"Hallo Papa, ich bin zu Hause!" Niemand antwortete. Das war seltsam - ob er immer noch schlief? Ich ging die kleine Treppe hoch in die Wohnküche und erschrak. Er saß auf der Eckbank, vor ihm standen drei Weinflaschen, in den Händen hielt er einen Brief. Genau so war er am Tisch gesessen, mit einem Brief, damals vor zwei Jahren, als die Sache mit Mutter passierte. Immer wenn etwas Schreckliches war, bekamen wir einen Brief. Ich befürchtete Schlimmstes und kam langsam näher.
"Papa?" Er schaute zu mir, dann lächelte er. Er wirkte müde. Als sein Blick zurück auf den Brief fiel, lächelte er nicht mehr.
"Mein Schatz." Er hatte mich noch nie "Schatz" genannt. Nur Mutter, damals.
"Papa, was ist los, warum betrinkst du dich?"
"Weil heute ein Scheißtag ist, mein Schatz, ein verdammter Scheißtag!" So hatte ich ihn noch nie reden hören. "Maria, komm mal her." Ich ging langsam auf ihn zu.
"Nun sag schon, Papa!" Er zögerte.
"Maria, ich muss weg - bald schon." Ich schluckte und starrte ihn an, irgendwo in der Stille tropfte ein Wasserhahn. "Der Brief ist von der Wehrmacht, von diesen verdammten Bastarden." Er sah mich nicht an, ich zuckte zusammen. Wehrmacht? "Mein kleiner Schatz, das bedeutet, dass wir an der Ostfront verlieren. Sie brauchen Verstärkung, dort - jeden Mann. Um die Line zu halten. Aber das verstehst du noch nicht, mein Schatz, und das musst du noch nicht verstehen, und das ist gut so, verdammt gut so. Aber eines davon wirst du verstehen müssen." Er wurde ernst und nahm einen weiteren Schluck aus einer der Flaschen, wischte sich den Mund ab und blickte mich an. Und wie ich verstand. Papa war einberufen worden!
"Papa, du musst weg?" Mein Herz wurde schwer, ganz schwer. Eine Weile sagte niemand etwas. Draußen hörte man spielende Kinder.
"Ja, in zwei Wochen", sagte er nach einer Weile. Ich schluckte und meine Hände wurden feucht. In den Krieg. Das bedeutete, er würde kämpfen, mit richtigen Gewehren und mit Munition, und das wiederum bedeutete, er könnte dabei ... nein!
"Papa, ich will nicht, dass du gehst! Du könntest sterben und ich sehe dich nie wieder! Bitte, bitte, geh nicht!" Ich setzte mich zu ihm. Er sah mich lange an, seine Augen wurden klein, dann hob er eine Hand und fuhr mir durch die Haare.
"Mein Schatz, ich komme wieder, ich verspreche es. Und - ich habe mir etwas überlegt. Es wird dir nicht gefallen, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Du wirst zu unseren Nachbarn gehen, den Schwenningers. Ich werde gleich morgen mit Karl reden. Wir kennen uns schon seit der Schulzeit. Und mit Johanna verstehst du dich doch, ihr sitzt doch in der Schule nebeneinander."
Mein Herz setzte aus.
"Ja aber du kannst mich doch nicht einfach fortschicken! Ich will nicht, dass du gehst, und vor allem will ich nicht weg, niemand soll hier weg, wir bleiben hier!" Ich fühlte Tränen in meinen Augen und mein Blick verschwamm.
"Du bist zu jung um das zu entscheiden. Sag mal, Mädchen, glaubst du, ich mache es mir leicht? Verdammt, ich will doch auch nicht gehen, und würde am liebsten blieben! Aber Karl ist ein guter Mensch und das ist er mir schuldig, dass er sich um dich kümmert, ich habe mich auch um die Johanna gekümmert, als er weg war und seine Frau krank im Bett lag!" Ich sah auf den Boden und hätte fast angefangen zu weinen, aber ich konnte mich zusammenreißen, nachdem ich mir fest auf die Zuge gebissen hatte. Zu den Schwenningers sollte ich - ohne Papa. Reich waren die, die konnten sich vieles leisten. Das waren ganz andere Leute als wir, sagte Papa immer. Johanna war in Ordnung, ja - aber Johannas Mutter war ein Teufel. Sie mochte mich nicht, keine Ahnung weshalb. Das würde die Hölle werden. Aber was blieb mir? Zwei Wochen. Nur noch zwei Wochen.
"Wie du willst, Papa."
Die folgenden Tage vergingen und mir war ständig schlecht. Schwenningers waren natürlich einverstanden, mich für die Zeit bei sich aufzunehmen. Und irgendwann musste Papa dann weg.
"Ich liebe dich, Papa!"
"Und ich liebe dich, mein Schatz!"
