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Ein ganz normaler Tag
Die Sonne lugt durch das kleine Fenster, das sich nicht öffnen lässt. Irgendwo in einer großen Stadt klingelt jetzt ein Wecker. Hier ist es still. Der Hahn ist vor 25 Jahren gestorben. In New York gibt es die ersten Staus. Geschäftsleute fluchen auf dem Weg zur Arbeit. Wie jeden Tag.
Hier ist es still. Ein Schmetterling lässt sich auf einem Veilchen nieder. In Berlin bestellt ein Chef bei seiner Sekretärin einen Kaffee. Extra stark. Wie jeden Morgen. Er schaut auf die voll befahrene Straße. Es hupt. Auf dem Bürgersteig fährt ein Moped an den Fußgängern vorbei. Der Motor ist laut. Hier ist es still. Der Schmetterling ist Braun mit orangen Flecken. Die Farben beißen sich mit dem Lila des Veilchens. Es interessiert niemanden. In Paris probiert die Frau des Bürgermeisters die neueste Mode an. Im ganzen Laden tönt Musik aus Lautsprechern. Die Bürgermeistergattin summt mit. Hier ist es still. Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht. Es ist keine Wolke am Himmel. Der Wind fährt durch die hohen Gräser. Sie wurden schon lange nicht mehr gemäht. In Pearth sitzt ein kleiner Junge vor seinem Fernseher. Er isst Chips. Der leere Teller vom Mittagessen steht vor ihm. Die Flasche Cola ist fast leer. Er hat den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt. Er will die Streitereien der Eltern nicht hören. Hier ist es still. Hier streitet niemand. Die Gräser wiegen sich im Wind. Die Ziege, die sie früher abgraste, stürzte eines Tages den Hang hinunter. In Florenz sonnt sich auf einem Balkon im dritten Stock eine junge Italienerin. Die Wäsche vom Nachbarbalkon flattert im Wind. Unten im Hof spielen Kinder. Sie fangen sich gegenseitig. Sie kreischen und rufen. Der Schall prallt an den Häuserwänden ab und schwebt im Hof. Hier ist es still. Es ruft niemand. Unten im Tal fließt ein Bach. Man hört ihn hier oben nur, wenn der Wind richtig steht. Der Wind steht nicht richtig. Eine Grille zirpt im hohen Gras. Der Schmetterling sonnt sich auf dem Veilchen. Die Farben beider passen nicht zusammen. Aber das ist ihnen egal. In Schweden trinkt eine Familie Tee und isst Kuchen. Die Oma ist aus dem Nachbardorf zu Besuch gekommen. Alle lachen und reden durcheinander. Hier ist es still. Keiner lacht. Die Kinder, die früher hier lachten, sind weg gezogen. In die Städte. Hier oben, sagen sie, ist keine Arbeit. Die Sonne steht jetzt kurz über den Bergen. Der Wind weht wieder leicht über die Bergwiesen. Er würde den gestressten Börsianern in Frankfurt gut tun. Aber sie kommen nicht hier her. Die letzten Wanderer waren hier vor 10 Jahren. Sie fahren jetzt lieber nach Hawaii oder ins Himalaja. Da ist mehr los. Abenteuer. Hier ist nichts los. Hier ist es still. In Madrid geht eine junge Familie in ein Restaurant. Dort ist heute Live-Musik. Es sind viele Menschen da. Sie tanzen zur Musik. Hier tanzt niemand. Früher kam immer der Nachbar zum abendlichen Musizieren. Er ist ausgewandert. Nach Australien. Hat dort einen interessanten Job gefunden. Die letzte Karte von ihm ist zwölf Jahre alt. Sie steht auf dem Fensterbrett. Die Sonne ist hinter den Bergen verschwunden. Sie hat ihre Arbeit für heute getan.
Auf Capri geht jetzt die Party-Time los. Aus allen Discos tönt Hip-Hop und R&B. Die Musik ist laut. Hier ist es still. Der Mond scheint auf die Wiesen. Der Schmetterling hat sich schlafen gelegt. Das Veilchen seine Blüte geschlossen. Auch der Wind hat sich zurückgezogen. Er will die Stille auf keinen Fall stören. Im Persischen Golf beschießen sie die Städte. Bomben fallen. Hier passiert nichts. Es ist kein Laut zu hören. Ich sitze am Bett meiner Großmutter. Halte ihre Hand. Sie hat ihre Augen geschlossen. Sie wollte diesen einen Tag noch erleben. Diese Stille und den Ort, den sie noch nie verlassen hat. Jetzt ist sie eingeschlafen. Ist still geworden. Hat sich der Umgebung angepasst.
Morgen wird der Schmetterling wieder auf dem Veilchen sitzen. Die Sonne ihn wärmen. Der Wind wird durch die Gräser fahren. Meine Großmutter wird das nicht mehr mitbekommen. Sie ist tot. Auf ihrem Gesicht ist ein Lächeln. Hier ist ihr zuhause. Ich lege ihre Hand auf ihren Bauch. Stelle die Karte vom Fensterbrett auf den Nachttisch. Neben ihre Brille. Ich mache die Gaslampe aus. Der Mond scheint durch das kleine Fenster, das sich nicht öffnen lässt. Ich schließe die Tür. Sie knarrt. Dann ist es ganz ruhig. Ich höre nur meinen eigenen Atem. Er geht schwer. Morgen werde ich hinunter gehen, ins Tal. Werde bis zum nächsten Dorf laufen. Dort wartet der Bus. Er fährt nur einmal in der Woche. Er fährt in die kleine Stadt. Ich werde zurück nach Hamburg fahren. Mit dem Zug. Nach Hamburg, wo so viel Lärm in den Straßen ist. Ich werde die Stille hier oben vermissen. Meine Großmutter.