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Ein Großstadtmonster
Licht und Schatten jagten einander und doch spiegelte sich in ihrem wilden Hin- und Herhetzen die blanke Furcht vor dem jeweils Anderen.
Diesmal saß Fletcher in der U-Bahn. Er befand sich in der hintersten Ecke des Abteils und musste, zusammengesunken in seinem beigefarbenen Mantel, nach außen hin einen völlig erschöpften Eindruck machen. Sein Kopf lehnte an der zerkratzten Scheibe, seine Hände lagen untätig auf dem Sitzpolster mit der abstoßenden Musterung. Doch trotz dieser Haltung ging eine unangenehme Lebendigkeit von ihm aus, das wusste er selbst, denn unablässig glitten seine Blicke umher, verschossen von jenen an glühende Kohlen gemahnenden Augen.
In dem Abteil waren außer Fletcher noch drei andere Personen. Zum einen ein unappetitlicher Alter, der die ganze Zeit über auf eine Werbung an der Wand ihm gegenüber stierte. Sein Atem ging langsam und vernehmbar. Fletcher zugewandt saß eine junge Frau mit blonden Haaren und von zierlicher Statur, die insgesamt einen äußerst ängstlichen Eindruck machte – was in diesen Tagen nichts seltenes war. Und dann war da natürlich noch der Kerl, der in der Nähe der Tür stand. Er war von durchschnittlicher Größe und wirkte hager, sein dunkles Haar trug er kurz. Ihm galten die meisten von Fletchers Blicken, schon bald ließ er ihn nicht mehr aus den Augen und stellte zu seiner Befriedigung fest, dass der Fremde sich immer öfter nervös umwandte. Er ahnte offenbar etwas, denn Fletcher glaubte einen dünnen Schweißfilm auf der hohen Stirn erkennen zu können.
Gut, dachte Fletcher und schnalzte leise mit der Zunge, wahrscheinlich liest auch dieser selbstverliebte Bastard Zeitung.
Schon jetzt hasste Fletcher ihn, was den Rest einfacher machen würde. Heute wird er’s sein.
Als der Zug ratternd um eine Kurve fuhr, brachte Fletcher sich in eine aufrechtere Sitzhaltung. Dabei registrierte er, dass Joey – Fletcher hatte den Fremden an der Tür in Gedanken „Joey“ getauft – ihm fiel einfach kein dämlicherer Name ein, er verabscheute den Namen – einmal zusammenzuckte, als er ängstlich in Fletchers Richtung sah.
Auch die junge Frau versuchte gelegentlich Fletcher unauffällig zu mustern, was dieser aber im Augenwinkel wahrnahm. Nachdem er es einige Male zugelassen hatte, starrte er plötzlich zurück, sein eiskalter Blick bohrte sich in ihre Iris und dann flüsterte er, nein, eigentlich flüstere er gar nicht, sondern bewegte lediglich die Lippen, so dass sie seine simple Botschaft verstand: Buh!
Nun zuckte auch sie zusammen, rutschte unruhig hin und her und versuchte irgendwohin zu sehen, nur nicht in Fletchers Richtung. Der Zug wurde langsamer und Fletcher taxierte wieder Joey mit unverhohlenem Interesse. Der Dritte in der Woche und die Sache wird einfach.
Licht und Schatten beruhigten sich zusehends und kaum stand der Zug still öffneten sich seine Türen mit bedeutsamem Zischen. Mit einem großen Schritt trat Joey hinaus, während Fletcher sich mit einer geschmeidigen Bewegung von seinem Sitzplatz löste und schnell hinausglitt, dabei in den Blicken der jungen Frau badend, die ihm in unbestimmter Panik nachsah. Mit schnellen Schritten gelangte Fletcher auf die gegenüberliegende Seite des Bahnsteigs, sodass Joey ihn nicht sah, als er hektisch über seine Schulter schaute, Fletcher konnte das Aufatmen des Mistkerls beinahe hören. Unterdessen setzte die U-Bahn ihre Fahrt fort.