Er hob mich hoch, drückte mich und ich sog seinen Geruch ein, schloss die Augen und dachte an Weihnachten, an Ostern und an Mutter.
"Bis dann in ein paar Monaten, ja?"
Dann setzte er mich ab und ich blickte ihm nach, als er auf den Truppentransporter kletterte. Er sah gut aus in seiner Uniform. Wie ein Ritter. Ein moderner Ritter zwar, aber trotzdem. Ich winkte und der Wagen polterte davon, weit weg. Dann erst weinte ich.
Später ging ich die wenigen Schritte zum Haus den Schwenningers und klingelte. Frau Schwenninger öffnete und reichte mir die Hand, Johanna drängte sich dazwischen.
"Maria, schön, dass du da bist. Johanna wird dir zeigen, wo du schläfst. Ist das alles, was du an Sachen dabei hast?" Sie betrachtete meinen kleinen Koffer. Ich nickte.
"Gut, es wird wohl reichen müssen." Sie lächelte, es wirkte nicht echt und in ihrem Mund waren große Zähne. Johanna hüpfte aufgeregt auf und ab.
"Das wird so wunderbar, du schläfst in meinem Zimmer, wir werden so viel Spaß miteinander haben, du darfst mit all meinen Spielsachen spielen und tun, was du willst - oh, ich freu mich so!"
Ja, so hatte ich mir das vorgestellt. Mit all ihren Spielsachen spielen. Ich wollte, es wäre schon Monate später und Papa wäre wieder hier. Ich nahm meinen kleinen Koffer und folgte Johanna ins Haus. Drinnen war es dunkel und roch nach Bohnerwachs.
Wir zogen unsere Stiefel aus und gingen eine kleine, enge Treppe hoch, bei der jede Stufe quietschte. Oben waren zwei Zimmer, das eine leer bis auf einen verstaubten Webstuhl, das andere Zimmer gehörte wohl Johanna.
"Das ist mein Zimmer!", sagte sie stolz und stellte sich in die Tür. Im Inneren des kleinen Raumes war alles penibel aufgeräumt, in einem Regal an der Wand saßen Puppen, sorgsam aufgereiht, ein großer Kleiderschrank war da, an der Wand gegenüber dem Fenster, und sogar ein Spiegel. Johannas Bett befand sich an der Wand links vom Fenster, rechts davon war eine Matratze auf den Boden gelegt worden. Ein kleines Kissen verlor sich darauf und eine fleckige Decke.
"Gefällt es dir?", wollte Johanna wissen.
"Schön", sagte ich knapp und roch den schweren Eichenschrank und die Daunendecke. Zuhause habe ich nur einen kleinen Kasten, Johanna musste sehr viele Kleider haben.
"Setz dich doch", sagte sie. Ich machte das und bemerkte, dass die Matratze dünn war und meine Decke Löcher hatte.
"Warum sagst du denn so wenig? Bist du traurig wegen deinem Vater?"
Ich nickte, stützte meinen Kopf auf die Arme und zog die Beine an. "Ja."
"Aber er kommt ganz sicher wieder. Meiner ist auch wiedergekommen, und er hat nur das mit dem Bein. Der Doktor meint, es kann sein, dass es sich wieder erholt, man weiß nie." Ich schloss die Augen und sah Papa vor mir, er blutete und trug ein Gewehr in der Hand.
"Johanna?", sagte ich tonlos.
"Ja?"
"Ich muss mal ..." Sie lächelte und ich wurde rot, aber es war mir egal.
"Treppe runter, den Gang entlang und dann gleich rechts."
Ich nickte, murmelte ein "Danke", stand auf und ging - froh, nicht mehr mit ihr in einem Zimmer sein zu müssen. Auf der Toilette habe ich dann das erste Mal geweint, das erste Mal, aber nicht das letzte. Nach drei Monaten kannte ich das Muster der Fliesen auswendig.
"Papa, erzählst du Maria und mir eine Geschichte?" Wir saßen am Kamin, Johanna, ihr Vater und ich, eigentlich war es gemütlich - Johannas Mutter war bei Freunden -, trotzdem fror ich.
"Ihr seid doch viel zu alt für Geschichten."
"Ist nicht wahr, bitte, bitte, eine Gruselgeschichte!"
Und die bekamen wir auch, Johannas Vater erzählte eine Geschichte über Geister aus dem Wald, über Alpträume und ich dachte an Papa und Mama und hörte nicht richtig zu. Johanna schon, sie konnte in der Nacht nach der Geschichte nicht schlafen, weil sie so Angst um sich hatte, und ich habe nicht schlafen können, weil ich an Papa gedacht habe, und daran, dass es nun schon drei Monate waren, und er immer noch nicht zurück war.
"Denkst du an deinen Papa?"
"Ja."
"Er kommt wieder, ganz sicher."
"Klar."
