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Ein Gespräch im Bus
Ein Gespräch im Bus
Für einen jungen Menschen bedeutet der Besitz eines gültigen Führerscheins bekanntermaßen einige Vorteile, wie mehr Unabhängigkeit von den Eltern, oder eine höhere Mobilität. Doch es besteht durchaus auch ein ganz bestimmter Nachteil, jedenfalls für Diejenigen, die, als sie noch keine Fahrerlaubnis hatten, mit dem Bus gereist sind. Es sind nämlich immer wieder Unterhaltungen zwischen sehr interessanten, weil außergewöhnlichen Personen zu erleben. Denn mit Ausnahme von den täglich reisenden Schülern , sowie auch Angestellten, welche die ökologischen und ökonomischen Vorteile der öffentlichen Verkehrsmittel gegenüber dem Pkw erkannt haben, versammeln sich hier meistens Teile der niedrigsten Gesellschaftsschicht. Sehr häufig sind dieses Arbeitslose und auch Teilzeitarbeiter aus dem Niedriglohnbereich, denen die Mittel für die immer höher werdenden Kosten des Führerscheinerwerbs und erst recht für einen eigenen Wagen fehlen.
Wenn man solche Leute miteinander reden hört bleibt einem als Bildungsbürger nur noch ein Kopfschütteln, häufig über ihre Ausdrucksweise , allerdings auch über den Inhalt dieser Gespräche. Besonders pikant kann es werden , wenn sich die Angesprochenen mit allgemein als wichtig erachteten Themenkomplexen, wie Bereichen der Politik befassen. An Äußerungen wie „Die Wiedervereinigung war der größte Fehler in der Geschichte Deutschlands“ oder menschenverachtende Aussagen wie „Bei Adolf hätte es so etwas nicht gegeben“ lässt sich der jeweilige Bildungsgrad fast bereits ablesen.
Doch manchmal tun sich auch ernsthafte Probleme auf, zerrüttete Leben.
Sehr erstaunlich dabei ist, in welcher Offenheit einige Menschen über sich und ihre Probleme sprechen, obwohl jemand , der eine Reihe vor oder hinter ihnen sitzt, gar nicht die Möglichkeit besitzt, nicht mitzuhören. Derartige Geschichten bleiben dann namenlos , oft gesichtslos, weil man nur die Stimme der Redenden hört, doch in gewisser Weise sind sie auch zeitlos, da sie von einigen Grundfragen des Menschseins handeln.
So sprach eine, der Stimme nach zu urteilen junge Frau, mit ihrer , so stellte sich im Laufe des Gesprächs heraus, zweiundvierzigjährigen Bekannten. Sie erzählte, dass sie auf dem Weg zur Bücherei war, um neun Bücher für ein von ihr begonnenes Fernstudium , den genauen Studiengang verschwieg sie, auszuleihen. Aus beinahe jedem ihrer Worte war in einem gewissen Grad revolutionäres Gedankengut und ebenso eine emanzipatorische Denkweise herauszuhören.
Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, da er ihr das Studium, ihre einzige Möglichkeit zur Selbstverwirklichung , nicht gestatten wollte.
So einen männlichen Charakter kann man sich ja leicht vorstellen: Er wird wohl ein gewöhnlicher Arbeiter mit einer mäßigen Bildung sein, der noch stark von seiner Mutter beeinflusst wird, nachdem er sehr streng erzogen wurde. Er wollte seine Frau beherrschen, doch konnte es nicht ertragen, dass sie klüger ist als er.
Die Frau hingegen hat ein neues Leben begonnen, auch wenn sich ihr Mann einbildet , dass seine Angetraute völlig mittellos ohne ihn dasteht und jeden Tag arbeitet , nicht um das Studium zu finanzieren, sondern um ihre Schulden abzubezahlen.
Nach einiger Zeit stellte dann die Frau, deren einzige Gesprächsbeiträge sich bis dahin auf „Ja“ , „Nein“, und „Das gibt es doch nicht“ beschränkten, folgende Frage :“Kümmert er sich denn wenigstens um die Kinder?“
Mit dieser Frage und dem damit verbundenem Thema „Kindererziehung“ stieß sie eine Tür ihrer eigenen Seele auf, hinter der bis zu diesem Moment Dunkelheit herrschte, weil sie für eine lange Zeit nicht mehr durch sie eingetreten war.
Ihre Freundin machte, nachdem sie die Frage mit „Nein“ beantwortet hatte, den Missmut , den sie gegenüber ihrem Mann empfindet sehr deutlich.
