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Ein Ersatz für Mr. Bunny

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01.06.2005
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Ein Ersatz für Mr. Bunny

Schon vor dem Umzug nach Florida war Mr. Bunny zugegebenermaßen etwas mitgenommen. Sein kurzes, braunes Fell war nicht mehr flauschig, sondern stand räudig von seinem Körper ab. Die kleinen Kunststoffkügelchen, mit denen dieser Körper gefüllt war, quollen bei jeder heftigen Bewegung aus den morschen Nähten. Nicht, dass Mr. Bunny sich heftig bewegte, zumindest nicht von selbst. Irgendwann hatte Mr. Bunny auch Augen besessen, zwei putzige, glänzend-braune Augen aus Plastik. Das letzte war ihm wohl auf dem New Yorker Flughafen abhanden gekommen, damals, als sie mit vier Koffern ihre Füße das erste Mal auf die nicht mehr so neue Welt gesetzt hatten. Zwei Männer, eine Frau, ein kleines Mädchen - und Mr. Bunny.
Und jetzt, zwei Jahre später, würde sich Andreas Bernau um einen Ersatz für Mr. Bunny bemühen müssen.

Im Spätsommer hatte es eines Abends an der Tür geklingelt. Andreas, alle nannten ihn Andy, war zuhause, denn in der Firma gab es nichts mehr zu tun, und das Wetter war erträglich, ein eher seltener Umstand in Florida. Kat saß vor dem Haus auf der alten Schaukel, die schon an dem runzligen Baum gehangen hatte, als sie in diese herrliche, wenn auch etwas abgeblätterte Südstaatenvilla gezogen waren.
"Papa, es ist die Polizei", hörte er Kat durch das Fenster rufen, noch ehe er die Tür erreicht hatte. Auf der Veranda standen zwei Männer, einer in Uniform, ein zweiter, wesentlich älterer in einem beigefarbenen Hemd mit dunkelbrauner Krawatte. Die Ärmel hatte er aufgerollt, und auf dem hellen Stoff zeichneten sich dunkle Kreise wie ein verunglücktes Batikmuster unter seinen Achseln ab.
"Mr. Bernau?", fragte er und hielt Andy etwas entgegen, das dieser für eine Polizeimarke hielt. Andy bejahte.
"Mein Name ist Inspektor Wessel, und das hier ist Sergeant Rhine. Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen, wie man so sagt."
Andy sah den Beamten an und kniff etwas beunruhigt die Augen zusammen, überrascht war er jedoch nicht. "Geht es um Ted?"
Der Beamte nickte. "Es wäre wohl besser, wenn Sie uns hinein bäten", stellte er fest.
Andy trat beiseite und führte sie ins Wohnzimmer. Inzwischen war auch Lydia aus der Küche gekommen, sie wischte sich die Hände an einer bunten Schürze ab und gab den Polizisten die Hand. Als auch Kat hereinhüpfte, schickte Lydia sie gleich wieder mit einem knappen "Kat, bitte spiel draußen!" heraus.
"Ich hab' nur Mr. Bunny vergessen!", verkündete Kat und schnappte den Stoffhasen vom Sofa. Dann lief die Vierjährige zurück in den Garten.
Wessel setzte sich auf den Platz, den Mr. Bunny bis eben eingenommen hatte, Rhine blieb am Fenster stehen und sah lächelnd dem kleinen Mädchen hinterher.
"Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung, es geht um Ihren Bruder Theodore", begann Wessel. Andy fiel auf, dass er 'Theodore' sagte, obwohl sein Bruder 'Theodor' hieß. Die meisten Leute hier konnten sich das nicht merken. "Wir haben heute morgen seine Leiche gefunden. Er ist offenbar in den Everglades ertrunken."
"Das ist unmöglich", entfuhr es Andy. Er riss die Augen auf. "Ted würde nie in die Everglades gehen. Er hasst die Sümpfe."
Wessel wandte leicht verlegen den Kopf zur Seite und betrachtete den Couchtisch. "Nun", meinte er, "ich sagte auch nicht, dass er freiwillig dort war. Anscheinend wurde sein Kopf unter Wasser gedrückt. Vielleicht hat sein Mörder darauf spekuliert, dass die Alligatoren ihn beseitigen würden, aber offen gesagt, besondere Mühe, den - äh - Körper zu verbergen, hat er sich nicht gemacht."
Abgesehen vom seltsamen Fundort traf Teds Tod Andy nicht unbedingt unerwartet. Lydia und er waren damals recht schnell überein gekommen, Ted mit nach Florida zu nehmen. Andys und Teds Eltern waren kurz vor dem Umzug gestorben, und allen war klar, dass Ted alleine in 'Old Europe' nicht zurecht kommen würde. Nicht, dass er dumm oder unfähig wäre, er hatte nur die Eigenheit, Ärger auf sich zu ziehen wie eine Fernsehbildröhre Staub anzieht. Immer wieder fand er sich in dummen Situationen, aus denen er ohne Hilfe nicht mehr heraus kam. Meist hatte es mit todsicheren Geschäftsideen zu tun. Einmal hatte ihn das sogar fast ins Gefängnis gebracht. Seine Beinahe-Vorstrafe hatte ein kleines Problem bei der Einreisebehörde dargestellt, aber die Firma hatte Andy unbedingt in Florida haben wollen, und sie schien beträchtlichen Einfluss zu haben. Jetzt war Ted also wieder in so ein Geschäft verwickelt gewesen. Und diesmal schien die Sache wirklich 'todsicher' gewesen zu sein.
"Das ist eine furchtbare Nachricht", sagte Lydia nun. Ihre Stimme klang traurig. Sie senkte den Blick und strich sich ihre kurzen, blonden Haare hinters Ohr. Sie hatte Ted nie besonders gemocht, aber ihn auf diese Weise los zu sein ... "Haben Sie einen Hinweis darauf, wer das getan haben könnte?"
"Das wollte ich Sie fragen", brummte Wessel. "War Ted in irgendwelche Geschäfte verwickelt, hatte er Feinde?"
"Welche Art von Geschäften?", fragte Andy zurück.
"Drogen. Die meisten Todesfälle hier hängen mit Drogen zusammen."
Andy sah kurz zu Boden, dann blickte er Wessel in die Augen. "Wissen Sie", erklärte er eindringlich, "für gewöhnlich hat Andy uns erst ins Vertrauen gezogen, wenn es wieder einmal zu spät war."
"Dazu hatte er hier wohl keine Gelegenheit mehr - oh, verzeihen Sie meinen etwas trockenen Humor", entschuldigte er sich sofort, als er es in Lydias Gesicht kaum merklich zucken sah. Er stand auf und zog seine Hosenbeine gerade. "Für den Fall, dass Ihnen etwas einfällt, lasse ich Ihnen meine Karte hier." Er platzierte eine schlichte, weiße Visitenkarte auf dem Couchtisch.
Es ist bizarr, dachte Andy, alles läuft wie in einem Fernsehkrimi ab.
"Und noch etwas", sagte Wessel, als er schon im Hinausgehen begriffen war. "Der Leichnam ist noch nicht freigegeben, die Spurensicherung arbeitet noch. Sie sollten allerdings recht bald zur Identifizierung vorbeikommen."
Andy verabschiedete die Polizisten und drückte die Tür hinter ihnen zu. Er atmete hörbar einmal ein und lange aus, drehte den Kopf zu Lydia. Ted war tot! Sie sahen sich an und kamen still überein: Auch ein vorhersehbares Unglück bleibt ein Unglück.