"Ich gehe noch in die Stadt runter." Johanna hörte mir nicht zu. Sie war sauer, keine Ahnung weshalb. Vielleicht wegen der kleinen Holzpuppe, die mir Matze geschenkt hat. Maria hatte zwar auch viele Puppen, aber keine solche. Ein bisschen grob hat sie ja schon ausgesehen mit den Strohhaaren, und nackt war sie auch, aber sie war meine. Meine erste Puppe.
"Was machst du denn noch in der Stadt?", fragte sie. Ich wusste, sie würde petzen. Es war mir egal. Sie petzte immer. Alles, was sie von mir erfuhr, sagte sie ihrer Mutter. Die schimpfte dann mit mir, aber sie schimpfte auch so. Ich glaube, sie hätte mich am liebsten losgehabt.
"Versprichst du, dass du nicht petzt?"
"Klar."
"Ich gehe den Mann besuchen, der mir die Puppe geschenkt hat."
"Aber es ist doch schon dunkel draußen und sicher gefährlich."
"Nein, der Mann beschützt mich. Ich glaube, er ist ein Zauberer." Sie sah mich mit großen Augen an.
"Ein Zauberer? Bist du dumm? So etwas gibt es doch nicht. Wie kommst du denn auf so etwas?"
"Er sagt, er kennt meinen Papa." Ich senkte den Blick. "Und er sagt, er kann mich zu ihm bringen." Ich glaube, Maria hat mich in diesem Augenblick gehasst, weil ich weg durfte, aber sie nicht. Ihre Mutter hatte es verboten. Bei mir war es ihr egal.
"Komm ja wieder - du kannst dir vorstellen, wie sauer Mutter wird, wenn wir dich suchen müssen!"
"Endlich, hab ja schon gedacht, dass du nicht mehr kommst. Probleme mit der Alten?" Matze sah mich aus seinen hellen, blauen Augen an, er war jünger als Papa, aber er hatte schon einen kleinen Bart. Ich setzte mich zu ihm auf die Bank am Brunnen.
"Nein, aber Johanna war noch nicht im Bett, und sie wollte noch reden." Er nickte und ich sah ihn an. Er bemerkte den Blick, griff in seine Tasche und reichte mir eine kleine Flasche aus Blech. Wenn Johanna erfahren hätte, dass ich mit Matze gemeinsam trinke, sie wäre aus allen Wolken gefallen. Oder hätte es mir einfach nicht geglaubt.
"Sie wissen noch nichts, oder? Und du Gör sagst es ihnen nicht, du Biest. Recht hast du!" Ich zuckte mit den Schultern und nahm einen tiefen Schluck.
"Hör auf so zu reden."
"Tut mir Leid, Kleine. Echt, ich vergesse manchmal meine Erziehung." Er lachte, ihm fehlte ein Zahn. "Wie geht's dir denn? Erzähl doch mal. Hat der Alte wieder Geschichten erzählt?"
"Ja."
"Der ist so verrückt. Ihr seid doch keine kleinen Mädchen mehr."
"Johanna mag die Geschichten."
"Johanna ist eine dumme Kuh." Ich sagte nichts darauf, er hatte Recht. Trotzdem traute ich mich nicht, es auszusprechen.
"Wird Zeit, dass wir hier verschwinden", sagte er. Ich wurde nervös. Er redete oft vom Verschwinden, aber so deutlich hatte er es noch nie erwähnt.
"Wann willst du abhauen?", fragte ich.
"Übermorgen geht der Zug nach Chemnitz. Kommst nun mit oder nicht?" In seinem Blick lag Hoffnung.
"Ich weiß nicht, Matze. Ich weiß es wirklich nicht."
"Sagst du es ihnen? Oder willst du nicht?"
"Was? Dass ich weg will? Vielleicht."
"Nein, das Andere." Ich schluckte und sah ihn nicht an.
"Ich gebe ihnen den Brief." Meine Stimme war tonlos, nur ein Flüstern. Es fühlte sich so leer an, wenn ich daran dachte, so, als wäre nichts da, kein Gedanke, nur eine endlose Leere.
"Das ist mutig, meine Kleine. Echt mutig von dir. Wirst ne Menge Kraft brauchen dafür." Dann sah ich ihn doch an und etwas in meinem Blick ließ das Lächeln auf seinem Gesicht verschwinden.
"Kraft hab ich dafür gebraucht, dass ich nicht geweint habe, als sie mir den Brief gebracht haben. Weil - ich habe schon geahnt, was darin war, noch bevor ich ihn geöffnet habe. Ich habe es schon befürchtet, als ich die Uniformen gesehen habe an unserem Haus. Und dann haben sie etwas in den Briefkasten gesteckt. Bei uns kommt immer ein Brief, wenn etwas Schlimmes passiert ist."
Er presste die Lippen aufeinander, eine Weile sprach niemand.
"Also - du kommst mit?"
"Ja. Was hält mich noch hier, wenn Papa nicht mehr kommt?"