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Ein ganz normaler Nachmittag
Auf einem Zweig, nicht weit von ihm entfernt saß eine einzelne Krähe und beobachtete ihn. Er fühlte sich provoziert. Alles hatte sich gegen ihn gewandt, er begriff nicht, was geschah.
Sein Verstand hat schon aufgegeben eine Erklärung für die Umstände zu suchen. Das einzige, was er im Moment fühlte war eine riesige Wut auf seine eigene Ohnmacht.
Eindringlich fixierte ihn der schwarze Vogel. Seine Gefühle nahmen ihm jeden Sinn für rationales Handeln. Der Griff nach dem schweren Stein wurde nur durch blinde Wut gesteuert. Er erwischte die Krähe am Kopf, sie fiel sofort vom Ast. Immer wieder trat er auf das tot am Boden liegende Tier ein, bis seine eigenen Tränen ihm die Sicht behinderten. Übrig blieb nur ein einziger Mus aus Federn, Fleisch und Knochen. Er wandte sein Gesicht ab.
***
Hermann war ein gutmütiger und meistens gutgelaunter Mensch. Nicht zuletzt deswegen war er bei seinen Kollegen recht beliebt und dies wiederum führte dazu, dass auch Hermann gern zur Arbeit kam. Seine Kollegen und der Job waren ihm wichtig aber das wichtigste in seinem Leben waren seine Frau Anja und seine zwölfjährge Tochter Natascha.
In letzter Zeit hatte er wenig Zeit für die beiden gehabt, denn er war sehr mit der Vorbereitung für eine große Messe beschäftigt, was ihm häufige Überstunden abverlangte.
Manches mal war er sogar bis in die Nacht im Büro geblieben. Nächste Woche würde die Messe stattfinden und die Vorbereitungen waren gut gelaufen, so dass Hermann jetzt wieder mehr Zeit haben würde.
Heute hatte er Anja versprochen, um fünf Uhr zu Hause zu sein, damit sie alle zusammen gemütlich zu Abend essen konnten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon kurz vor fünf war. Einmal mehr würde er es also nicht rechtzeitig schaffen, aber Anja verstand, wie wichtig seine Arbeit für ihn war und beschwerte sich nie.
Die gemeinsamen Abende waren immer sehr harmonisch und besonders am Wochenende konzentrierte er sich ganz und gar auf seine Familie. Sie unternahmen dann oft Ausflüge, die sie alle sehr genossen.
Nun beeilte er sich, die E-mail an das Marketingteam zum Stand der Vorbereitungen für die Messe zuende zu schreiben und um fünf nach fünf stand er im Mantel auf dem Flur.
Die Straßen waren wie immer um diese Zeit verstopft, aber Hermann konnte nichts so schnell die Laune verderben. Leise das Lied im Radio mitpfeifend manövrierte er das Auto durch den dichten Verkehr.
Kurzentschlossen fuhr er an die nächste Tankstelle und besorgte dort einen kleinen Blumenstrauß für Anja. Das machte er nicht oft und er wusste, dass sie sich darüber freuen würde.
„Da bist du ja endlich! Du wolltest doch um fünf hier sein“, rief Natascha ihm vorwurfsvoll entgegen, als er die Wohnung betrat.
„Tut mir leid, Schatz, wo ist denn Mama?“
„Die ist nochmal kurz zu Tante Anne rübergegangen, weil du ja eh noch nicht da warst.“
Tante Anne war eine Freundin von Anja, die sie alle seit Nataschas Geburt so nannten.
„Na, du hast ja heute 'ne Laune, ist dir was über die Leber gelaufen?“
„Nein.“
„Dann ist ja gut. Willst du kurz rüber gehen zu Tante Anne und Mama holen? Ach, und gib ihr doch den hier von mir.“ Hermann gab ihr den Blumenstrauß und Natascha lief los, um ihre Mutter zu holen.
Hermann gab sich große Mühe, den Tisch an diesem Abend besonders schön zu decken. Kunstvoll drapierte er drei Servietten auf den Tellern, holte die Weingläser aus dem Schrank und öffnete eine Flasche Rotwein. Das Essen war, wie üblich, von Anja schon vorbereitet worden und stand auf dem Herd.
Zufrieden betrachtete er sein Werk, dann fiel ihm noch etwas ein - er stellte eine Kerze in die Mitte und zündete sie an. Jetzt konnte das romantische Abendessen zu dritt anfangen.
Hermann vertrieb sich die Zeit mit der Tageszeitung, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren, weil seine Gedanken immer wieder zu seiner Arbeit und der wichtigen Messe abglitten. Wo Anja und Natascha bloß bleiben mochten? Wahrscheinlich waren sie noch bei Anne und tratschten. Oder aber sie wollten ihn mit seinem schlechten Gewissen zappeln lassen. Dass er dies hatte, bewies er ja durch den Blumenstrauß.
Nervös begann er durch die Wohnung zu streifen, setzte sich schließlich im Wohnzimmer auf das Sofa und schaltete den Fernseher an. Es war inzwischen kurz vor sechs und die Nachrichten mussten bald anfangen. Anstatt der Nachrichten gab es ein Störungsbild und Hermann schaltete auf einen anderen Sender um. Abwesend schaute er sich eine Weile die Doku über Polizeieinsätze in Berlin an, bevor er den Fernseher wieder ausschaltete.