Lydia und Andy einigten sich, dass er sich um die Formalitäten kümmern sollte. Es war Verschiedenes zu erledigen - Ämter besuchen, um Ted abzumelden, die Beerdigung organisieren, und so weiter. Er nahm sich seinen Resturlaub, um all diese Dinge möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Als er zum Beerdigungsunternehmer fuhr, um den Sarg auszusuchen, nahm er Kat mit.
"Kat, wollen wir auf dem Rückweg im Mall ein Eis essen?", fragte er als er sie im Kindersitz anschnallte. Urlaub ist immerhin Urlaub, egal, was der Anlass ist, dachte er. Kat kann ja nichts dafür.
"Oh ja! Kommt Onkel Ted auch mit?"
Andy schüttelte den Kopf. "Nein", sagte er ernst, "Onkel Ted ist gestorben. Weißt du, was das bedeutet?"
"Ja", nickte Kat eifrig, "jetzt wohnt er im Himmel und kann fliegen!"
"So ähnlich", seufzte Andy und strich ihr über den Kopf.

Das Beerdigungsinstitut war in einem Wohnhaus im Randbezirk der Stadt untergebracht. Hier standen weiß getünchte Holzvillen auf großzügigen Grundstücken. 'Wielder, Wielder & Jones' lautete das Schild, das im Garten auf die Bestatter hinwies. Er hielt neben dem Gartentor und ging, Kat auf dem Arm, hinein. Die Tür war unverschlossen, und sie betraten eine abgedunkelte, kühle Vorhalle, vollständig getäfelt mit dunklem Holz. Niemand schien dort zu sein.
"Hallo, Entschuldigung!" rief Andy.
Er zuckte zusammen, als plötzlich eine rauhe Stimme aus einer Ecke sprach: "Warten Sie, mein Sohn kommt sicher gleich." Halb im Dunkeln verborgen sah er eine alte, schwarze Frau in einem Schaukelstuhl sitzen. Sie war so dünn, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass sie auch nur ein Gramm Fett am Körper haben könnte. Um den Kopf hatte sie ein schreiend gelbes Tuch gebunden, und türkisfarbene Plastikohrringe, in Größe und Form Meisenkringeln nicht unähnlich, baumelten an ihren ledrigen Ohren.
"Das ist eine Hexe, Papa!", flüsterte Kat ihm ins Ohr.
"Bestimmt nicht", flüsterte er zurück. Dann warteten sie. Unbehagliche Stille breitete sich aus.
"Sie haben jemanden verloren", unterbrach die Alte das Schweigen.
"Äh, ja", antwortete Andy. Nervös fuhr er sich mit der Hand übers Kinn. Natürlich, dachte er, was sollte ich sonst hier wollen.
"Aber er hat etwas vergessen", stellte die Hexe nun fest, ganz selbstverständlich, als sprächen sie über einen gemeinsamen Bekannten.
Ein ungläubiges Lächeln stahl sich auf Andys Gesicht. "Wie können sie das wissen?"
"Sie glauben mir nicht", sagte die Alte mit völlig unbewegtem Gesicht. Sie schien grundsätzlich nur in Feststellungen zu sprechen. "Sie sprechen zu mir."
"Ich?", versicherte sich Andy.
"Nein, SIE", sagte die alte Frau. Bei dem 'SIE' deutete sie mit dem Kopf zur Seite, in keine bestimmte Richtung, so, als ständen dort, in einer anderen dunklen Ecke noch andere. "Manchmal bleiben sie noch eine Weile."
"Aha", machte Andy in selbstgefälligem Ton. Er war sich nun sicher, dass die Alte nicht alles Geschirr im Schrank hatte. Es war ihm unangenehm, vor Kat über solche Dinge zu sprechen. Die Sorge, wie er dieses unerfreuliche Gespräch beenden sollte, wurde ihm abgenommen, als sich ein schwerer Samtvorhang teilte, und ein beleibter Schwarzer mit einem Haarkranz aus dunklen Locken durch die Öffnung trat.
"Guten Tag, mein Name ist Jones", stellte dieser sich vor. "Ich hoffe, meine Mutter hat sie nicht belästigt?"
"Gar nicht", log Andy, Erleichterung in der Stimme. "Bernau, wir hatten telefoniert."
Als sie an der Frau vorbei ins Büro gingen, um die Details zu besprechen, lachte die Alte leise vor sich hin. Es klang als würde jemand trockenes Brot zerreiben.

Er entschied sich für einen schlichten Sarg aus Sperrholz - Ted sollte begraben werden, wie er gelebt hatte. Anschließend fuhren sie ins Mall, und Kat bekam ihr Eis.

Eine Stunde später verließen sie das Einkaufscenter wieder, und Kat rannte voraus, auf das geparkte Auto zu. Sie stieß einem Mann im hellen Anzug gegen die Beine, der neben dem Auto wartete. Trotz seiner eleganten, teuer aussehenden Kleidung trug er sein Hemd bis zur Brust offen, darunter konnte man eine protzige, goldene Kette erkennen. "Vorsicht, junge Dame!", lachte der Mann, und nahm Kat mit beiden Armen hoch, ehe Andy reagieren konnte.
"Kat, belästige den Mann nicht!", rief er und eilte hinzu.
"Sie belästigt mich doch nicht", sagte der Mann und lächelte Kat auf seinem Arm gönnerhaft an. Goldüberzogene Zähne blitzten in seinem Mund, Andy hätte ihn vielleicht für einen Mexikaner oder Puertorikaner gehalten, aber er sprach völlig akzentfreies Englisch. Jetzt warf er die Kleine wie einen gewichtslosen Karton voller Federn in die Luft und fing sie wieder auf. Kat quietschte vergnügt.
Andys Herz begann zu rasen. "Würden Sie meine Tochter bitte loslassen?"
"Na na", machte der Mann ohne Andy anzusehen. "Ein hübsches Kind haben Sie. Ich habe auch schöne Dinge, allerdings ..." Wieder warf er Kat in die Luft. "Allerdings vermisse ich etwas. Sicher wusste Ihr Bruder, wo es ist."
Andys Herz schien sich zu überschlagen und seine Arme wurden taub. Sein Blickfeld verengte sich, als Wut und Hilflosigkeit wie eine Flut aus Motoröl über ihm zusammenschlugen. "Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen", brachte er hervor. Er sprach undeutlich, weil er seine Zähne zusammenpressen musste, um sie am Klappern zu hindern.
Der Gangster - denn das schien er zu sein - setzte Kat ab, die fröhlich zu ihrem Vater zurück lief und sich an seine Beine schmiegte.
"Finden Sie es heraus", sagte er zu Andy, sich bereits abwendend. Dann schlenderte er über die Straße und stieg in einen dunklen Kombi, der anscheinend auf ihn gewartet hatte.
Andy starrte dem abfahrenden Auto nach, während er versuchte seinen Körper wieder in den Griff zu bekommen.
"Papa, ist dir kalt?" fragte Kat.

"Andy, da war vorhin ein seltsamer Anruf ..." Mit diesen Worten empfing ihn Lydia, als sie nach Hause kamen.
"Du hättest ihnen nicht sagen dürfen, wo wir sind!", schnauzte er ungehalten.
Sie blinzelte verwirrt. "Was ist denn? Wieso ..."
"Schon gut, tut mir leid." Immer noch etwas geschwächt ließ er sich in einen Sessel fallen. Kat verzog sich mit Mr. Bunny in die Küche, wo sie ihn mit Keksen fütterte, die sie natürlich selbst aß.
Mit wenigen Worten erklärte Andy Lydia die Situation.
"Was kann es sein, das er will? Drogen, wie Wessel meinte?", fragte sie.
Andy zuckte die Schultern. "Vermutlich. Was soll es sonst sein. Vielleicht auch Geld aus einem Deal."
"Sollen wir Wessel anrufen?"
Andy wehrte mit einer schnellen Handbewegung ab. "Keinesfalls. Ich habe solche Angst, dass Kat etwas passieren könnte. Er hat mich ja nicht direkt bedroht, es war nur ..." Er fröstelte, trotz der tropischen Temperatur im Raum. "Es war die Art, wie er mit ihr spielte. Wie mit einer Puppe! Es wäre mir lieber, wir fänden, was er will, damit wir ihn los sind."

Ted hatte ein Zimmer im Obergeschoss bewohnt. Die Villa war geräumig, eigentlich viel zu geräumig für die vier Personen, und hätte die Firma nicht die Miete bezahlt, hätten sie sich sicher längst etwas kleineres gesucht. Ted hatte auf seinem Stockwerk nicht nur sein Schlafzimmer zur Verfügung gehabt, auch eine eigene winzige Küche, ein Bad und ein - wenn auch kleines - Wohnzimmer gehörten dazu.
Sie begannen systematisch im Schlafzimmer mit der Suche. Kat kam herauf und beteiligte sich begeistert. Sie hielt Mr. Bunny in jeden Winkel und erteilte ihm Anweisung, ja gut nachzusehen. Vermutlich nahm sie an, sie suchten einen Schlüssel, was durchaus öfter vorkam.
Nach dem Schlafzimmer nahmen sie sich das Wohnzimmer vor, als auch dort nichts zu finden war, die Küche. Ted hatte nicht viele Möbel in seinen Zimmern, es gab eigentlich kaum Möglichkeiten, etwas zu verstecken. Besonders achtete Andy auf lose Bodendielen oder lockere Wandbretter, doch es war einfach nichts zu entdecken.
"Such du noch im Badezimmer, ich nehme mir den Keller vor", entschied er schließlich. Bis zum Einbruch der Dunkelheit untersuchte er jeden Winkel des Kellers, während Kat und Lydia das Erdgeschoss abgrasten. Auch dies ohne Ergebnis.
Kat wurde die Suche langweilig. Sie ging ins Wohnzimmer und kuschelte sich mit Mr. Bunny auf das Sofa. Dann kämmte sie den Stoffhasen mit einer Bürste, die sie aus Teds Zimmer mitgenommen hatte.
"Wenn wir bloß wüssten, was es eigentlich ist!", jammerte Lydia als Andy die Treppe wieder heraufkam. Ihr Gesicht und ihre Arme waren mit Staub bedeckt, aus Nischen, die schon jahrelang keinen Besen mehr gesehen hatten.
Kat hing inzwischen müde an Lydias Seite. "Mr. Bunny will schlafen", verkündete sie. Lydia und Andy brachten sie ins Bett. Dann durchsuchten sie den Dachboden, der außer alten, nicht mehr benutzten Möbeln nur Unmengen von Staub und Spinnweben enthielt.
"Es kann nicht im Haus sein", resümierte Lydia endlich. Sie wischte sich mit dem Arm über die Stirn, eine graue Schliere zurücklassend. "Oh, verdammt! Was sollen wir jetzt machen?"
"Ich weiß auch nicht. Wir müssen es finden." Andy gähnte. "Vielleicht sollten wir erstmal schlafen."
Sie waren beide müde, doch an Schlaf war kaum zu denken.

Schließlich musste Andy wohl doch eingenickt sein. Zumindest träumte er und das ziemlich unruhig. Während er sich im Bett hin und her warf, hörte er immer wieder Teds Stimme. Ted rief ihm etwas zu, aber er konnte nicht verstehen, was es war. Undeutlich sah er ihn, unscharf, wie mit einer kaputten Autofokus-Kamera fotografiert. Er gestikulierte und zeigte auf etwas außerhalb Andys Blickfeld, aber Andy konnte den Kopf nicht bewegen, um zu sehen, was er meinte. Dann rollten riesige Meisenringe auf Ted zu und drückten ihn unter Wasser, bis er sich nicht mehr bewegte.

