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Ein Fragment
Sie schaut aus dem Fenster. Die Bäume beginnen auszuschlagen, es wurde auch Zeit, der Frühling ist bald vorbei.
Von ihrem Zimmerfenster aus kann sie an den paar Bäumen, die vor dem Haus stehen, und dem Zaun davor vorbei auf die Straße gucken, es ist eine Schnellstraße. Dahinter liegt ein weites, jetzt brach liegendes Feld.
Im Haus ist es ruhig, sie hört nur aus der Ferne ein Radio dudeln. 'Wie schön wäre es, jetzt woanders zu sein,' denkt sie und wendet sich vom Fenster ab.
'Dann könnte ich tun und lassen, was ich will. Diese bescheuerten Regeln. Immer und immer wieder derselbe Tagesablauf, ich habe es satt. So satt.' Rücklings wirft sie sich auf ihr Bett. Es ist schmal und hart. Die Bettwäsche ist nicht mehr neu, die hat schon bessere Tage gesehen.
Sie sieht sich in ihrem Zimmer um. Die Wände sind kahl, an einigen Stellen bröckelt der Putz, das Zimmer klein und viereckig. Sie hat nur einen kleinen Tisch gegenüber vom Fenster, auf dem ein paar Blätter und ein Stift liegen, davor steht ein alter Holzstuhl. Neben der Tür, die jetzt verschlossen ist, ein winziger Kleiderschrank, indem sie ihre wenige Kleidung in einem unordentlichen Haufen aufbewahrt und dem gegenüber das Bett.
Sie fasst unter sich um sicherzugehen, dass ihre Mappe noch da ist, die sie so ordentlich zwischen Lattenrost und Bettgestell geklemmt hat.
Darin bewahrt sie ihre Erinnerungen auf, die sie damals bei sich hatte. Ihre Erinnerung soll sie bei einem Unfall verloren haben, zumindest behaupten das die Leute hier. Außer einigen wenigen Papierfetzen und einem Foto hat sie nichts, keine eigene Erinnerung daran, wer sie ist und woher sie kommt, sie kennt nicht einmal ihren Namen. Die Leute hier nennen sie nur 'das Mädchen'. Immer, wenn sie das Bild betrachtet, fragt sie sich, wer die beiden Personen auf dem Bild sind. Es sieht aus wie ein Schnappschuss bei einem Picknick. Etwas verschwommen, aber zwei Gesichter kann sie gut erkennen. Das einer Frau und eines Mannes, beide lächeln direkt in die Kamera. Aber sie weiß nicht einmal, ob sie diese Leute kennt oder kennen sollte oder sie das Bild nur zufällig hat.
Die papierfetzen sind nichts ausser ein paar Zeitungsausschnitte mit denen sie nichts anfangen kann, keine Namen oder Orte, die ihr bekannt vorkommen, werden erwähnt.
Plötzlich schrillt der Alarm los. Sie steht auf und stellt sich ans Fenster, um überhaupt irgendwas mitbekommen zu können. Dann kommen ein paar der dunkel und einheitlich gekleideten Männer ums Haus herum nach vorne gelaufen. Sie jagen etwas oder jemanden, aber sie kann nicht erkennen, wen oder was. Sie öffnet langsam das Fenster und presst ihre Stirn an die Gitter, die vor der Fensteröffnung angebracht sind.
Kalte, gerade Eisenstangen. Sie hat sich schon oft überlegt, wie das Haus früher einmal ausgesehen haben könnte. Vielleicht waren die Fenster auch mit Gittern gesichert, damit nicht die Kinder, falls hier jemals welche gelebt haben, herausfallen konnten. In ihrer Fantasie sind die Gitterstäbe dünn und zerbrechlich, mit Schnörkeln und Verzierungen.
Der Alarm ist aus. Unter ihr haben die Männer ihre Jagd beendet, sie kann jetzt erkennen, dass es Johnny war, der Junge, den sie einmal auf dem Flur getroffen hat. Er wird von den Männern zurück ins Haus getragen, sie haben alle Mühe mit ihm, denn er wehrt sich nach Leibeskräften. Hinter ihnen schlägt die schwere Eingangstür zu.
Sie hat sie nur einmal gesehen. Eine riesige, zweiflüglige Eichenholztür mit vielen Schnitzereien und einer Eisenklinke.
Es ist wieder ruhig, wie immer. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie in den Wochen, in denen sie hier ist, noch keinen einzigen Vogel hat singen hören. Vielleicht liegt es daran, dass es erst jetzt warm wird und der Winter endgültig vorbei ist. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Atmosphäre im und ums Haus zu unwirtlich und kalt ist, dass nicht einmal Vögel sich trauen, auf einem der Bäume zu sitzen und zu singen.