Hej Cruzha,
Vorsicht, hier kommt eine sehr detaillierte Kritik:
Obwohl sie erst zwei Jahre lang zusammen waren, dachte man, wenn man sie sah, dass diese zwei schon ihr ganzes Leben miteinander verbracht haben.
Wer ist "man"? Denkt wirklich jeder, der die zwei sieht "wow, die sind ja schon ihr ganzes Leben lang zusammen!"? Und warum denken das alle? Hier wünsche ich mir als Leser etwas, das mir zeigt, wie sehr die beiden verliebt sind, wie sehr sie harmonieren. Eine kleine Geste, eine Szene aus ihrem Leben, irgendwas.
Ihre Beziehung war von einem ganz besonders banalen Umstand bewegt: Liebe.
Ich glaube, die meisten Menschen sind zunächst mal aus Liebe zusammen, zumindest in der westlichen Welt.
Und Du bist der erste Mensch, der mir Liebe als "ganz besonders banal" verkaufen will, die meisten bezeichnen diese Emotion eher als "fürchtelrich kompliziert".
Und da sie schon einige Zeit zusammenwohnten, hatten sie auch schon einige Rituale.
Liest sich wie eine Erweiterung von "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute" - versuche, Sätze nicht mit "und" zu beginnen!
Darin befand sich dann immer ein DIN A 4 – Zettel mit einem kurzen Liebessspruch, einem verliebten Satz oder Ähnlichem.
Sobald Annika morgens dann völlig verpennt die Küche betrat und den Briefumschlag öffnete, hellte sich ihre Miene immer auf.
Dieser Satz liest sich für meinen Geschmack viel zuumgangssprachlich. So erzählt man die Story vielleicht seiner besten Freundin, ein Leser verdreht eher die Augen, weil er beim Lesen gerne eine etwas stilvollere sprache genießen möchte als im Gespräch.
Das war für sie immer der schönste Moment das ganzen Tages. Genau wie der, wenn immer um 6.30 Uhr morgens das Telefon klingelte. Dann meldete sich Benjamin immer und wünschte ichr einen schönen guten Morgen LEERZEICHEN - Kurzum: Annika konnte nicht mehr ohne Benjamin sein und umgekehrt.
Ganz schön viel "immer" im Satz - dadurch entwertest Du die Bedeutung leider völlig, was vermutlich nicht in Deinem Sinne war. außerdem kann es nicht zwei schönste Momente geben, das widerspricht der Funktion des Superlativ.
Letzte Woche hatten sie sich aber gestritten.
Naja, ist ja inzwischen vergeben und vergessen. - Oder warum ist es letzte Woche? Warum darf der Leser das Geschehen nicht miterleben, sondern bekommt es irgendwann danach erzählt? Du wertest das Kommende ab. Besser wäre es, an dieser Stelle ins Geschehen einzusteigen, zum Beispiel, indem Du schreibst "Bis gestern Abend hatten sie sich nie gestritten". Oder ähnlich.
Es ging darum, ob man sich vor einer Hochzeit verloben solle oder nicht. Benjamin war der Ansicht, das die Verlobung nur Kinderkram ist und gar nix mit ner Hochzeit zu tun hat. Annika beharrte auf dem Standpunkt der Romantik und meinte, das müsse eben so sein.
Streng genommen ist man von dem Moment an verlobt, in dem man beschließt, zu heiraten - ich vermute also, dass Deine Protagonisten nicht um die Verlobung an sich, sondern um eine Verlobungsfeier streiten. Das sollte auch zum Ausdruck kommen.
An dem Donnerstagabend hatten sie sich das erste Mal so in den Haaren, dass sie ohne gegenseitiges Gutenachtbussi in verschiedenen Betten schlafen gingen.
Anscheinend haben sie doch schon mal vorher gestritten, jedenfalls gibt Deine Formulierung das her. Und das Wort "Gutenachtbussi" ist unfreiwillig komisch. schreib einfach Kuss - und lass das unnötige "gegenseitige" ganz weg, dass sie einander und nicht jeder sich selber küsst, ist eh klar.
