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Ein guter Vorsatz
Die Medien waren dieses Mal besonders schnell. Jemand mußte geplaudert haben. Anders war es nicht zu erklären, daß das erste Kamerateam bereits eine Liveschaltung vorbereitete, obwohl die Polizei noch nicht einmal den Tatort vollständig abgesperrt hatte. Das würde sich herausfinden lassen. Und der Informant würde etwas erleben.
Die Sonne ging gerade auf und beschien eine Szenerie, wie sie diese Stadt in den letzten Monaten häufig erlebt hatte: wieder war eine junge Frau ermordet worden, und die Medien würden auch diese Tat mit Sicherheit dem "Backfischangler", wie sie den Serientäter getauft hatten, zuschreiben. Womit sie Recht hatten. Es war sein fünftes Opfer. Das wußte Johann Winckelmann, Hauptkommissar bei der Hamburger Kriminalpolizei, jetzt schon. Er war von Anfang an mit dieser Mordserie betraut, und er kannte die Handschrift des Täters.
Es war kalt an diesem Januarmorgen. Winckelmann stieg aus seinem Wagen und die kalte Brise des Hamburger Hafens und das Dröhnen eines Nebelhorns empfingen ihn. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, er fror. Beamte der Spurensicherung in ihren weißen Plastiküberzügen gingen in die Lagerhalle, in der das Opfer gefunden worden war. Sie würden nichts finden. Wie bei den anderen Opfern zuvor schon. Der "Backfischangler" war immer sehr vorsichtig. Die erste Reporterin kam auf ihn zu, ihr Mikrofon wie eine Waffe vor sich haltend. Es war Tanja Förster, NDR. Natürlich.
"Möchten Sie eine Stellungnahme abgeben zum anhaltenden Versagen der Polizei?", fragte sie in ihrer unnachahmlich bissigen Art. Winckelmann hätte ihr am liebsten etwas angetan. Eine Nervensäge war das! Und immer die erste Reporterin vor Ort. Die mit den giftigsten Kommentaren und... Die Kamera lief, und Winckelmann riß sich zusammen.
"Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch keine näheren Angaben machen. Wir werden eine Pressekonferenz anberaumen, sobald wir etwas zu berichten haben. Danke." Winckelmann wandte sich ab und wollte in Richtung seines Kollegen Thaißen gehen, der sich bereits mit Meyer, einem Beamten von der Spurensicherung, unterhielt, aber Frau Förster ließ nicht locker:
"Handelt es sich um eine neue Tat des Backfischanglers, Herr Winckelmann?"
"Kein Kommentar!", gab Winckelmann genervt zurück und bedeutete einem Polizisten, ihm Frau Förster vom Leib zu halten. Nun konnte er endlich zu seinem Kollegen.
"Dir fehlt ein Knopf", empfing ihn Thaißen und zeigte auf Winckelmanns Hemdkragen.
"Bin wohl irgendwo hängengeblieben", murmelte Winckelmann geistesabwesend und lauschte den Ausführungen Meyers.
"... der Gewalteinwirkung. Der Täter trug vermutlich Handschuhe, und auf den ersten Blick sieht es nicht so aus, als würden wir viel finden. Aber wir haben ja gerade erst angefangen. Wollt ihr schon rein?", beendete Meyer seinen ersten Überblick. Die Kommissare nickten und ließen sich in die Lagerhalle führen. Sie war groß. In hohen Regalen waren auf acht Ebenen Kisten gelagert, und es waren viele Beamte in weißen Plastiküberzügen unterwegs.
Das Opfer lag auf der Ladefläche eines offenen Kleintransporters. Etwa Mitte 20 und bildhübsch, blond, mit einer tollen Figur. Ihre Kleidung war stilvoll, ein violettes Abendkleid, und sie machte einen gepflegten Eindruck. Eine ganz Teure. Sie wurde erwürgt. Wie die anderen Opfer auch. Sie hatte sich heftig gewehrt. Heftiger als alle anderen Opfer davor. Das war für Winckelmann gar keine Frage. Ein Blitzlicht unterbrach seine Gedanken. Die Spurensicherung machte ihre Arbeit.
"Sie hat sich gewehrt, und vielleicht finden wir diesmal etwas, das wir analysieren können, vielleicht Hautreste unter den Fingernägeln", erläuterte Meyer das Offensichtliche. Thaißen begann, die Opfer an seinen Fingern abzuzählen:
"Eine Verkäuferin, eine Krankenschwester, eine Erzieherin, vor zwei Wochen die Studentin mit den Dreadlocks, heute eine Edelnutte." Er trat näher an Winckelmann heran. "Nur junge hübsche Frauen. Was hat er bloß gegen sie?"
Winckelmann verdehte die Augen. Diese Frage hatten sie schon dutzende Male gewälzt.
"Wir sollten uns an die Fakten halten", beschied Winckelmann knapp.