Ah, die U-Bahn! Fletcher liebte die U-Bahn, nicht unbedingt als Transportmittel, aber als ein unterirdisches Gewirr interessanter Eindrücke und vor allem verschiedenster Menschen. Von der breiten Schicht derer, die sich gemeinhin als „normale Leute“ bezeichneten, mit ihren alltäglichen, tragischen, komischen, irrelevanten, geschmacklosen Schicksalen, über leicht kriminelle Müßiggänger und Geheimniskrämer, bis hin zu einer kleinen aber stetig wachsenden Gruppe, aus Individuen, deren dauerhafter Fortgang in dieses sonnenlose Reich eine direkte Konsequenz aus ihrem Ausstieg aus der Gesellschaft zu seien schien.
Als Joey mit flinken kurzen Schritten die Treppe nach oben erklomm, räumte Fletcher ihm einen gewissen Vorsprung ein, schließlich spürte – oder vielmehr wusste er aus Erfahrung – dass Joey seine Anwesenheit schon jetzt wieder instinktiv wahrnahm.
… und auch die Gerüche sollte man nicht vergessen! Die U-Bahn (womit hier das Areal gemeint ist) hat ihren ganz eigenen Geruch, eine Mischung aus dem Geruch der Anlage selbst, den Ausdünstungen wartender oder geschäftiger Menschen, den diversen Waren, die man hier erwerben konnte und den Dingen, die die durchziehende Luft hierher trug. Eine völlig widernatürliche Komposition, die in Fletcher stets das abstrakte Bild eines riesigen schlafenden Organismus erzeugte, der ganz und gar metallisch war.
Nun ging es hinaus in den lauen Herbstabend. Die Luft war angereichert von dem Geruch beheizter Wohnungen und trug Fletcher das dumpfe Geräusch zu, dass Joey durch sein schnelles Gehen über den grauen Bürgersteig erzeugte. Auch Fletcher beschleunigte nun wieder seine Schritte und der Anblick der teilweise maroden Hochhäuser, die sich wie die Säulen eines zyklopischen Pantheons zivilisatorischer Dekadenz gen Himmel warfen, ließ ihn seinen Mund zu einem Lächeln verziehen. Dieser Himmel jedoch, mit seinen Wolkenfetzen und dem diffusen Licht der letzten Tagesstunde, wirkte wie zerrissen.
Als Joey sich von den großen Straßen entfernte und der Weg weiterging durch lichtlose Nebengassen, verkürzte Fletcher den Abstand sogar noch. Er war dabei aber stets darauf bedacht, seinem Opfer den kleinsten Zweifel daran zu lassen, dass es wirklich verfolgt wurde, um zu verhindern, dass Joey um Hilfe zu rufen begann oder wegrannte. Trotzdem wurde Joey zusehends panischer, seinen Blicken war zu entnehmen, dass er den Ernst der Lage langsam begriff und einmal, da war sich Fletcher sicher, wäre Joey beinah losgerannt.
Doch nun war es sowieso zu spät, die Gegend war wie ausgestorben und sollte Joey Fluchtversuche unternehmen, konnte Fletcher auch sofort zur Tat schreiten, ohne befürchten zu müssen, bemerkt zu werden, der einzige Zeuge wäre jener verwaiste Zigarettenautomat, dort an der beschmierten Wand. Einzig silbriges Mondlicht ließ nunmehr die unscharfen Konturen der verwahrlosten Mietshäuser hervortreten.