Schweißgebadet erwachte Andy am nächsten Morgen. Lydia und Kat schliefen noch, seine Frau hatte Kat wohl in der Nacht in ihr Ehebett geholt, aus einer Befürchtung heraus, die er nur zu gut verstand. Andy stand auf und machte sich behelfsmäßig im Bad frisch. Das Handtuch noch in der Hand ging er nach unten und suchte die Nummer des Beerdigungsinstituts heraus. Es läutete zweimal, dann hörte er eine krächzende Stimme: "Jones!"
"Mrs. Jones, hier ist Andy Bernau. Ich wollte Sie sprechen."
"Ich weiß", stellte die Alte fest.
"Mrs. Jones, ich weiß das klingt jetzt vielleicht seltsam", druckste er herum, "aber mir ging nicht aus dem Kopf, was sie gestern sagten."
"Sie wollen Ihren Bruder sprechen."
"Gewissermaßen, ja", gab er zögerlich Antwort.
"Da gibt's kein 'Gewissermaßen', junger Mann! Sie wollen ihn etwas fragen, ich kann's arrangieren."
"Nun, wie ... ich meine was soll ich ..."
"Ist er schon eingeäschert?" unterbrach sie ihn.
"Nein", sagte Andy und holte überrascht Luft. "Was hat das damit zu tun?"
"Eine Menge." Wieder eine Feststellung, dann sprach sie eindringlicher: "Bringen sie etwas mit, das ihm gehörte, am besten etwas, das er stets bei sich trug, einen Ring oder eine Kette. Und bringen sie etwas von seinem Körper mit, Speichel, Haare, Nägel, einen Finger, egal. Wickeln sie es zusammen in ein Stück Stoff oder die Zeitung von gestern! Und dann kommen sie heute Mittag her!"
"Gut, ich werde da sein."
"Und bringen Sie fünfzig Dollar mit", sagte sie und legte auf.

Eine Stunde später verließ Andy das Haus mit einem fest zusammengerollten Paket aus Zeitungspapier, das Teds Mobiltelefon und ein Büschel hellbrauner Haare enthielt. Die Haare waren das Schwierigste gewesen, er hatte erst in Teds Badezimmer nach Fußnägeln oder etwas Ähnlichem gesucht. Das beste was er gefunden hatte, waren ein paar Bartstoppeln in einem Wegwerfrasierer gewesen. Aber dann hatte er durch Zufall in der Küche Teds Bürste gefunden. Weiß der Teufel, wie sie dort hingekommen war.
Den Vormittag verbrachte er im Einwohnermeldeamt, wo er diverse Formulare abholen musste, die dann ausgefüllt und von der Polizei bestätigt werden mussten. Mehrmals sah Andy nervös auf die Uhr. Die Sonne kletterte langsam der Tagesmitte entgegen, und der bis dahin klarblaue Himmel wies mit einem Mal einige Wölkchen auf.
Als er das Beerdigungsinstitut erreichte, wartete Mrs. Jones bereits mit verschränkten Armen auf der Veranda. Er begrüßte sie und wollte hineingehen, aber sie hielt ihn ohne ein Wort am Arm fest und bedeutete ihm, mitzukommen. Sie umrundeten das Haus und überquerten eine Rasenfläche, die so trocken war, dass sie wie Cornflakes unter ihren Füßen knirschte. In einer Ecke des Grundstücks stand eine kleine, dunkelbraun gestrichene Hütte, wie man sie sonst zur Lagerung von Gartengeräten verwendete. Die Tür stand bereits offen.
"Kommen Sie herein!", forderte Mrs. Jones ihn jetzt auf, das erste, was sie zu ihm sagte.
Die Hütte war fast leer, einzig in der Mitte des mit Sägemehl bestreuten Bodens stand ein kleiner Messingkessel auf einem Campingkocher. Mrs. Jones kniete sich hinter diese Feuerstelle, fast erwartete Andy ihre Knie laut knacken zu hören, doch sie schien beweglicher zu sein, als er ihr zugetraut hatte. Aus ihrer Schürze fischte sie ein silbernes Zippo-Feuerzeug mit dem sie den Kocher in Gang brachte. Zischend begannen die hämatom-blauen Flammen den Kessel zu umspielen.
"Nun setzen Sie sich schon! Her mit dem Bündel!", kommandierte die Alte.
Andy ließ sich auf die Knie nieder, seine Gelenke knackten tatsächlich. Er reichte ihr die zusammengerollte Zeitung.
"Das Geld auch!"
Mit zufriedener Miene nahm sie auch den Schein entgegen.
"Sie werden mit Ihrem Bruder sprechen", sagte Mrs. Jones nun. Sie klappte das Feuerzeug auf und goss das darin enthaltene Benzin über das Zeitungsbündel. Dann warf sie es in den kleinen Kessel. Schneller als Andy etwas dazu sagen konnte, hatte sie eine winzige Weihnachtsbaumkerze am Brenner entzündet und ebenfalls in den Kessel geworfen.
Andy fiel etwas ein. "Moment mal, ich glaube, das ist keine so gute ..." Weiter kam er nicht, denn ein trockener Knall zertrümmerte die Stille, und eine Säule aus brennenden Zeitungsfetzen fuhr aus dem Kessel in die Höhe. Der Kessel sprang wie von unheimlichen Leben erfüllt vom Brenner und stieß klappernd gegen die Wand der Hütte.
"Idiot", zischte die Alte, "was war in dem Paket?"
"Sein Mobiltelefon", gab Andy kleinlaut zu. "Sie hatten nicht erwähnt, dass Sie es verbrennen wollten."
Mrs. Jones wischte sich Ascheflocken von der Schürze. "Egal", stellte sie fest, "es wird auch so gehen." Sie erhob sich.
"Moment!" Andy streckte in einer verblüfften Geste die Hand aus. "Sollte ich nicht mit meinem Bruder sprechen?" Er hatte eine Geisterscheinung oder eine Art Seance erwartet.
"Ja", sagte die alte Frau trocken, "gehen sie zu ihm und sprechen sie."
"Zu ihm?", wiederholte Andy verwirrt.
"Ist er etwa doch schon eingeäschert?"
Da verstand Andy, und Grauen rollte wie tiefgefrorene Shrimps seinen Rücken hinauf.

