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Ein ganz normaler Morgen
Schweißgebadet streife ich mir die Decke vom Körper, während ich versuche den Wecker, der an der Wand am Fußende des Bettes befestigt ist, mit dem rechten Fuß zu erreichen. Der Geruch von Blut steigt mir in die Nase als ich mich langsam aufrichte um das schrillende Geräusch dann doch durch einen heftigen Hieb mit geballter Faust zu unterbrechen. 6:45 Uhr – um eine solche Uhrzeit sollte der Strom abgestellt und eine Ausgangssperre verhängt werden. Dennoch stehe ich jeden Morgen um viertel vor Sieben auf. Langsam krieche ich über das Hochbett, um am Fußende die kleine Holzleiter zu erreichen. Gähnend steige ich eine Stufe nach der Anderen herab. Sie sind so weit auseinander angeschraubt, dass ich mich mit beiden Händen an der Leiter festkrallen muss. Ich reisse die schon fast morsche, fleckig weiss gestrichene Tür auf. Sofort fällt mir das Poster von Louis Royo entgegen, dass auf der Aussenseite lediglich mit Posterstrips befestigt war, um die Vorderseite nicht zu beschädigen. Vorsichtig greife ich das abgefallene Ende und hebe es an, um es wieder anzukleben. Die elfengleiche Gestalt, die mich, bekleidet mit einem zerfetzen Hochzeitskleid, aus dem Wald heraus anzukreischen scheint, war mir wohl bekannt. Der Kontrast zwischen diesem zärtlichen Mädchen mit dem Blumenkranz im Haar und dem Fletschen der Reißzähne ist ein eindeutiger Wiedererkennungswert des doch sehr bekannten Künstlers, weshalb dieses Motiv auch bei sehr vielen Bekannten und Freunden zu finden ist.
Nachdem ich die alten Posterstrips wieder an den Holzrahmen gedrückt habe, begebe ich mich auf den Weg ins Bad. Das Licht dort funktioniert nicht, weshalb meine beiden Mitbewohner eine Stehlampe hinter der Tür aufgestellt hatten, die eine gelbliche Dämmerung in das doch recht kleine Zimmer wirft. Ein leises Knarzen hinter mir lässt mich kurz aufzucken. Ich sehe mich kurz um. Vielleicht habe ich einen der Anderen geweckt? Aber es ist Niemand zu sehen. Nur das Licht in der Küche flackert kurz auf. Auch dort ist die Deckenbeleuchtung defekt. Aus diesem Grund ist eine Schreibtischlampe über dem Spülbecken angebracht, die wir über das Ein- und Ausschrauben der Glühbirne bedienen. „Irgendwann muss ich da mal ein anständiges Licht einbauen,“ denke ich bei mir und schliesse die Tür hinter mir.
Im Bad ist es seltsam ruhig. An den meisten Tagen hört man den Aufzug durch die Wand und die Dusch- und Spülgeräusche der unteren und oberen Wohnungen dringen durch Decke und Fußboden. Gegenüber der Toilette findet man massenweise Szenezeitschriften und Infos über Tontechnik und die neusten Computerspiele. Gesammelte Werke dreier junger Männer. Nur die Erotikzeitschriften und Pornos fehlen, aber die bewahrt man ja aus Rücksicht im eigenen Zimmer, in der untersten Schublade, durch die Socken verdeckt auf. Immer realistischere Spiele, immer feinere Gesichtszüge bei Spielfiguren. Von einer Zeitschrift unter der „PC-Games“ zeigt Manson mit dem Finger auf mich und brüllt mich an. Neues Album, neues Geld. Neues Geld, neue Tattoos, neue Drogen, neue Skandale. Wobei auch ich mich schon dabei ertappe, dass ich meinen Lohn und meine Ausgaben in Piercings umrechne. Dieser Gedankengang erinnert mich zwangsläufig an den Geruch von Blut, den ich beim Aufstehen wahrgenommen hatte. Ich stehe auf, um in den Spiegel blicken zu können, trete bis auf wenige Zentimeter an das Glas und untersuche die glänzenden Stellen in dem Gesicht das sich mir darin zeigt. Tatsächlich finde ich Blutflecken an der linken Augenbraue und von der Nase zur Oberlippe. Nasenbluten hab ich zur Zeit öfter. Mir kam schon der Gedanke deswegen zum Arzt zu gehen, aber im Moment kann ich mir das aus beruflichen Gründen nicht erlauben. Das Piercing ist wahrscheinlich wieder hängengeblieben. „Gott sei Dank ist das Bridge in Ordnung,“ schiesst mir durch den Kopf als ich mir zwischen die Augen sehe, wo beidseitig aus dem Nasenbein kleine silberne Kugeln austreten. Auch die drei Labrets sind unversehrt und die Schwellung der Lippe scheint zurückzugehen. Genauer sehe ich mich im Spiegel lieber nicht an, denn was ich auf den ersten Blick sehe lässt mich schaudern. Die Haare sind fettig und in den Augen findet sich kein Weiß. Um die Pupillen zeichnet sich ein eklig roter Film. Das Braun der Iris scheint beinahe ins Schwarz überzugehen. „Du siehst scheisse aus! Genau wie jeden Morgen“, flüstere ich vor mich hin und öffne den mittleren Spiegelschrank.