Fletcher sah, dass Joey, offenbar mit den Nerven am Ende, in seiner Jackentasche herumfummelte und er machte noch ein paar schnelle Schritte nach vorn, sodass Joey nur wenig mehr als fünf Meter entfernt war. So kam was kommen musste: Joey zog mit einer zitternden Hand einen Schlüsselbund hervor, rammte in einem halbherzigen Schlusssprint diesen in das Schloss eines der Häuser und stürzte ins Innere desselben. Er versuchte noch die Tür hinter sich zuzuwerfen, aber Fletcher war einfach zu schnell. Gewandt gelangte er mit wenigen langen Schritten noch hinein. Das Treppenhaus war nun erfüllt vom Klimpern der Schlüssel, den hastigen Schritten der beiden rennenden Männer und den verzweifelten Rufen Joeys – die keinerlei Reaktion hervorriefen, die wenigen Anwohner hatten selbst zu viele Sorgen, als dass sie sich um das Geschrei eines vermutlich Irren gekümmert hätten.
Joey gelangte noch bis zu seiner Wohnungstür, doch als er sie aufstieß, war Fletcher direkt hinter ihm. Er versetzte seinem völlig aufgelösten Opfer einen Stoß in den Rücken, sodass Joey flehentlich schreiend, vornüber stürzte und sich beim Fallen gerade noch so herumzudrehen vermochte, dass er hart auf dem Rücken aufschlug und ihm ein schmerzliches Keuchen entfuhr. In seinen Augen stand nun pures Entsetzen, er hob abwehrend eine Hand, doch Fletcher war schon über ihm, sein Jagdmesser in der Hand. Ein grausames Grinsen verunzierte seine Züge, als er jene Joeys, im matt durch das Fenster einfallenden Lichtgemisch des Mondes und einer Laterne, begutachtete. Er war zufrieden.
Da ging eine Veränderung im Gesicht Joeys vor, eine Art Verwunderung machte sich breit, die aber keineswegs von noch größerem Schrecken kündete.
„W… Wer sind sie denn?!“, brachte Joey dann hervor, so als sei er gänzlich überrascht, Fletcher zu sehen.
„Versuchen Sie es gar nicht erst“, erwiderte dieser kalt. „Es hat jetzt keinen Sinn mehr. Wir wissen woran wir miteinander sind.“ Er hob das Messer ein wenig und fuhr dann fort: „Ich habe sie schließlich nicht umsonst durch die halbe Stadt gehetzt.“
Joey zwinkerte völlig erstaunt, dann legte er den Kopf schief als müsse er nachdenken. Daraufhin setzte er sich halb auf und stieß ein furchtbares humorloses Lachen aus, das Fletcher gegen seinen Willen einen halben Schritt rückwärts machen ließ. Abrupt hörte er damit auf, als ein altes Grauen wieder von ihm Besitz ergriff.
„Sie glauben, ich sei vor Ihnen davon gerannt?!“ Während er sprach, glitten seine Blicke immer wieder zu der noch offenstehenden Tür hinter Fletcher und seine Augen weiteten sich, in ihnen spiegelte sich blanke Furcht und etwas Anderes von jenseits der Schwelle.
„Sie armer, armer… Narr.“
Das letzte Wort war fast nicht mehr zu hören, als die Tür mit einem kreischenden Quietschen und einem infernalischen Krachen zuschlug, während etwas wie ein kalter Luftzug ins Zimmer glitt. Etwas, das hier nicht näher beschrieben werden kann, etwas aus den Tiefen der U-Bahnschächte, etwas aus dem Labyrinth der Straßen der Großstadt und vielleicht auch aus den Seelen Joeys und Fletchers. Es erklangen die markerschütternden Schreie zweier Menschen und etwas, das bestimmte Wesen vielleicht ein Lachen nennen würden und augenscheinlich herrschten daraufhin Dunkelheit und Stille in der Wohnung, dessen, den Fletcher einst Joey nannte.
Vorbei aber war es noch nicht. Bis es vorbei war vergingen noch viele Stunden, bis die letzte morbide Imitation eines Kicherns durch die dunkle Tür gedrungen war und bis sich die Sonne hinter der finsteren zackigen Silhouette der Stadt emporhob, sich an ihr riss und alles in ihr Himmelsblut tauchte.