Die Sonne ging bereits unter als er die Leichenhalle erreichte. Es war ein niedriges Betongebäude direkt hinter der Polizeistation und sah von außen eher wie eine Turnhalle aus, wäre da nicht der schlanke Schornstein des Krematoriums gewesen. Er stellte die Zündung ab und blieb noch kurz im Wagen sitzen. Irre Bilder von Teds totem Körper, wie er schlurfend durch die Gänge der Halle wankte, tobten durch seinen Kopf. Das war einfach lächerlich! So etwas konnte es nicht geben!
Er raffte sich auf und stieg aus dem Wagen. Jetzt wo die Sonne langsam verschwand wurde es merklich kühler. In der Vorhalle des Gebäudes saß ein Mann in einem hellgrauen Kittel an einem kleinen Schreibtisch, ein Klemmbrett und eine offene Coladose vor sich. Zurückgelehnt las er in einem zerknickten Taschenbuch. Als Andy hereinkam, setzte er sich auf und legte das Buch zur Seite.
"Bernau, ich möchte meinen Bruder identifizieren", sagte Andy.
Der Mann nickte und strich etwas auf dem Klemmbrett ab. Dann erhob er sich und sagte freundlich gelangweilt: "Kommen Sie bitte mit!"
Das Klemmbrett unter dem Arm schloss der Angestellte eine Tür auf, die in den Innenraum führte. Sie betraten einen gekühlten Raum, dessen gegenüberliegende Wände ganz aus numerierten Schubfächern bestanden. Schubfächern in der Breite menschlicher Schultern. Ihr Atem kondesierte in kleinen, flüchtigen Dampfwölkchen vor den Gesichtern. Andy wurde zunehmend unruhiger, ständig sah er sich um, ob er irgendwelche ungewöhnlichen Spuren entdecken könnte. Der Angestellte ging zielstrebig auf ein Fach zu und zog es auf. Andy Atem stockte, sein Herz setzte aus: Das Fach war leer.
"Mist", sagte der Kittelmann. Er sah auf seine Liste und brummte: "Falsche Nummer."
Mit einem Stoß seines Ellenbogens ließ er das leere Fach wieder zufallen. Er wandte sich um und öffnete stattdessen eines an der gegenüberliegenden Wand. Eine menschliche Gestalt kam zum Vorschein, abgedeckt durch ein beiges, schweres Tuch. Vorsichtig trat Andy näher. Der Angestellte nahm das Tuch an den Ecken auf und legte den Kopf des Verstorbenen frei.
Andy sah herab und sein Blick wurde weicher. Da lag Ted, sein Bruder. Die Augen geschlossen. Die Haut von einem transparenten Weiß, als wäre er aus jenem Kunststoff gegossen, den man sonst für Küchenbrettchen verwendet. Die Lippen waren bläulich verfärbt, wie mit Lidschatten auf das bleiche Gesicht geschminkt. Aber unverkennbar Ted. Unverkennbar tot.

Als Andy zu Hause ankam schien ein Unwetter aufzuziehen. Es war inzwischen empfindlich kühl, zumindest im Gegensatz zur vorher herrschenden spätsommerlichen Hitze.
"Hallo, Darling, die Kleine ist schon im Bett", begrüßte ihn Lydia. Sie küsste ihn auf die Wange, dann hielt sie inne und klaubte eine Ascheflocke aus seinem Haar. "Was ist das? Und wo warst Du so lange?" Sie gab sich gelassen, aber er konnte Sorge in ihren Augen lesen.
"Ich habe Ted identifiziert. Außerdem habe ich mich um fünfzig Dollar betrügen lassen." Sie setzten sich ins Wohnzimmer. Mit wenigen Worten erklärte er ihr die Ereignisse des Tages. Er erwartete Vorwürfe, oder dass sie ihn auslachte, aber Lydia sagte zunächst nichts und sah ihn ernst an.
Dann meinte sie: "Ich hätte das gleiche getan. Wir klammern uns an jede Möglichkeit." Sie strich ihm übers Haar und zog ihn an sich.

Sie saßen noch lange im Wohnzimmer und diskutierten im Kreis, wie das ominöse Ding, das Ted gestohlen hatte gefunden werden könnte. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Lydia entzündete den Kamin, weil die Kälte anfing, ins Haus zu dringen. Schließlich prasselten die Holzscheite und sie saßen nur noch schweigend da, aneinander gelehnt.
Ein leises Tapsen kleiner Füße auf den Dielen. "Mama, Papa, ich kann nicht schlafen."
Lydia drehte sich um. "Was ist denn los, Kat?"
Kat rieb sich müde die Augen. "Mr. Bunny konnte auch nicht schlafen, da ist er wieder aufgestanden."
"Komm, wir bringen dich und Mr. Bunny wieder ins Bett", beruhigte Lydia ihre Tochter. "Wo ist er denn?"
Kat ging in Richtung Treppe. "Er ist noch oben."
Gemeinsam gingen alle drei ins Obergeschoss. Andy schaltete das Licht nicht ein, um Kat nicht noch mehr aufzuwecken. Als sie im Flur ankamen, hörten sie ein leises, aber deutlich vernehmbares Geräusch. Ein langsames, rhythmisches Stapfen, als würde jemand kleine, mit Mais gefüllte Säcke zu Boden fallen lassen, untermalt von einem gelegentlichen Rieseln. Andy hielt Kat und Lydia zurück und trat in den Flur. Am Ende des Ganges, wo der Regen gegen das Fenster klatschte, bewegte sich etwas dicht über dem Boden. Etwas Dunkles, Kleines.
Entsetzen fiel wie ein Netz aus Eis über Andy.
Lass es nur eine Ratte sein, dachte er, während er nach dem Lichtschalter tastete. Die aufflammende Beleuchtung blendete sie für einen Moment, Kat versteckte sich hinter Lydia, und Andy kniff die Augen zusammen.
Was er sah zog das dünne, kalte Netz eng um sein Herz zusammen. Unterhalb des Fensters lief Mr. Bunny wie ein betrunkener Clown umher. Seine Füße schienen ihm nicht richtig zu gehorchen, sie gaben immer wieder nach, er fiel dann hin und kleine Kunststoffkügelchen rieselten aus seinen morschen Nähten. Wieder schleppte er sich einige Schritte vorwärts, prallte erneut gegen die Wand und wechselte die Richtung.
"Er ist blind", flüsterte Lydia mit vor Grauen knarrender Stimme. "Natürlich. Er hat ja keine Augen mehr."
"Mama, ist Mr. Bunny krank?", fragte Kat.
"Kann sein, Schatz." Lydia drückte Kat an sich, um sie von dem Anblick abzulenken. "Tu etwas!", raunte sie Andy zu.
Zögernd ging der nun auf Mr. Bunny zu.
Es muss Ted sein, dachte er, aber wie ist das möglich?
Er ging vor dem torkelnden Hasen in die Knie und fasste ihn mit der rechten Hand. Bei der Berührung zuckte er zusammen, als würde er etwas Ekelhaftes greifen.
Das ist absurd, schoss es ihm durch den Kopf, ich habe Mr. Bunny tausend mal getragen. Aber da hat er sich auch nicht bewegt.
Der Stoffhase zappelte in seinem Griff. "Ganz ruhig, Ted", versuchte er ihn zu beruhigen. "Lasst uns nach unten gehen", zu Lydia gewandt.
Sie gingen wieder in den Wohnraum. Mr. Bunny wand sich weiterhin, aber er schien nicht besonders stark zu sein. Seine Kugelfüllung knirschte bei jeder Drehung wie eine Frischhaltetüte voller Käfer.
Lydia schaltete den Fernseher ein. "Schau ein paar Cartoons, Kat", sagte sie, "während wir Mr. Bunny untersuchen."
Gehorsam setzte sich Kat auf den Teppich vor das Gerät und erstarrte unter der blau-weißen Beleuchtung. Zeichentrickfiguren tobten über den Bildschirm, und für einen Moment fragte sich Andy, was der kindlichen Seele wohl größeren Schaden zufügen würde: das Fernsehen oder der Anblick eines untoten Plüschhasen.
"Ich habe eine Idee", erklärte Lydia flüsternd. "Leg ihn auf den Tisch und halt ihn fest!"
Sie holte ihren Nähkasten aus der Anrichte, stellte ihn neben dem Tisch auf den Boden und entnahm Nähgarn, einige Knöpfe und eine kurze Nadel. Während Andy den Kopf des Stofftiers festhielt, nähte sie geschickt zwei kleine schwarze Knöpfe an den Stellen an, wo vormals die Augen gesessen hatten. Als sie die Nadel das erste Mal einstach zuckten Mr. Bunnys Füße kurz, dann hielt er still.
Schließlich war sie fertig. Andy ließ den Hasen los, angespannt traten sie zurück. Der Hasenzombie setzte sich auf und sah sich um. Es schien zu funktionieren.
"Das ist absoluter Wahnsinn", murmelte Andy. "Wie ist Ted überhaupt da hinein gekommen?"
"Darüber habe ich auch nachgedacht", sagte Lydia. Sie schien sich an die Situation zu gewöhnen, erschien jetzt ruhiger. "Wo hattest du Teds Haare her?"
Andy überlegte kurz. "Aus seiner Bürste. Sie lag hier auf dem Sofa."
Lydia nickte. "Das hatte ich vermutet. Kat hat damit gestern gespielt. Vermutlich hat sie Mr. Bunny gekämmt. Es waren seine Haare."
Andy stöhnte. Er wusste nicht, ob er lachen oder vor Entsetzen mit den Zähnen klappern sollte.
Derweil hatte Mr. Bunny - Ted - sich zum Rand des Tisches vorgearbeitet. Er deutete mit einer unförmigen Pfote zu Boden, offenbar wollte er herunter gesetzt werden. Andy trat vor und setzte ihn auf die Dielen. Sofort setzte sich der Stoffhase in Bewegung, so plump wie zuvor, aber diesmal zielgerichtet auf die Haustür zu. Immer wieder gaben seine mit Watte ausgestopften Füße nach und er fiel hin. Mit den Pfoten hielt er sich den zu großen Kopf, der wieder und wieder zur Seite kippte, doch er hielt nun wenigstens die Richtung.
Das muss entsetzlich sein, dachte Andy. Gefangen in einem Körper aus Watte und Polyester zu erwachen, den eigenen Körper kaum unter Kontrolle, stumm, zunächst sogar blind! Tränen schossen ihm in die Augen.
"Kat, Schatz, wir sind gleich wieder da", sagte Lydia. Dann folgten sie Mr. Bunny in den Garten.