Aber trotzdem klingelte für Benjamin dann wieder um vier der Wecker.
Natürlich, der war ja auch am Streit nicht beteiligt - oder was genau willst du mit dem "trotzdem" zum ausdruck bringen?
Er schlurfte in die Küche, kochte Kaffee, frühstückte und holte dann den allmorgendlichen Briefumschlag für seine Freundin.
Da Du jeden Handgriff so detailliert beschreibst, fehlt hier das Schreiben des Briefes. Lass den Umschlag weg und geh nur darauf ein, dass er ihr ein paar Zeilen / Worte schreibt, sonst fragt sich der Leser die ganze Zeit, was er denn nun mit dem leeren Umschlag macht.
Es war ein kalter Morgen, es hatte in der Nacht geregnet und nun begann es zu frieren. Benjamin merkte in jeder Kurve das entstehende Glatteis und fuhr entsprechend vorsichtig. Als er auf die Autobahn fuhr, konnte er den Wagen schon fast nicht mehr halten; die allwinterliche Glatteishölle war ausgebrochen.
Wenn ich bei Glatteis auf die Autobahn fahre und merke, dass ich den Wagen kaum noch halten kann, fahre ich entweder bei der nächsten Abfahrt runter und nehme den Bus, oder ich lasse den Wagen stehen und gehe zu Fuß weiter - vermutlich würde ich aber gar nicht erst auf die Autobahn fahren, sondern gleich das Auto stehen lassen, wenn ich vom Glatteis überrascht werde.
Durch die Tatsache, dass Benjamin all dies nicht tut und nicht mal darüber nachzudenken scheint, wirkt die Katastrophe sehr konstruiert. Merke: Damit eine Geschichte glaubwürdig ist, sollten die Figuren immer nach bestem Wissen und Gewissen handeln!
Noch dachte sich Benjamin dann auch nix dabei, als der LKW in seinem Rückspiegel auftauchte.
Warum sollte er auch? Schließlich gehört die Autobahn ihm nicht allein. Der ganze Satz wirkt mal wieder entsetzlich umgangssprachlich, zudem scheinst Du ihn nur geschrieben zu haben, um dem Leser zu sagen "Achtung, gleich passiert etwas!" - das ist unnötig und meistens kontraproduktiv. Und weil er auch noch entsetzlich umgangssprachlich daherkommt, kann ich Existence' Schmunzeln durchaus nachvollziehen.
Die Polizei rekonstruierte später, dass der Laster Benjamins kleinen Fiat überholte und viel zu früh wieder auf die rechte Spur einscherte. Durch die Vollbremsung geriet der Kleinwagen außer Kontrolle, geriet von der Strecke und kugelte sich mehrmals überschlagend die nächste Böschung herab. Der Fahrer war sofort tot.
Prima - Du bringst den Leser um den emotionalen Höhepunkt der Geschichte! Anstatt zu schildern, wie der LKW langsam näherkommt, verboternerweise versucht, zu überholen, vermutlich auch noch ins Schlingern gerät (es ist schließlich glatt!), wie Benjamin verzweifelt versucht, seinen Wagenunter Kontrolle zu bekommen und dem LKW auszuweichen und schließlich erkennen muss, dass er es nicht schafft, wie er vielleicht in letzter Sekunde wehmütig an Annika denkt und sich wünscht, sie noch einmal wiederzusehen - das alles nimmst du dem Leser, stattdessen schilderst du im nüchternsten Polizeiberichtstil was passiert ist.
Warum?
Gegen sechs Uhr schreckte Annika im Schlaf hoch.
Schreckt sie im Schlaf hoch (dann schläft sie weiterhin), oder aus dem Schlaf (dann ist sie wach)?
Ein grässlicher Albtraum hatte sie geplagt, und als sie so schweißgebadet im Bett saß, kroch schon ein ungemütliches Gefühl in ihr hoch.
