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Ein Cent

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11.04.2005
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Ein Cent

Da glänzte es in der Sonne. Holger Bodden blieb stehen und wollte es gerade aufheben, als ihm durch den Kopf schoss, es besser nicht zu tun. Wer weiß, wie lange es schon da lag. Würde er etwas vom schmutzigen Gehweg aufheben, das gerade mal einen Cent wert ist? Wohl kaum. Da waren sicherlich schon einige Leute drüber gelaufen. Vielleicht hat auch ein Hund drauf gepinkelt. Oder jemand ist in Hundekot getreten und dann mit seiner Sohle genau auf die Münze.
Widerlich.
Er wollte die Münze liegen lassen und ging langsam weiter. Er blickte zurück und sah sie wieder aufblitzen.
So dreckig kann die doch gar nicht sein, so wie die glänzt.
Ihm kam die Idee, das Geldstück sicherheitshalber mit einem Taschentuch aufzuheben. Holger rechnete nach. Ein Päckchen Tempo kostet 50 Cent, das sind also fünf Cent pro Taschentuch. Er müsste es noch weitere viermal verwenden, um wenigstens keinen Verlust zu machen – vorausgesetzt er findet nur Ein-Cent-Münzen. Aber wenn tatsächlich Dreck an dem Centstück haftet, niemals würde er sich mit demselben Tuch die Nase putzen. Er könnte es aufheben für weitere Münzfunde. Wie viele findet man etwa im Jahr auf der Straße? Vier oder fünf Stück? Er würde das Taschentuch also ein Jahr lang mit sich herumschleppen. Und wenn er eine Pechsträhne hat und es nur ein oder zwei Münzen sind? Drei Jahre? Und wenn er sich nicht mehr richtig erinnert und das Tuch versehentlich nach dem vierten Fund wegwirft?
Zu kompliziert. Es muss einfacher gehen.
Wenn er es bei irgendjemandem schnorren könnte, ginge er gleich heute mit dem kleinen Gewinn nach Hause. Er sah sich um. Eine Frau mit Hund kam des Wegs.
„Entschuldigung, hätten Sie ein Taschentuch für mich?“
Die Frau blieb kurz stehen. Holger bemühte sich um einen besonders freundlichen Tonfall.
„Wissen Sie, ich habe meine leider zu Hause vergessen, obwohl ich sonst immer welche dabei habe.“ Die Frau musterte ihn kurz und ging dann mit einem knappen „Nein, tut mir leid“ eilig weiter. Holger war verärgert über die Abfuhr. Sie hätte doch wenigstens mal nachsehen können.
Was denkt die wohl von mir?
Er rief ihr hinterher: „Einen Köter haben, der auf Geld scheißt und dann kein Taschentuch dabei! Typisch!“
Die Frau reagierte nicht und ließ sich von ihrem Hund auf die angrenzende Grünanlage ziehen. Holger beruhigte sich wieder. Er bückte sich und sah sich die Münze so genau an, wie es ihm möglich war.
Eigentlich kein Dreck zu sehen.
Zumindest keine leicht erkennbaren Schmutzpartikel. Der spiegelnde Glanz der Sonne war verschwunden und es begann kräftig zu regnen. Ein Gewitter war aufgezogen, und Holger hatte keinen Regenschirm bei sich. Etwa fünfzig Meter entfernt war seine Wohnungstür. Er wollte schon nach Hause laufen und rasch einen Schirm holen. In höchstens zwei Minuten wäre er zurück. Da sah er Passanten auf sich zukommen. Wohl ein Pärchen. Wenn sie die Münze finden, während er gerade den Schirm holte? Ihre Blicke waren wegen des Regens ausgerechnet nach unten gerichtet, genau auf den Boden. Sie würden sein Geld natürlich sofort sehen und mitnehmen. Holger war jetzt klatschnass, beschloss jedoch, zu bleiben. Das Pärchen kam näher. Er stellte sich über die Münze und verbarg sie zwischen seinen Schuhen. Als die beiden nur noch wenige Meter entfernt waren, wusste er, wie er sich den Besitz sichern konnte.
„Nein, was liegt denn da“, rief Holger, wandte sich strahlend dem Pärchen zu, deutete auf den Gehweg und klatschte wie von überraschender Freude überwältigt in die Hände. „Ein Cent! Na, wenn das kein Glück bringt!“
Das Pärchen blieb stehen und lächelte etwas verlegen. Holger wusste, jetzt müsste er das Geld aufheben. Er bückte sich sehr langsam. Die beiden standen noch immer neben ihm und lächelten.
Saublöd!
Noch langsamer streckte er die Hand nach dem Cent aus.
Verdammt, nun geht doch endlich weiter!
Kurz bevor er den Cent berühren sollte, täuschte Holger ein lautes Niesen vor und erhob sich wieder. "Hätten Sie mal ein Taschentuch für mich?"
"Hast du?"
"Leider nicht. Trotzdem, viel Glück noch!" Das Pärchen ging weiter. Holger war erleichtert.
Gut gemacht, mein Lieber! Und der Regen ist auch gut! Wäscht den Dreck weg!
Er zupfte ein Stöckchen von einem Strauch und wendete damit den Cent, damit auch die andere Seite vom Regen abgespült wurde. Nach einer Weile war sich Holger sicher, dass die Münze schön sauber war.
Man muss es ja nicht übertreiben.
Er hob den Cent auf und wollte gerade nach Hause gehen, als er ein lautes Schmatzen hörte. Es kam von seiner rechten Schuhsohle, unter der eine braune Masse hervor quoll.