Zwischen Rasierwasser, Feuchtigkeitscreme und Haargel finde ich eine Sprühflasche Octenisept und Wattestäbchen. Ich greife mir zwei davon und klemme sie mir zwischen die Lippen. Beim Versuch das Desinfektionsmittel herauszunehmen fällt mir die Dose Haarspray aus dem Schrank und veranstaltet einen gewaltigen Lärm. Ich würdige dem Ganzen aber keinen Blick und schliesse die Spiegeltür. Das Spray rollt über die Fliesen neben die Toilette und bleibt an der Wand liegen. Die Stäbchen benetze ich mit dem flüssigen Wunder und fange an sämtliches Metall in meinem Gesicht abzutupfen und versuche die Blutflecken an der Augenbraue abzuwaschen, doch egal wie sehr ich es auch versuche, die Flecken bleiben. Im Spiegel zeichnet sich ein Schatten, der an der Wand hinter mir vorbeihuscht. Erschrocken drehe ich mich um. Der Schatten kommt von dem Duschvorhang, der hin- und her schwingt, als würde Wind durch den Raum wehen. Mein Blick schweift weiter Richtung Tür, die einen ziemlichen großen Spalt geöffnet steht. Hatte ich sie nicht geschlossen? Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch drehe ich mich wieder dem Spiegel zu. Ich greife mir einen schwarzen Haargummi vom Schrank, binde mir einen Zopf und entsorge die Wattestäbchen. Das Desinfektionsmittel stelle ich auf den Waschbeckenrand, während ich mich schon auf die Tür zu bewege. Ich betätige den Schalter der Stehlampe und verlasse den Raum. Die Tür hinter mir bleibt offen stehen. So merkt jeder sofort ob das Zimmer frei ist oder nicht.
Das Licht in der Küche, die zwar über einen Türrahmen, nicht aber über eine Tür verfügt, flackert nicht mehr. Ich gehe kurz hinein, öffne den uralten Kühlschrank, greife mir eine Dose Red Bull und wende mich wieder dem kleinen Flur zu. Die Kühlschranktür höre ich noch zufallen, als ich schon wieder vor dem Bild der süßen Vampirin an meiner halb geöffneten Tür stehe. Ihre hungrigen Augen mustern mich und jagen mir einen Schauer über den Rücken. Ganz kurz habe ich sogar das Gefühl, dass ihr gieriger Blick mich verfolgt. Ich trete ins Zimmer und führe die Dose zum Mund. Durch den Metallring versuche ich die Uhrzeit zu erkennen: 6:66. Erschrocken verschlucke ich mich und stelle die Dose links auf dem Glasschreibtisch, zwischen all den unerledigten Papierkram, um sie während des Hustenanfalls, den ich gerade erleide, nicht zu verschütten. Zum Boden gebeugt lasse ich all dem Unmut der letzten Wochen Luft und halte mir den Bauch vor Schmerzen. Auch mein Kopf macht sich bemerkbar und erinnert mich daran dass ich am Vortag das letzte Aspirin geschluckt hatte. „Diese ständigen Kopfschmerzen bringen mich noch um.“
Als sich mein Körper langsam beruhigt, reibe ich mir die Augen und blicke erneut auf die rot leuchtenden Ziffern des Weckers: 6:57. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend durchwühle ich den Papierberg auf der Suche nach meiner Geldbörse. Ein heilloses Durcheinander. Anträge, Rechnungen, Zeugnisse, Bewerbungen, Kontoauszüge, Mahnungen und alle möglichen Werbeprospekte. Dabei fällt mir ein, dass ich meinen Geldbeutel in der Hosentasche gelassen hatte. Ich gehe einen Schritt zurück und suche den Boden nach der Hose ab. Ich wohne erst seit kurzem in dem kleinen Zimmer und bisher hatte ich nicht die Zeit mich um Möbel zu kümmern. Mein gesamter Hausrat befindet sich auf dem Boden, in Kartons oder wahllos verteilt auf dem Schreibtisch, den ich einem Bekannten abgekauft habe. Zwischen einer leeren Pizzaschachtel und meinem Ledermantel entdecke ich die blaue Jeans, die ich am Vortag getragen hatte. Ich streife mir die Hose über und greife mir an die hintere rechte Hosentasche um sicherzugehen, dass sich meine Börse und somit auch die Schlüssel darin befinden. Dann greife ich in den Wäschekorb unter dem Schreibtisch und wühle ein Shirt heraus. Da ich im Call-Center arbeite, stört es niemanden was ich trage, also ziehe ich das „Disturbed“-Bandshirt an und setze mich auf den blauen Bürostuhl vor den Computer, der nach einem kurzen Tritt gegen den Stromschalter hochfährt. Heute sag ich es ihr.
