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Ein Deckel für jeden Topf
"Mädchen, für jeden Topf gibt es einen Deckel", hat meine Großmutter immer gesagt. Vielleicht würde sie ihre Meinung ändern, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Wenn sie noch erlebt hätte, was aus mir geworden ist. Aber es ist besser, dass sie das nicht getan hat. Sie wäre nur ein weiterer Mensch gewesen, der mit Entsetzen und Abscheu auf mich reagiert hätte, vielleicht auch mit Mitleid. Aber dieses Mitleid wäre schnell erstickt worden von der Bestürzung darüber, wie sich ihre einst geliebte Enkelin verändert hatte; ihr Liebling, der nun eine Person war, die sie unmöglich weiter lieben könnte. Kein Mensch könnte das.
Fast keiner, ich vergesse es immer wieder. Aber das ist auch kein Wunder. Es scheint mir eine Ewigkeit her, dass ich mich in diese fensterlose Kellerwohnung verkrochen habe. Seitdem sehnte ich mich nach der Welt, zu der ich auch einmal gehört hatte, zu einer Welt voller Freude, voller Helligkeit und Lebendigkeit, voller Jugend und Frische. Aber in diese Welt passe ich nicht mehr. Ich bin unfassbar alt, und manchmal meine ich zu fühlen, wie mein verbrauchter Körper rund um meine Seele zerfällt. Ich kann mich den Menschen nicht zumuten. Ich ekle mich ja selbst vor mir, vor meinen widerlichen Ausdünstungen und meiner vertrockneten Haut, von der sich tote Schuppen lösen und sich nicht mehr erneuern.
Aber das würde die Leute vermutlich am wenigsten stören. Sie hätten wohl vor allem Angst vor mir. Daran denke ich kaum, weil es mir selbst so absurd erscheint, so falsch. Zugegeben, ich hätte die Möglichkeit, ihnen Schreckliches zuzufügen, aber ich könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Wenn auch nur im übertragenen Sinn. Hin und wieder lässt es sich nicht vermeiden, dass ich meine – Bedürfnisse mit Hilfe von Tieren befriedige. Natürlich quält mich mein Gewissen deswegen, aber ich tue nichts Schlimmeres, als die Leute, die das Fleisch zu Tode geschundener Kreaturen essen. Ich sorge wenigstens gut für meine Tiere und ich tue alles, um sie nicht zu quälen. Ich wünschte, die Leute könnten meine guten, meine edlen Seiten erkennen, aber leider sind diese von den dunklen Aspekten meines Ichs umschlossen wie von Festungsmauern. Ich spende alles Geld, das mir mein karger Lebensstil übrig lässt, den Armen. Ich engagiere mich für die Unterdrückten und Diskriminierten, so weit meine Handicaps das zulassen. Beinahe hätte ich mich zu der Aussage verstiegen, ich sei ein guter Mensch; doch das stimmt so nicht, das bin ich längst nicht mehr.
Endlose Jahre verzehrte ich mich nach Verständnis, nach Zuneigung, nach jemandem, mit dem ich mich wieder lebendig fühlen konnte. Wie erbärmlich war meine Existenz, mein Dahinvegetieren, das ich nicht mehr Leben nennen konnte. Wie furchtbar war es, jedes Mal allein in mein Bett zu kriechen und dort nur lähmende Kälte vorzufinden.
Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich musste unter Menschen. Ich schlüpfte in einen Mantel aus Make-up und übergoss mich mit Parfüm, um mein wahres Ich darunter zu verbergen. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten ging ich aus, nervös und zurückhaltend. Anfangs beschränkte ich mich darauf, die Menschen zu beobachten und versuchte, ein wenig an ihrem Leben mitzunaschen. Erst in der vierten Nacht wagte ich, mit jemandem zu sprechen. Es war eine Enttäuschung. Offenbar konnte jeder meine Abnormität wahrnehmen, trotz meiner Verkleidung, auch wenn niemand zu ahnen schien, womit er es wirklich zu tun hatte. Ich begann erneut zu verzweifeln.
Eines Nachts aber lernte ich jemanden kennen, und so wie die Leute mich zu durchschauen schienen, merkte ich sofort, dass auch er etwas Besonderes war und dass auch er sich dessen schämte. Wir unterhielten uns über Belangloses, über unsere Unsicherheit im Umgang mit anderen, darüber, dass ich zu Hause Telearbeit machte und er in einem Krankenhaus beschäftigt war. In den folgenden Nächten trafen wir einander wieder und allmählich begann so etwas wie Glück in mein elendes Dasein zu schlüpfen.
Unsere schüchternen Gespräche woben ein Spinnennetz aus Vertrautheit zwischen uns und schließlich erkannten wir, dass es Zeit war, unsere kleinen – oder nicht ganz so kleinen – Geheimnisse zu offenbaren. Er meinte, ich könnte sein Geheimnis wohl kaum überbieten. Was für ein Irrtum. Zuerst glaubte er mir natürlich nicht und hielt es für einen Scherz. Als ich es ihm dann bewies, schien er zu einer Eisskulptur zu gefrieren. Aber ich erkannte gleich, dass diese Reaktion nur aus seiner Überraschung entsprang, nicht aus Abscheu und kaum aus Furcht. In diesem Moment erkannten wir, wie gut wir einander ergänzen könnten.
Nun lebt er schon seit vier Wochen bei mir. Er ist zu mir gezogen, da nur meine Kellerwohnung meinen Bedürfnissen wirklich entspricht. Ich fühle mich wie gerade aus einem Ei geschlüpft. Er ist so fürsorglich zu mir. Er erledigt alle Besorgungen für mich, die mir früher eine Qual waren, weil ich tagsüber nicht aus dem Haus konnte. Er macht mir die Haare zurecht, weil ich mein Gesicht einfach nicht im Spiegel betrachten kann. Und – als hätten die Götter es extra für mich so eingerichtet – er neigt auch noch zu Nasenbluten. Ich muss ihn nicht im Mindesten verletzen, um sein Blut trinken zu können.
Aber das Beste ist, ich kann einfach sein, wie ich wirklich bin, und gefalle ihm damit. Ohne Make-up sehe ich mausetot aus, so wie er es am liebsten hat. Wenn wir miteinander ins Bett gehen, möchte ich gerne meine Arme um ihn schlingen, aber ich weiß, dass er es vorzieht, wenn ich einfach nur stumm daliege. Dann bin ich selbst für einen Arzt von einer echten Leiche nicht mehr zu unterscheiden.
Es ist wunderbar, wieder begehrt zu werden. Es macht mich glücklich zu sehen, dass nur mein untoter, verrottender Körper die Leidenschaft in ihm weckt, dass nur ich ihm die Befriedigung geben kann, die er im banalen warmen Fleisch lebender Frauen vergeblich gesucht hat.
Wenn Oma nur wüsste, wie Recht sie hatte.