Jetzt konnten die beiden wirklich langsam nach Hause kommen, dachte er bei sich, griff zum Telefonhörer und wählte Annes Nummer. Das Freizeichen war zu hören, aber niemand nahm ab. Seine Stirn legte sich in Falten, während Hermann dem Tuten aus dem Telefon lauschte. Was konnte das bedeuten?
Ob es etwas mit Nataschas schlechter Laune zu tun hatte? Schuldbewußt wurde Hermann klar, dass er nicht viel über die Alltagssorgen seiner Tochter wusste; sie war in der Schule immer gut mitgekommen und das war das wichtigste.
Oder war Anja vielleicht doch verärgert darüber, dass er heute zu spät gekommen war und wollte ihm dies durch dieses Verhalten zeigen?
Aber warum nahm denn Anne das Telefon nicht ab?
Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch setzte Hermann sich wieder auf das Sofa. Was sollte er denn tun, als abzuwarten, bis die beiden kamen?
Er ließ den Hörer aus der Hand sinken, es war jetzt schon fast eine Stunde her, dass Natascha die Wohnung verlassen hatte und er hatte nun schon zum dritten Mal versucht, Anne anzurufen. Vielleicht waren die drei woanders hingegangen, aber dann hätten sie ihm doch bescheid gesagt, Natascha wusste doch, dass er zu Hause auf sie wartete.
Oder war womöglich irgendetwas passiert?
Diese Spannung konnte Hermann nicht ertragen, er griff seinen Mantel und ging hinaus. Anne wohnte nur einige Minuten von ihnen weg, drüben in den Blocks. Die Verkrampfung in seinem Magen verstärkte sich, als er in den Vorgarten trat. Es war still. Ungewohnt still, aber Hermann konnte sich nicht erklären, woran es lag. Mitten auf der Straße des ruhigen Wohngebietes in dem Hermann wohnte, stand ein Auto.
Wieso hatte hier jemand sein Auto mitten im Weg stehen gelassen? Die Beklemmungsgefühle wurden stärker. Irgendetwas war nicht wie sonst. Und nun fiel ihm auch ein, weswegen es ihm so seltsam still vorkam. Normalerweise hörte man hier immer ein leises Grundrauschen, das vom Verkehr der Hauptstraße her stammte. Jetzt war davon nichts zu bemerken. Vielleicht hatte man die Straße gesperrt? Im Moment wollte Hermann darüber nicht nachdenken, denn er machte sich nun ernsthafte Sorgen um Anja und Natascha. Im Lauftempo legte er die kurze Strecke zu dem Block zurück, in dem Anne wohnte. Energisch drückte er mehrmals den Klingelknopf. Er wartete auf das Geräusch des Türsummers, aber er hörte nichts. Mit großen Schritten rannte er vor der Tür hin und her, drückte dann wahllos irgendwelche Klingelknöpfe, auch hier passierte nichts.
Es konnte doch nicht sein, das niemand im Haus war! Wie konnte das möglich sein?
Vielleicht waren sie alle evakuiert worden? Womöglich hatte man in der Nähe einen Sprengkörper entdeckt? Steckten Terroristen dahinter? Oder vielleicht giftige Gase? Ein Unfall in einer nahen Fabrik?
An der Hauptstraße würde er jemanden fragen können, dort gab es Geschäfte. Man würde ihm schon sagen, was passiert war.
Als er um die Ecke zur Hauptstraße bog, blieb Hermann der Mund offen stehen. Überall auf der Straße standen Autos, teilweise waren sie ineinandergekracht, einige standen schräg auf dem Fußweg, eines war gegen eine Straßenlaterne gefahren. Ein einziges Chaos!
Er rannte zwischen den Autos umher. Es war kein einziger Mensch in der Nähe. Wo waren sie alle hin? Was hatte sie dazu gebracht, die Kontrolle über ihre Autos zu verlieren und dann offensichtlich auf der Stelle zu flüchten? Panik schnürte ihm die Kehle zu. Dies alles ging über seinen Verstand. Welche Erklärung konnte es denn hierfür noch geben? Soetwas hätte man doch in den Nachrichten bringen müssen! In den Nachrichten ... schwach kam ihm ein Störungsbild in den Sinn.
Er lief zur Bäckerei hinüber, die Tür stand offen aber es war niemand da, auch in den anderen Geschäften und in den dahinterliegenden Räumen, die Hermann nun krampfhaft durchsuchte fand er niemanden. In dem Zeitungsladen lagen einige Münzen auf der Theke und die Kasse war geöffnet. Kurz verspürte Hermann die Lust, sich ein paar Scheine herauszunehmen, bevor er sich hart mit der Hand gegen die Stirn schlug.
Was sollte er denn mit dem Geld, das half ihm aus dieser Situation nicht heraus. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen und dann begann er laut zu lachen. Dies war doch alles lächerlich! Hatten Aliens alle Menschen aus der Stadt oder sogar von der ganzen Erde entführt? Er schüttelte sich vor lachen.
Dann erblickte er das Radio. Kein Empfang! Er bekam keinen Sender rein. Was sollte das alles nur? Seine Beine trugen ihm wieder zur Tür hinaus auf die Straße.
In der Nähe stand ein Baum. Auf einem Zweig, nicht weit von ihm entfernt saß eine einzelne Krähe ...