Du versuchst, dem Leser zu vermitteln, dass Annika spürt, was geschehen ist. Leider machst Du das nicht sehr subtil, sondern eher mit dem Holzhammer. Ein Alptraum lässt sie hochschrecken - aha, denkt der Leser, sie muss etwas gespürt haben. Und dann kriecht auch noch ein ungemütliches Gefühl in ihr hoch - damit auch der dümmste Leser schnallt, worum es hier geht? Selbst ein Hochschrecken ohne Alptraum hätte völlig gereicht, um dem Leser klarzumachen, dass Annika unplanmäßig aufwacht. Hier hast du eindeutig zu viel des Guten getan und damit mal wieder die Wirkung eliminiert, anstatt sie hervorzurufen.
Sie wusste genau: Irgendwas stimmte da nicht.
Naja, der gehört in die obige Reihe: Noch ein Holzhammer für den Leser (der vermutlich nicht gerade aus dem Schlaf hochschreckt und daher wacher ist als Deine Heldin, er kann sich also durchaus einen Reim darauf machen).
Während sich ihr Kopf mit diesen Gedanken plagte, schlurften ihre Füße sie in die Küche.
Coo, bleibt der Kopf im Bett, während die Füße schon mal vorgehen? Und wo ist ihr Körper währenddessen? Sorry, aber das ist wirklich nur unfreiwillig komisch, den Satz solltest Du ganz dringend ändern!
Annika setzte sich erst mal und beruhigte ihre albtraumgeplagten Nerven mit ein paar Tassen Kaffee, als das Telefon klingelte.
Komisch, mich macht zu viel Kaffee immer nervös. Wenn ich also aufgeregt bin, würde ich eher kamillentee trinken.
Es war ungefähr halb sieben, und sie freute sich darauf, die Stimme ihres Lieblings zu hören. Wie jeden Morgen.
Ja, das wissen wir ja nun, dass das jeden Morgen geschieht. Genauso, wie wir schon wissen, dass es nicht Benjamin sein kann. Die Spannung, die Annika spürt, kann der Leser nicht mehr nachempfinden.
Abhilfe: Mach einen Schnitt, wenn der LKW auftaucht und schwenke zu Annikas Aufwachszene über. Dann kann auch der Leser noch glauben, dass es Benjamin ist und der LKW ihm nichts getan hat.
„Annika Schmitz?“ fragte die fremde Stimme.
„Ja, die bin ich... und Sie?“
„Oberwachtmeister Kanetzke. Frau Schmitz, ich habe eine sehr unangenehme Nachricht für Sie.“
Das Unwohlsein in Annikas Bauch wurde stärker.
„Was ist denn passiert?“
„Nun, heute morgen hat sich hier auf der Autobahn kurz vor der Abfahrt Nummer 32 ein Unfall ereignet, an dem ein auf Sie zugelassener Fiat beteiligt war.“
Annika wurde heiß und kalt. Sie schluckte, heulte, hoffte. Alles in einer Sekunde, dann fragte sie:
„Wer saß denn am Steuer? Doch nicht etwa Benjamin...“
„Laut des Personalausweises ein gewisser Benjamin Krese. Kennen Sie den Mann?“, fragte Kanetzke.
Der ganze Dialog ist Mist. Sorry, aber ich erklär's Dir auch gerne:
Der Polizist sagt, er habe eine sehr unangenehme Nachricht für sie. Danach fragt er, ob sie den Mann kenne, der den Wagen gefahren ist. Da die beiden zusammen wohnen, steht in seinem Perso ihre Adresse - ihm muss also klar sein, dass sie seine Lebensgefährtin ist. So, wie der Dialog abläuft, wirkt es eher so, als sei die unangenehme Nachricht, dass ihr Auto geklaut und zu Schrott gefahren wurde.