Der Regen fiel nach wie vor wie aus Feuerwehrschläuchen vom Himmel. Nur schwer konnten sie den braunen Hasen ausmachen, wie er sich mühsam durch die Pfützen schleppte.
"Er geht zur Schaukel", erkannte Andy. Er lief an Mr. Bunny vorbei auf den Baum zu. Dann drehte er sich um. Der Hase hatte die Richtung nicht geändert, also war es richtig. Lydia nahm ihn hoch und setzte ihn unter der Schaukel ab. Andy hatte hier beim Einzug eine Grube ausgehoben und mit feinem Sand gefüllt, damit Kat sich nicht verletzen konnte. Sofort begann Mr. Bunny mit seinen kleinen Pfoten zu scharren. Andy und Lydia knieten sich hin und halfen ihm. Nach kurzer Zeit waren sie völlig durchnässt, aber sie förderten ein mit grauem Klebeband fest umwickeltes Paket von der Größe eines Schuhkartons zutage.
"Das muss es sein", keuchte Andy. "Ich will gar nicht wissen, was darin ist."
Er hob es an, es war nicht sehr schwer, und sie standen auf.
"Wo ist Mr. Bunny?", fragte Lydia.

Der Anblick, der sich ihnen bot als sie das Haus wieder betraten, ließ sie geschockt innehalten. Mr. Bunny hatte dem Nähkasten eine Nadel von der Länge seines eigenen Körpers entwunden, diese mit beiden Pfoten ungeschickt haltend stand er hinter Kat, die nach wie vor auf dem Boden vor dem Fernseher saß, ohne ihren Hasen zu bemerken.
"Ted, nein!", rief Andy.
Kat drehte sich zu ihm um, noch immer sah sie Mr. Bunny nicht. In diesem Moment holte dieser mit der Nadel aus und rammte sie sich in den Bauch. Eine weitere Naht platzte und kleine Kugeln rieselten heraus. Sonst geschah nichts. Der Hase hob den Kopf und sah Andy an. Ein Stoffgesicht ist fast unbeweglich und kann keine Emotionen zeigen, doch in diesem Moment schien es Andy, als blicke ihm Mr. Bunny - Ted - bittend und verzweifelt in die Augen. Die blanken, schwarzen Knöpfe spiegelten den Widerschein des Kaminfeuers.
"Lydia, bring Kat nach oben!"
"Komm, Schatz, ich glaube, Mr. Bunny muss für eine Weile ins Krankenhaus." Lydia nahm Kat bei der Hand.
"Gute Nacht, Papa, gute Nacht, Mr. Bunny!" Kat beugte sich zu Mr. Bunny herab, der die Nadel fallen ließ. "Er ist ganz schmutzig, du solltest ihn baden", sagte sie noch zu Andy gewandt. Dann ließ sie sich von ihrer Mutter in ihr Zimmer tragen.
Andy nahm Mr. Bunny in die Hand und hielt ihn sich vor das Gesicht. "Ted", sagte er, "ich danke dir und ich verzeihe dir deine Verantwortungslosigkeit." Eine Träne lief ihm nun über die Wange, sein Gesicht verzog sich vor Kummer. "Leb wohl."
Dann warf er Ted mit einer schnellen Bewegung in den Kamin.
Weil Mr. Bunny ein gutes Kinderspielzeug war, war er schwer entflammbar. Es dauerte eine Weile, bis er schwarz qualmend verbrannte, und Andy sah still weinend zu.

Eine Woche später hatte der Gangster das Paket abgeholt - offenbar war er zufrieden, denn Andy hörte nie wieder von ihm. Schließlich begann er fieberhaft sämtliche Kataloge, Spielwarengeschäfte und Internetseiten zu durchsuchen. Ein Ersatz für Mr. Bunny musste gefunden werden.