 

Hallo nictita!

Diese Geschichte gefällt mir ungemein. Es gibt zwar nix zu lachen und lustig ist sie im eigentlichen Sinne auch nicht, aber irgendwie ... *hüstl* putzig.
Sehr schön ist der Protagonist charakterisiert.

Der Schlussatz ist vielleicht einen Tick zu undeutlich formuliert (ich vermute mal, dass die Figur in einen Haufen Scheiße tritt), als dass es als letzte, unerwartete Pointe richtig ziehen kann.

Hat mir sehr gut gefallen!


LG
flash

 

Wenn sie die Münze finden, während er gerade den Schirm holt?
holte

Hi nictita,

ich fang gleich mit dem Ende an: Der Schlusssatz ist top und sollte auf keinen Fall verändert werden. MMn ;)
Die Szene mit dem Pärchen ist dir auch gut gelungen.
Das waren eigentlich so die zwei witzigsten Szenen, der Rest ist auch durchgehend auf einem Lustigkeitsniveau, nur eben nicht so witzig wie die zwei Sellen und außerdem :bla:

Gerne gelesen.

Tserk

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo und vielen Dank für Eure aufbauenden Worte. Ich bin ja nicht gerade der Schenkelklopfer-Spezialist. Mal sehen, ob ich den Schluss ändere, im Moment stehts ja 2:1 dafür. (Nachtrag: jetzt ist er minimal geändert)

Besten Gruß, nic

P.S. (Seeehr kleinlaut) Ich lasse Ein-Cent-Münzen übrigens immer liegen. Ab 10 hebe ich sie (vielleicht) auf. Je nachdem wo's liegt... :hmm:

 

Hallo nictita,

da hast du wirklich eine nette Geschichte zusammengebracht, witzige Idee.
Ich muss mich jedoch auch in die "letzte-Satz-Diskussion" einmischen.

Für mich hinkt dieses Ende gewaltig, da Holger ja dauernd um dieses Centstück rumschwänzelt und doch sicher einen so großen Hundehaufen bemerkt hätte, der direkt nebendran rumliegt. Ich dachte auch erst gar nicht an einen Hundehaufen, sondern an eine große Pfütze (da es ja sehr stark geregnet hat).
Also: Unbedingt Ende ändern :D

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo Bernadette und vielen Dank für Deine Kritik.

Für mich hinkt dieses Ende gewaltig, da Holger ja dauernd um dieses Centstück rumschwänzelt und doch sicher einen so großen Hundehaufen bemerkt hätte, der direkt nebendran rumliegt.

Das Häufchen lag eigentlich noch nicht da, als Holger das Centstück entdeckte. Da kam ja erst die Frau mit dem Hund. Und Holger war offensichtlich so konzentriert auf sein Münzlein, dass er das "Ablegen" gar nicht gemerkt hat.
Weil aber tserk der einzige war, der gleich drauf gekommen ist (wen wundert's, er ist seines Zeichens schließlich Pointenveteran) habe ich es geändert, damit wirklich niemand auf den Holzweg gerät.

Beste Grüße,
nic

 

Hi nic
*lool*
genau meine Schiene, dieses Geschichtlein. Die Gedankengänge des Prots hast du sauber rausgearbeitet. Irrsinnig genug, um witzig zu sein und nciht zu sehr übertrieben, um albern zu wirken.
Und das es sich die ganze Zeit um einen lausigen Cent dreht, ist natürlich der clou. Nun ja, "wer den Heller nicht ehrt, ist des Talers nicht wert"
Manchmal erwische ich mich bei ähnlichen Gedankengängen. Wenn auch vielleicht nicht in diesem Kaliber. Hoffentlich nimmt das im Alter nicht zu :schiel:

grüßlichst
weltenläufer

 

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