Und zum Schlucken, Heulen, Hoffen: Das wirkt wirklich etwas stakkatoartig, denn nach dieser Sekunde - und damit, nachdem sie mit schlucken, Heulen, Hoffen fertig ist - stellt sie eine Frage. Mach klar, dass sie sich erst sammeln muss, vielleicht versagt ihr die Stimme, bevor sie sprechen kann, weshalb sie schluckt etc.
Annika konnte nicht mehr sprechen. Annika war nur fassungslos.
Zweimal "Annika" am Satzanfang wirkt komisch. einmal reicht - zumal es eh nur eine Frau gibt, auf die sich "sie" beziehen kann.
„Der Mann ist bei dem Unfall ums Leben gekommen. Es tut mit leid“, glauben konnte Kanetzke aber keiner.
Der Satz ist wirklich unverständlich. Da ist nur Annika, die ihm glauben kann oder auch nicht, niemand sonst. Abgesehen davon, dass der Satz so unglücklich gestellt ist, dass man das Verb zunächst auf den Polizisten bezieht und sich dann fragt, wie man keiner glauben kann. Dann muss man den Satz noch mal lesen - ist also völlig aus dem Geschehen gerissen - und dann fragt man sich unweigerlich, wer denn noch alles mithört.
Annika war nicht mehr fassungslos. Sie stand in dem größten schwarzen Loch des Universums.
Sehr pathetisch. Außerdem kann man sowohl in einem schwarzen Loch stehen und gleichzeitig fassungslos sein. Also bleibt die Frage, warum sie nicht mehr fassungslos ist. Was hat das beendet?
Ohne nachzudenken KEIN KOMMA legte sie einfach auf.
Nicht mal einen letzten Gruß hatte sie von ihm – bis ihr Blick auf den Briefumschlag fiel.
Den hatte sie schon gesehen, als sie in die Küche kam. Schon da hab ich mich gefragt, warum sie erstmal frühstückt und den Brief nicht beachtet. Gerade nach einem Streit sollte sie sich doch doppelt freuen, dass er das ritual nicht gebrochen hat, sondern sie anscheinend nachwie vor liebt und ihr etwas Nettes sagen möchte. Und da sie ein ungutes Gefühl im Magen hatte, sollte sie erst recht wissen wollen, was er schreibt, und sei es nur, um wieder tuhiger zu werden.
Fazit: Dass sie den Umschlag nicht gleich öffnet, ist auch nur konstruiert, um den Knaller am Ende zu ermöglichen. Leider macht es Deine Figuren unglaubwürdig (siehe oben: eine Figur sollte immer nach bestem wissen und Gewissen und vor allem auch logisch handeln. Nur so wird aus einer Figur in einer Geschichte ein glaubwürdiger Mensch, der so tatsächlich auch nebenan leben könnte. Annika und Benjamin sind Figuren in einem schlechten Kitschtheater, reale Menschen könnten sie nie sein.
Als Annika den Brief aus dem Umschlag zog, fielen ihr zwei Sachen aus dem Umschlag, die bei der Landung auf den Küchenboden klimperten.
Wortwiederholung "Umschlag". außerdem steigerst Du shcon wieder unnötig die Spannung, indem Du von Gegenständen redest - Annika wird diese aber im ersten Augenblick erkennen und als Ringe klassifizieren, nicht als Gegenstände.
Sie fuhr herab und sah, dass es zwei goldene Ringe waren.
Womit fährt sie denn? Und wieso ist der Weg vom Tisch zum Boden so weit, dass sie dafür ein Gefährt braucht? Wortwahl!!!
So, ich hoffe, dass Du mit meiner ausführlichen Kritik etwas anfangen kannst. Ich habe sie nicht geschrieben, um Dich zu ärgern, sondern, um Dir die Schwachpunkte Deiner Geschichte aufzuzeigen, damit Du an ihnen arbeiten kannst. Von der Idee her ist die Geschichte durchaus ausbaufähig, nur leider hast Du in der Durchführung manchmal heftig danebengegriffen. Du solltest den Text noch mal gründlich überarbeiten.
Liebe Grüße
chaosqueen