 

Hi Naut

Sein kurzes, braunes Fell war nicht mehr flauschig, sondern stand räudig von seinem Körper ab, diesem Körper, der mit kleinen Kunststoffkügelchen gefüllt war, die bei jeder heftigen Bewegung aus den morschen Nähten quollen.
Ich würde diesen Satz in zwei teilen, so klänge er besser und sticht nicht zu sehr aus dem sonstigen Stil hervor. Die Bezeichnung “morsche Nähte” empfinde ich rein persönlich als unpassend, wobei es andere Leser sicher nicht stört *g*
Sein kurzes, braunes Fell war nicht mehr flauschig, sondern stand räudig von seinem Körper ab. Einem Körper, der mit kleinen Kunststoffkügelchen gefüllt war, die bei jeder heftigen BEwegung aus den morschen Nähten quollen.

Zwei Männer, eine Frau und ein kleines Mädchen - und Mr. Bunny.
Würde das “und” vor “ein kleines Mädchen” streichen, da es vom Klang her mehr hergibt.

"Mr. Bernau?" fragte er und hielt Andy schon etwas entgegen, was dieser für eine Polizeimarke hielt.
Das “schon” kann man streichen.

Abgesehen vom seltsamen Fundort - Teds Tod traf Andy nicht unbedingt unerwartet.
Würde den Satz etwas umstellen.
Teds Tod traf Andy nicht unbedingt unerwartet - abgesehen vom seltsamen Fundort.

Nicht, dass er dumm wäre oder so etwas, er hatte nur die Eigenheit, Ärger auf sich zu ziehen wie eine Fernsehbildröhre Staub anzieht.
Den Satzteil “oder so etwas” kann man streichen.

Eine Stunde später verließ Andy das Haus mit einem fest zusammengerollten Paket aus Zeitung,
Eine Stunde später verließ Andy das Haus mit einem fest zusammengerollten Paket aus Zeitungspapier,

Der Angestellte nahm das Tuch am Kopfende und zog es herab.
Andy sah herab und sein Blick wurde weicher.
Zweimal “herab” würde eines von beiden durch ein anderes Wort ersetzen.

Das waren nur die Stellen die mir während des Lesens aufgefallen sind. Vom Stil her gibt es nichts zu bemängeln, wobei du manchmal aus dem üblichen Stil ausgebrochen bist und Sätze in unpassender Überlänge geschrieben hast. Dies hielt sich aber in Grenzen und man konnte den Inhalt gut verfolgen.

Ich muss sagen, dass ich bereits von Anfang vermutete dass sich der Inhalt so entwickeln würde, was aber vor allem daran liegt dass ich alle “Chucky”-Filme kenne :) Ich hätte dir auch bis zum Ende geraten diese Kurzgeschichte in die Rubrik Spannung/Krimi zu verschieben, da sie eigentlich bis auf Mr. Bunny nicht sonderlich viel mit Horror/Grusel zu schaffen hat. Da ich leider schon von Anfang an wusste wie die Kurzgeschichte zu Ende gehen würde, war die Spannung die durch die Suche nach dem Paket des Gangsters erzeugt wurde, das was mich an diese Kurzgeschichte fesselte. Leider wurde nicht aufgelöst was sich im Paket befunden hatte, was eigentlich recht enttäuschend war. Was mir noch negativ aufgefallen ist, war die Beschreibung als die Familie zum ersten Mal Ted als Mr. Bunny trafen. Irgendwie kamen mir die Eltern zu gefasst vor und vor allem haben sie zu plötzlich die ganzen Bezüge zur Wiederbelebung von Ted geschaffen. Die Kurzgeschichte ist zwar jetzt schon recht lang ;) aber du solltest sie etwas ungläubiger erscheinen lassen.

Aber alles in allem war es eine nette Kurzgeschichte die ich gerne gelesen habe, obwohl ich am Ende etwas enttäuscht wurde.

 

Hallo Charybdis,

ist das jetzt die Rache für die Mottenflügel? ;) Nein, im Ernst, erstmal vielen, vielen Dank, dass Du Dir dieses Monstrum überhaupt durchgelesen hast. Die Einordnung unter Grusel - na ja, ich weiß einfach nicht, was es ist. Da ich so gut wie keine Horrorsachen lese, dachte ich zuerst an Fantasy, aber das trifft es ja auch nicht, für "Seltsam" ist es nicht seltsam genug, usw. Daher der Kompromiss.

Der Plot ist alt, auch wenn mir die Parallele zu "Chucky" erst am Schluss auffiel (ja, die Filme kenn sogar ich). Du kennst das vielleicht: Man weiß, dass die Idee oll ist, aber irgendwie MUSS man die Geschichte schreiben.

Die Folgerung, dass Ted Mr. Bunny ist fand ich ziemlich offensichtlich, schließlich hat Andy in letzter Zeit ja nicht so unübersichtlich viele Seancen veranstaltet, und das Ted nicht in seinem Körper ist, hatte er ja selbst gesehen. Ich hatte mir (und dem Leser) daher eine umständliche Diskussion erspart, aber mal sehen, was andere meinen, vielleicht bin ich da noch zu nahe dran.

Ganz großen Dank für die stilistischen Stolpersteine, die Du herausgesucht hast. Manches davon ist einfach Manierismus, ich muss mir das abgewöhnen :)

Grüße & Dank,

Naut

 

Hy Naut

Da will ich dich mal nicht länger auf den ultimativen Kommentar warten lassen ;-] hehe
Hab mir die Story noch gestern Nacht durchgelesen. Hatte also inzwischen Zeit, das alles in Ruhe zu überblicken...

Die Idee ist tatsächlich alt und das Ende leider von vornherein klar. Wär' klasse gewesen, wenn du mich zum Schluss noch mal so richtig reingelegt hättest. Aber naja... Es kann nicht immer klappen.

Horror ist diese Story nur, wenn man im Laufe seiner Kindheit eine Phobie vor Plüschies entwickelt hat. Mich ließ es ziemlich kalt, dass dieser Kerl im Bunny wiedersauferstanden ist, denn dazu hätte mich Ted interessieren müssen. Aber für mich ist er bloß so ein Looser, der gekillt wurde.

