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Ein fast gefährliches Gummibärchen
Ein fast gefährliches Gummibärchen
Das kleine, pummelige Gummibärchen lehnte sich gegen Opa Zinos Wandspiegel und arbeitete an seiner Mimik. Böse wollte es gucken, grimmig und ein wenig finster, aber auf keinen Fall wollte es weiter aussehen, wie ein harmlos liebenswertes Wesen aus Gelatine. Schließlich war es ein Bär. Zwar ein Gummibär, aber immerhin ein Bär, und so wollte es sich auch von nun an verhalten.
Opa Zino hatte gestern Abend auf dem Sofa gesessen und mit einer Tüte Gummibären neben sich liegend in einem Tierlexikon geblättert. Bei den Braunbären hatte er angehalten und leise murmelnd daraus vorgelesen.
Das kleine Gummibärchen hatte durch den dicken Plastikbeutel nicht viel verstehen können, aber es hatte das beeindruckende Foto des riesigen Bären betrachtet, und als es seine kleinen Ohren ganz fest gegen das Plastik gedrückt hatte, hatte es Worte wie gefährlich, stark und wild verstanden. So sahen also echte Bären aus. Das Gummibärchen hatte gestaunt und sofort beschlossen, seinen faszinierenden Artgenossen nachzueifern. Keinen Augenblick länger wollte es mit einer Bande ewig grinsender Gummibären zusammen in einer Tüte hocken. So waren wirkliche Bären eben nicht.
Geschickt hatte es sich ein Loch in den Beutel gebissen, war heraus gekrochen und seitdem damit beschäftigt gewesen, ein gefährlicher und echter Bär zu werden.
Nachdem es genügend grausige Grimassen vor Opa Zinos Spiegel geübt hatte, machte es sich auf den Weg in die weite Welt. Das kleine Gummibärchen schnappte sich eine schwarze Lakritzschnecke und ritt auf ihr in den großen Garten hinaus. Langsam bewegten sich beide über die ungemähte Wiese und sogen die nach Wildnis und Abenteuer riechende Luft in sich auf. Gefährlich guckend kämpfte sich das reitende Gummibärchen durch das hohe Gras, als es plötzlich ein Rascheln hörte. Es hielt an und horchte. Im nächsten Augenblick sprang eine, für das Gummibärchen, riesig aussehende Maus aus dem Gestrüpp und stellte sich schnüffelnd vor das Bärchen und seiner Schnecke.
Der kleine Bär hielt den Atem an und zitterte. Dann schrie er laut und ängstlich und galoppierte in Windeseile zurück ins Haus, wo er sich schnaubend hinter der Gardine versteckte.
Niedergeschlagen holte er Luft. Solche eine Mühe hatte er sich gegeben, gefährlich zu sein, aber es hatte nicht funktioniert. Das Gummibärchen verkroch sich mit seiner Schnecke hinter dem alten Sofa und weinte. Vielleicht war es nicht mutig und gefährlich genug, um ein richtiger Bär zu sein.
Aber als Opa Zino sich wenig später wieder die Decke und sein Tierbuch schnappte, war alles gar nicht mehr so schlimm.
Der alte Mann las nämlich wieder von den Braunbären vor. Diesmal jedoch erfuhr das Gummibärchen ganz andere Dinge. Bären waren zwar stark und gefährlich, meist aber auch sehr faul. Einige schliefen den ganzen Winter über und fast alle aßen gerne Honig und Früchte. Da konnte das Gummibärchen schon wieder grinsen. Es war zwar nicht gefährlich, aber faul war es ganz sicher und Honig liebte es auch. Und so gesellte es sich wieder zu den anderen grinsenden Gummibären und war stolz, dass doch ein klein bisschen echter Bär in ihm steckte.