Was ist neu

Ein gutes Leben

Mitglied
Beitritt
27.02.2002
Beiträge
97

Ein gutes Leben

Ich sitze ihm gegenüber und sehe ihn an. Das Essen auf dem Tisch zwischen uns schmeckt gut, interessiert mich aber nicht weiter. Mit größerem Interesse betrachte ich sein unförmiges Gesicht und höre seiner Geschichte zu. Das lässt die Zeit schneller vergehen. Es ist jetzt 19.00 Uhr.

Fett läuft über sein dickes, unrasiertes Kinn und hinterlässt glänzende Spuren auf seiner unreinen Haut. Seine großen, behaarten Hände greifen nach dem Getränk neben seinem Teller. Er schüttet den Inhalt des Glases ohne abzusetzen in sich hinein, um gleich lautstark nach einem neuen zu verlangen. Er spricht beim Essen, bei jedem Wort spritzen feuchte Essensreste aus seinem Mund und verteilen sich über dem Tisch. Nur selten, um sich das tropfende Fett mit der Serviette abzutupfen, unterbricht er sich.

Auf keinen Fall erwartet er eine Antwort, er erzählt und erzählt, fast ohne vom Teller aufzublicken. Er schwärmt von seiner glücklichen Kindheit auf dem Land. Wie er die Tiere auf dem Hof seiner Eltern gemocht hatte. Besonders liebte er die jungen Kaninchen. Jedes Mal brach es ihm das Herz, wenn sie verkauft werden sollten. Eine Katastrophe war es dann für ihn, wenn sie für den Hausgebrauch geschlachtet wurden. Dieser massige Mann behauptet tatsächlich, er hätte dann geweint. Für das Rind, welches sein Leben für das Filet hergegeben hatte, das er bei dieser Mahlzeit in sich hinein stopft, empfindet er offensichtlich nicht soviel Mitgefühl. Stattdessen berichtet er weiter im Plauderton von seinem Leben und stopft sich dabei zu große Fleischstücke in den Mund.

Tracy heißt seine Frau. Er hatte sie beim Gottesdienst in seiner Baptistengemeinde kennen gelernt. Sie stand damals mit ihren Eltern in der ersten Reihe neben ihm und seiner Familie. Ihr Vater hatte in der nahe gelegenen Stadt einen Job bekommen, deshalb war er mit ihr und ihrer Mutter in sein Heimatdorf gezogen. Sie hatte so schön gesungen. Sofort verliebte er sich in sie. Mehrere Jahre machte er ihr den Hof, schließlich war sie ein anständiges Mädchen aus einer gläubigen Familie. Bei so einer musste man sich als junger Mann schon ins Zeug legen, sagt er. Er zählt die vielen Male auf, die er sie verstohlen in der Kirche angelächelt hatte. Tatsächlich weiß er noch einige der Bibelstellen, bei denen er es gewagt hatte, zu ihr hinüber zuschauen. Nach einem halben Jahr, er war damals neunzehn Jahre alt, sprach er sie endlich zum ersten Mal an. Ihr erstes Treffen fand bei einem Kirchentanz statt. Diese wurden von den Baptisten organisiert, damit die jungen Leute eine Möglichkeit hatten, sich in behüteter Umgebung kennen zu lernen. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis er ihr einen Antrag machen würde.

Wieder leert er sein Glas in einem Zug und bestellt ein neues. Er schaut sich ein wenig unsicher um, nur ganz kurz, als die Limonade gebracht wird.

Gleich darauf beginnt er wieder zu erzählen. Diesmal von seiner Hochzeit. Er sagt, es war der schönste Tag seines Lebens. Über hundert Gäste aus dem ganzen Land waren gekommen, um mit ihm und seiner Frau gemeinsam zu feiern. Sein Vater, der ebenfalls Prediger in ihrer Gemeinde war, hatte sie getraut. Tracy war die schönste Braut, die er je gesehen hatte. Sie trug ein weißes Kleid mit einer meterlangen Schleppe. Dazu einen Strauß dunkelrote Rosen in ihren Händen. Das sind ihre Lieblingsblumen. In ihrem gemeinsamen Haus steht immer irgendwo ein Strauß Rosen auf dem Tisch und erinnert sie an ihren Hochzeitstag.

Mit den letzten Kroketten wischt er die restliche Soße von seinem Teller. Den Salat hatte er nicht angerührt, er möge kein Grünzeug, erklärt er sich. Es ist jetzt 20.30 Uhr.

Während der letzten Bissen des Hauptgerichts erzählt er mir von der Geburt seiner Kinder. Er hat zwei Söhne und drei Töchter. Auf alle ist er stolz, nur sein jüngster würde Probleme machen. Paul, so hieß sein Sohn, hat wohl die falschen Freunde. Er tat nicht genug für die Schule und ging auch nicht mehr regelmäßig in die Kirche. Aber das sei hoffentlich nur eine Phase, sagt er und wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von seiner Glatze. Das viele Reden und Essen scheint ihn anzustrengen.