Dein Stil. Daran gibt's eigentlich nichts zu meckern, aber irgendwie.. hat mir was gefehlt. Vielleicht Atmosphäre. Deine Geschichte treibt immer bloß an der Oberfläche rum. Weiß im Moment auch nicht, wie man das ändern kann, aber ich werd' mir noch mal Gedanken machen... *grübel*

Vorschlag:
Du willst ja darstellen, dass es für Ted schlimm sein muss, in diesem Teddykörper festzusitzen. Fies wäre es, wenn er trotzdem Schmerzen empfinden könnte.
(er hat zwar keine Nerven - aber bei laufenden Stofftieren darf man mit solcher Logik schon mal gar nicht kommen
;-])

Wenn der Teddy dann im Feuer verbrennt - schlecht entflammbar - langsam - zuckend und sich windend (...), in dem Fall hätte das Ende einen deutlich besseren Effekt. Und der Andreas hätte einen wirklichen Grund, zu heulen.
Is natürlich nur ein Vorschlag, aber so käme es doch bei mir deutlich besser an *fg*

Gruß, Reddayk :smokin:

 

Hi Red,

auch Dir herzlichen Dank, dass Du die Geschichte gelesen hast. Also, ich hake das Teil jetzt einfach mal als Fingerübung ab (dazu war's nämlich gut geeignet). Ich weiß ziemlich genau, wie ich die Geschichte verbessern könnte, aber weil das auf ein völliges Neuschreiben hinausläuft, verschiebe ich das mal getrost auf nächstes Jahr :D Jetzt wollen erstmal andere Sachen geschrieben werden ...

 

Hallo Naut!

Auch und gerade bei einer Fingerübung lässt es sich lernen. Deshalb solltest du die Story vielleicht doch noch nicht weglegen! :D

Mir hat sie nämlich gefallen, und ich weiß auch warum und ich weiß auch, was mir nicht gefallen hat und ich weiß, wie man es verbessern könnte.

Füllwörter:

zugegebenermaßen
etwas
sondern
wieder
unbedingt

das sind schon mal einige, die mir nur auf der ersten Seite aufgefallen sind.
Ich sage nicht, dass du alle killen sollst, aber wenn du diese Story überarbeitest, solltest du einen Augenmerk darauf richten. Der Lesefluss würde gestrafft werden und wirklich nützlich sind die verdammten Dinger in den seltensten Fällen. (zum Vergleich: ...und nützlich sind die verdammten Dinger in den seltensten Fällen.)

Gut, was haben wir?
Wir haben eine Story über normale amer. Leute. Zumindest normale Leute, wie wir sie uns vorstellen. Du beschreibst - abgesehen von dem Todesfall und die dadurch folgenden Formalitäten - auf den ersten Seiten nichts als das normale Leben, versuchst Atmosphäre aufzubauen. Recht so, ich find's gut, wenn der Horror auf leisen Sohlen kommt, Kollege King lässt grüßen.
Was aber unterscheidet dieser Text von denen eines King? Ich habe mich hier nämlich auf den ersten Seiten ein wenig verloren gefühlt, um nicht zu sagen gelangweilt. Ich hätte mir gewünscht, wenn du die Aufbauphase genutzt hättest, die Charaktere etwas interessanter zu gestalten, die Beschreibungen etwas plastischer, Kleinigkeiten, Details und so weiter. Das hätte dem Stück sicher die geforderte Tiefe gegeben und du hättest dir eine Basis geschaffen für die weiteren Geschehnisse.
Manchmal kam es mir vor, als imitierst du einen Stil, vielleicht den von King? Gerade der Anfang mit den beiden Polizisten kam mir vor wie abgeguckt. :crying:

Nächste:
Ich fand die Erklärungen zu Teds Umstände extrem störend. Eigentlich finde ich alle beschreibenden Erklärungen störend. Vielleicht wäre es besser gewesen, diese Erklärungen, die ja sein mussten, in einen Dialog zwischen Andy und Wessel einzuarbeiten? Hätte man dann auch sehr gut nutzen können zur Charakterisierung des Andy. Dialoge sind ja sehr gut dazu geeignet.

Die nächsten Szenen waren okay, wobei mir nun wieder die gut gefallen hat, in der Mr. Bunny zum Leben erwacht. Hatte für mich etwas surreales. Ich muss sagen, ich hatte auch keine Ahnung, wo es hinlaufen sollte. Für mich war der Verlauf schon überraschend.

Was mir aufgefallen ist, sind die manchmal sehr originellen, allerdings nicht immer passenden Vergleiche, die du anstellst.

hämatom-blaue Flammen

Entsetzen fiel wie ein Netz aus Eis über Andy

und noch einige andere. Da brichst du aus dem Stil aus und der Leser hat zu tun, wieder reinzufinden ins Geschehen. Metaphern, Vergleiche, Bilder machen den Text anschaulich und müssen sein. Sie müssen allerdings auch nachvollziehbar sein.

Gut, es gäbe sicher noch einige Korinthen zu kacken, aber das war es was für mich wichtig war.
Mir hat gefallen, dass du zumindest versucht hast eine Atmospäre aufzubauen. Im Übrigen sah ich Mr. Bunny direkt vor mir, wie er ungeschickt versucht, über den Boden zu laufen. Der Schluss war nicht so dolle, aber kaum eine Möglichkeit, anders rauszukommen.

Dann also, bis zum nächsten Mal und

Viele Grüße von hier!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball,

danke auch Dir fürs ausführliche Lesen.

Ich denke, mit "Erklärung von Teds Umständen" meinst Du die Gedanken über den Umzug und so. Da hast Du recht, ich sollte das noch mehr umschreiben (sei froh, dass Du nicht die erste Version gesehen hast, nicht wahr gbwolf *g*).
Füllwörter schlage ich auch noch aus, elendes Unterholz.

Zu den komischen Similes & Metaphern: Das ist natürlich Absicht, ich wollte mal bewusst von dem ewigen "kornblumenblauen" und "das Blut gefror in seinen Adern" wegkommen. Das funktioniert natürlich nicht immer. Hilfreich wäre, wenn Du mir die nennen würdest, die Dich stören, ich denke nämlich, dass z.B. der Cornflakesvergleich als sie über den Rasen laufen gut ist.

Und zum Ende: Ich habe mir schon eine etwas komplexere Story überlegt, aber die lässt sich nicht so leicht einbauen, das wäre dann wirklich ein komplettes Neuschreiben. Daher erstmal verschoben.

Danke für Deine Mühe,

Naut

EDIT: Hätte ich doch fast einen Deiner Hauptpunkte vergessen: Nein, ich imitiere nicht bewusst Mr. King. Das könnte ich auch gar nicht, weil ich von ihm nur die ersten drei Seiten von "Pet Cemetary" gelesen habe, und das ist auch schon 20 Jahre her. :) Möglicherweise imitiere ich unbewusst seine Vorbilder und/oder Nachahmer. Da kann ich aber dann nix dafür :Pfeif:

 

Danke Lukas, da weiß ich ja kaum, was ich sagen soll *erröt*. Ich hoffe, Du wirst von meinen sonstigen hier geposteten, eher fragmentarischen Geschichten nicht enttäuscht, Mr. Bunny ist bisher mein längstes Werk (wobei ich selbst nicht weiß, warum gerade diese eher einfache Idee sich so aufgepustet hat).

 

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