Der Rechner ist nach wenigen Sekunden betriebsbereit. Ich öffne das E-Mail-Programm. Keine neuen Nachrichten. Während ich einen Schluck aus der Dose nehme öffne ich die Vorlage für eine neue Mail und fülle die Betreffzeile aus: „Ich...“. Ich wechsle in das Textfeld. Seit Monaten traue ich mich nicht, ihr zu sagen was ich fühle. Seit Monaten geht es ihr deswegen schlecht. Ich kann nicht über meine Gefühle reden. Ich konnte das noch nie. Aber heute wird sie erfahren was sie mir bedeutet. Die Finger meiner rechten Hand gleiten über die Tastatur während ich mit der linken den halb vollen Behälter abstelle: „...liebe dich!“. Aus dem Pulldown-Menü beim Empfänger-Feld wähle ich „Lina“ aus und klicke zögernd auf „Senden/Empfangen“. Es dauert einige Sekunden bis die E-Mail den Postausgang verlässt und im Ordner „Gesendete Nachrichten“ landet. Wieder höre ich ein Knarzen hinter mir. Diesmal ist es so laut und nah, dass ich mich nicht traue meinen Kopf zu wenden. Das Licht flackert kurz auf und es wird unheimlich kalt. Auf meinem Bildschirm erscheint eine Meldung: „Sie haben 1 neue Nachricht“. In diesem Moment schrillt mein Wecker.
*
Ich konnte den Anblick, der sich mir bot, nicht fassen. Noch ein paar Stunden vorher, als ich seine E-Mail erhielt, hätte ich vor Glück platzen können und nun konnte ich die Tränen nicht mehr halten. Als mich die Info erreichte, stieg ich sofort in den nächsten Zug. Die Fahrt schien mir unendlich lange zu dauern.
Chris öffnete die Tür und nahm mich in die Arme. Ich drückte ihn kurz, wendete mich dann aber dem Zimmer zu.
„Ich wurde wach, weil der Wecker über eine Stunde lang geklingelt hat. Er lag regungslos im Bett“, erzählte der große Dunkelhaarige mit vorsichtiger Stimme, als er mir nachlief. Langsam öffnete ich die Tür. Auf dem Stuhl lag ein frisches Shirt. Darunter eine Jeans. Nur die Beine der Hose hingen vorne herunter, bis auf den Boden. Neben dem Rechner stand ein Red Bull. Ich hasse dieses Zeug, aber für ihn war es wie Frühstück.
„Die Polizei ist seit einer Stunde weg,“ hörte ich Chris von hinten sagen, „Sie haben ihn direkt mitgenommen.“
Mich überkam eine Art Übelkeit, beim Gedanken daran, dass ich ihn nie wieder küssen oder umarmen würde, also rannte ich ins Bad, um mich zu übergeben.
„Der Arzt sagt, er sei zwischen 1 und 2 Uhr gestorben. Blutgerinsel im Großhirn. Er ist friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht“, hörte ich Chris sagen.
Neben der Toilette lag eine Spraydose auf dem Boden. Ich hob sie auf und wendete mich dem Spiegel zu. Das Haarspray stellte ich neben das Octenisept auf den Waschbeckenrand.
„Zwischen 1 und 2 Uhr?“, fragte ich mein Spiegelbild.
„Lina, sieh dir das mal an!“ hörte ich Christian rufen.
Wie in Trance lief ich zu ihm. Er stand vor dem Rechner und deutete auf den Bildschirm. Langsam näherte ich mich dem Computer. Dort war eine E-Mail geöffnet:
Absender: Freund Hein
Betreff: Ohne Betreff
Text: Komm nach Hause mein Kind. Du hattest genug Zeit, dich zu verabschieden.