Er betrachtete weiter das Opfer. Das Kleid war am Ausschnitt etwas aufgerissen, was einen verführerischen Einblick ermöglichte, an den Beinen war es weit hochgerutscht, und es schaute sehr danach aus, daß das Opfer kein Höschen trug. Wirklich, sehr hübsch. Er bemerkte, daß er das Opfer anstarrte und wandte den Blick ab. Blitzlicht. Thaißen sprach einige Schritte weiter wieder mit Meyer, und Winckelmann ging zu ihnen.
"... das sieht ganz typisch aus. Das war sicher der Backfischangler, ganz sicher. Was meinen Sie, Herr Winckelmann?"
Winckelman ging auf die Frage nicht ein, sondern überlegte stattdessen, wann sie die Öffentlichkeit unterrichten sollten. Sicher nicht noch zum Frühstücksfernsehen. Das hieße ja Frau Förster einen Gefallen tun. Diese Frau Förster. Sie war kaum älter als die meisten Opfer, und richtig gut sah sie auch aus.
"Wie lange dauert es, bis wir einen ersten Bericht bekommen?", wollte Winckelmann wissen.
"Schon bald, vielleicht gegen zehn. Oder später." Meyer zuckte mit den Achseln und suchte seine Taschen nach einem Feuerzeug ab, um die Zigarette zwischen seinen Lippen auch anzuzünden. Er fand eines, zog es aus der Tasche und mit ihm ungewollt eine Münze, die er fallen ließ. Die Münze rollte über den Boden in Richtung eines nahestehenden Regales, stieß daran und blieb dort liegen. Sofort bückte sich Winckelmann und hörte nicht auf Meyer, der vermutlich etwas wegen der Spuren sagen wollte. Als er nach der Münze griff, fiel Winckelmanns Blick auf einen kleinen Gegenstand, der direkt neben dem Regalbein lag. Er war weiß, rund und Winckelmann kam er unangenehm bekannt vor. Er griff danach wie nach der Münze und richtete sich wieder auf. Niemand hatte es bemerkt.
"Wenn Sie zuviel davon haben, können Sie mir ja etwas abgeben", versuchte Winckelmann zu scherzen und ignorierte Meyers mißbilligenden Blick, als er ihm den Euro mit seiner Linken zurückgab während er seine rechte Hand in seine Manteltasche steckte. Dann entschuldigte er sich und ging.
Als er aus der Lagerhalle ins Freie trat, sah er Frau Förster im Übertragungswagen sitzen, das Mobiltelefon am Ohr. Er war jetzt wirklich etwas nervös und mußte sich beruhigen. Frische Luft würde gut tun. Sie war sogar sehr hübsch.
Er ging ein paar Schritte auf und ab und dachte nach. Kurz darauf kam Thaißen dazu.
"Einen vorläufigen Bericht zur Spurenlage bekommen wir um zehn, und das Opfer hat jetzt auch einen Namen. Wir haben ihre Papiere in ihrem Täschchen gefunden."
"Gut, gut", stammelte Winckelmann, nicht ganz bei der Sache.
Nach einer kurzen Pause ergänzte Thaißen:"Wir müssen ihre Angehörigen unterrichten, die Staatsanwaltschaft informieren, eine Pressekonferenz ansetzen und uns überlegen, was wir den Medienheinis sagen."
Winckelmann dachte gerade darüber nach wieder anzufangen zu rauchen.
"Ja, sicher." Winckelmann fing sich wieder. "Gehen wir."
Sie machten sich auf den Weg zum Wagen, als Thaißen nochmal gerufen wurde.
"Der Meyer will noch was. Geh doch schon vor."
"Ich warte im Wagen", bestätigte Winckelmann und ging zum Auto. Dort angekommen dachte er noch einmal nach. Das war knapp. Das war so unglaublich knapp, daß es eigentlich hätte schiefgehen müssen. Dieses Miststück hatte ihm einen Knopf abgerissen und er hatte es nicht bemerkt! Er griff in seine rechte Manteltasche und holte den kleinen weißen, runden Knopf seines Hemdkragens hervor. Dieses Scheißteil hätte ihm "Lebenslang" einbringen können! Er mußte aufhören. Er mußte damit aufhören. Aber es tat so gut, ihren aussichtslosen Kampf zu sehen, zu sehen, wie ihre Kräfte schwanden, bis sie schließlich nachgaben... Es war ein gutes Gefühl, es ihr heimzuzahlen... Aber er wollte nicht, daß seine Kinder sich würden anhören müssen, daß ihr Vater ein Monster ist. Er würde aufhören. Dieses Miststück war sein letztes Opfer gewesen. Sein Blick fiel auf den Übertragungswagen des NDR. Diese Frau Förster... Tanja... Vielleicht noch einmal. Nur noch ein einziges Mal.