Im Anschluss an eine Phase, in der sich beide über den Mann und dessen Nichtnachkommen seiner Pflichten als Vater beschwert haben , fragte die Jüngere der Beiden , ob ihre Bekannte, die sie bis zu diesem Tag viele Jahre nicht gesehen hatte, inzwischen Kinder bekommen hätte.
Nach langem Zögern bekam sie folgende Antwort:“ Ja, ich habe einen Sohn. Er ist vor zwei Wochen achtzehn geworden. Er lebt bei einer Pflegefamilie. Ich möchte eigentlich gar nicht darüber reden.“
In jedem Laut ihrer heiseren, zitternden Stimme klang die Trauer über den Verlust des Sohnes mit. Dieser schwerwiegende Fehler, als einen solchen sieht sie wohl das Weggeben ihres Kindes an , wird sie noch bis an ihr Lebensende verfolgen. Sie konnte nie die Freuden einer Mutter beim Aufwachsen ihres Kindes erfahren. Nie konnte sie ihrem Sohn helfen, als er sich unter vielen Problemen von einem Jugendlichen zum Mann entwickelte. Sie wird wahrscheinlich nicht bei seiner Hochzeit dabei sein und niemals wird sie erleben, wie ihr eigenes Fleisch und Blut selbst all diese Freuden und auch die Leiden eines Lebens mit Kindern erfährt.
Ich nehme an , um denen sich andeutenden Tränen aus dem Weg zu gehen, sprach sie auf einmal von ihrer Arbeit, doch gelangte sehr schnell wieder zum eigentlichen Thema, den Kindern .
Sie berichtete, dass sie noch vor ein paar Monaten für einen Stundenlohn von lediglich einem Euro gearbeitet hat, als Putzfrau, regelmäßig zusammen mit einer Kollegin. Von jener hatte sie erfahren, dass deren Sohn im Alter von acht Jahren begann zu rauchen.
Ausgelöst durch dieser , für sie schockierenden Tatsache breitete die Zweiundvierzigjährige ihre eigene Kindheit und Jugend aus.
Sie machte deutlich, dass sie, als sie acht Jahre alt war, an so etwas wie Rauchen noch gar nicht gedacht habe, sie hätte erst mit vierzehn mit dem Rauchen angefangen. Um dieses zu verheimlichen ging sie dafür immer in den Keller, wohin sich ebenfalls ihre Mutter zurückzog, um ihren nichtrauchenden Mann nicht zu stören. Natürlich geschah es niemals, dass beide zur selben Zeit ihrer von vielen verharmlosten Nikotinsucht nachgingen , denn so eng, dass sie sich ihrer Mutter in dieser Sache hätte anvertrauen können, war ihr Verhältnis nicht. Niemand schöpfte Verdacht, bis sie das sechzehnte Lebensjahr erreicht hatte und es eines Tages doch ans Licht kam. Während dieser Zeit , so gestand sie , bestand ihr Leben hauptsächlich aus vielen Partys, die sie feierte. Es gab wohl auch einige Nächte , die sie aufgrund der Alkoholwirkung völlig vergessen hat.
Dieses war , wie sie ja sagte, als sie acht Jahre alt war, noch in weiter Ferne. Dabei vergisst sie, dass es überhaupt keine Rolle spielt, zu welchem Zeitpunkt jemand mit dem Konsum von Drogen beginnt. Was mit ihrem Leben geschah ist schon schlimm genug. Durch die ständigen Feiern wurden, wegen fehlender Konzentrationsfähigkeit , ihre schulischen Leistungen naturgemäß immer schlechter. Dementsprechend war eine gute Schulausbildung für sie nicht möglich. Die Folge dessen war ein Geldmangel, und dieser führte schließlich dazu, und das ist die bittere Wahrheit, dass sie sich dazu gezwungen fühlte, ihren Sohn zur Adoption freizugeben. Hier zeigt sich deutlich, wohin so ein Lebensstil ohne einen Gedanken an die eigene Zukunft führt.
Zwischendurch hatte auch die Studentin einige Dinge aus ihrer Jugend erzählt. Im Vergleich zu ihren eigenen Kindern sei sie viel braver gewesen.
Bewegt durch ihre momentane familiäre Situation ließ sie sich letztlich zu der Aussage hinreißen:“ Wenn ich so etwas gewusst hätte , hätte ich keine.“
Leider hat sie es nun einmal nicht besser gewusst. Nun muss sie mit ihrer bisherigen Biografie weiterleben, ebenso ihre Bekannte. Doch ihre Situationen sind nicht schicksalsbedingt, sondern haben sich einzig und allein als Konsequenzen ihrer Handlungsweisen ergeben.