Der Nachtisch wird gebracht. Vanilleeis mit heißen Himbeeren, dazu ein Stück Schokoladenbrownie. Gierig greift er nach dem Brownie. Seine Frau würde auch tolle Brownies backen, berichtet er. Natürlich sind ihre noch besser als die hier, aber schlecht seien diese nicht. Voller Stolz berichtet er von dem perfekten Truthahn den er jedes Thanksgiving von Tracy zubereitet bekommt. Außen goldgelb und knusprig, innen schön saftig. So wie sie sein sollen. Dazu zaubert seine Frau die beste Cranberry Sauce der Welt.
Als der Nachtisch aufgegessen ist, betet er.

Ich senke ebenfalls den Blick und falte die Hände, denke aber nicht an Gott. Ich denke über das nach, was er mir gerade erzählt hat. Ich finde, er hatte ein gutes Leben. Nach seinem Gebet verabschiedet er sich von mir.

Die Zellentür wird aufgeschlossen und mit einem letzten Blick in meine Richtung geht er davon. Jetzt ist es 22.00 Uhr. Noch sieben Stunden bleiben.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Signore,

Ein Mann steht kurz vor seiner Hinrichtung, isst die Henkersmahlzeit. Dabei erzählt er von seinem Leben, das brav und „ein gutes Leben“ war.
Ich habe mehrmals daran gezweifelt, ob er die Wahrheit über sein Leben erzählt, weil er nur positive Sachen erzählt, und zwar sehr übertrieben. Der Erzähler scheint aber nicht zu zweifeln.

Ich habe einen Kleinen Hinweis darauf vermisst, weswegen er verurteilt wurde, wenigstens eine Andeutung, ob und wen er umgebracht hat, ob er einen Lebenswandel hatte, oder er sich zufällig in einer sehr ungünstigen Situation befand, so dass es eher Totschlag war, oder war er ein politischer „Verbrecher“?
So hat man zwar den Kontrast zwischen seinem Leben und seiner Verurteilung, kann das ganze Drama aber nicht recht miterleben.

Hier noch der Kleinkram:


Das Essen auf dem Tisch zwischen uns schmeckt gut, interessiert mich aber nicht weiter.

Nur der andere isst, oder? Woher weiß der Erzähler, dass das Essen gut schmeckt?
Oder habe ich die Geschichte völlig falsch interpretiert?

Er spricht beim Essen, bei jedem Wort spritzen feuchte Essensreste aus seinem Mund und verteilen sich über dem Tisch.
Über den Tisch

Nur selten, um sich das tropfende Fett mit der Serviette abzutupfen, unterbricht er sich.

Ich würde den Nebensatz nach hinten schieben, so ist es inhaltlich etwas holperig.

Eine Katastrophe war es dann für ihn, wenn sie für den Hausgebrauch geschlachtet wurden. Dieser massige Mann behauptet tatsächlich, er hätte dann geweint. Für das Rind, welches sein Leben für das Filet hergegeben hatte, das er bei dieser Mahlzeit in sich hinein stopft, empfindet er offensichtlich nicht soviel Mitgefühl.

„Für“: Wortwiederholung
"so viel" auseinander
Wenn in der Gegenwart erzählt wird, ist die Vergangenheitsform „hat“, nicht „hatte“, diesen Fehler machst du mehrmals im Text, wenn du aber gerade im Präteritum erzählst, dann ist „hatte“ als Vergangenheit richtig.

Tracy heißt seine Frau. Er hatte sie beim Gottesdienst in seiner Baptistengemeinde kennen gelernt. Sie stand damals mit ihren Eltern in der ersten Reihe neben ihm und seiner Familie.

Statt „hatte“ kannst du entweder „hat“ schreiben, oder gleich ins Präteritum wechseln.

Er zählt die vielen Male auf, die er sie verstohlen in der Kirche angelächelt hatte.

„die Male, die“ klingt nicht gut, vielleicht lieber: „die Gelegenheiten, bei denen“

Ihr erstes Treffen fand bei einem Kirchentanz statt. Diese wurden von den Baptisten organisiert, damit die jungen Leute eine Möglichkeit hatten, sich in behüteter Umgebung kennen zu lernen.

Dieser wurde

Dazu einen Strauß dunkelrote Rosen in ihren Händen.
dunkelroter

Mit den letzten Kroketten wischt er die restliche Soße von seinem Teller. Den Salat hatte er nicht angerührt, er möge kein Grünzeug, erklärt er sich. Es ist jetzt 20.30 Uhr.

Statt „hatte“ wieder Präsens oder „hat“.
Den Konjunktiv finde ich unpassend, normal Präsens reicht völlig aus.
„erklärt er“, ohne „sich“.

Aber das sei hoffentlich nur eine Phase, sagt er und wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von seiner Glatze.

Wischen im Präsens

Seine Frau würde auch tolle Brownies backen, berichtet er. Natürlich sind ihre noch besser als die hier, aber schlecht seien diese nicht.

Hier wäre indikativ präsens wieder viel besser, als Konjunktiv.
Das „berichtet er“ besser weglassen.


Grüße!

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom