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Ein Haus mit Keller

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06.07.2006
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Ein Haus mit Keller

Wie ein Vertriebener fühlte sich Mr. Hurst, als er die beiden größten Koffer, die er besaß, auf dem weichen Bett des Hotelzimmers ablegte. Als er den Kleiderschrank öffnete, kam ihm ein moderiger Geruch entgegen. Sorgsam behängte er ihn mit den Kleidungsstücken aus den Koffern. Es muss sein, dachte Mr. Hurst. Es ist eine einmalige Gelegenheit.
Vieles hatte er zurück lassen müssen in seinem Haus in einem Vorort von Manchester. Ein kleines und bescheidenes Häuschen zwar, aber es gehörte ihm ganz alleine.

Nachdem er Zahnbürste, Zahncreme, Seife, Old Spice und Rasierzeug auf den Rand der Badewanne postiert hatte, weil sich sonst kein Platz im Badezimmer fand, nahm er seine Kodak Retina aus dem Koffer. Seit drei Jahren war er im Besitz dieser zuverlässigen Fotokamera, und ihr Kauf hatte sich schon vielfach bezahlt gemacht. Er steckte sie in die Jackentasche, wo er auch sein gesamtes Bargeld – viertausend Pfund - verwahrte.
Da keine Stühle in dem Zimmerchen waren, setzte er sich auf die Bettkante. Tief eingesunken in die Matratze war sein Gesäß, und in dieser wackeligen Position versuchte er noch einmal an das Telefongespräch zu denken, dass er gleich würde führen müssen.

Noch dreißig Stunden zuvor hatte Mr. Hurst keinen Gedanken an den Plan gehabt, den er jetzt bereits ausführte. Erst als er die Bilder von dem Zugunglück auf der Strecke von London nach Manchester auf BBC gesehen hatte, entzündete sich in seinem Kopf der erste Funke dieser Idee.

Nachdem er sich eingerichtet hatte, verließ er ungeduscht das Zimmer und ging nach unten. Schnell wollte er das Telefonat hinter sich bringen, denn er hielt es für die größte Hürde auf dem Weg zu seiner neuen Identität. Der Rest würde dann von selbst passieren. Er war eben Mr. Smith, hatte seinen Ausweis verloren...ihm würde schon das Passende einfallen.

Gegenüber der Empfangstheke war eine Telefonzelle. Er wählte die Nummer der Telefonauskunft und ließ sich mit dem zuständigen Polizeibüro verbinden.
„Guten Tag. Ich vermisse seit gestern meinen Bekannten Gary Hurst. Er wollte mit dem Zug von London nach Manchester fahren. Bitte machen sie ihn ausfindig, vermutlich ist Mr. Hurst eines der Opfer des Zugunglücks.“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er auf.
Nach Mr. Hursts Plan würde man in den nächsten Tagen vergeblich nach ihm suchen. Da es keine Spur von seinem Verbleib gab, würde man ihn bald als Opfer des Zugunglückes verbuchen und für tot erklären. Als Mr. Smith würde er einen angeblich verlorenen Personalausweis neu beantragen, mit den viertausend Pfund sich so lange über Wasser halten, bis er einen Job gefunden hätte, in Manchester ein Haus mit Keller suchen und mit der gebotenen Vorsicht sein altes Hobby weiterführen. Das dachte er und betastete die Kamera in seiner Jackentasche.

Nun war also das Nötige eingeleitet. Früh war es dunkel geworden, und seit Stunden regnete es eintönig auf die alten Dächer von Manchester. Nach dem Telefonat hatte er ein wenig geschlafen und geduscht.
Gleich neben dem Hotel war ein verrauchtes Pub, in dem er jetzt sein zweites Guiness trank. Erst als die drei Männer am Nebentisch aufstanden, bemerkte er die junge, schwarzhaarige Frau in der Ecke. Sie hatte ein Glas Rotwein vor sich und schien auf ihr Essen zu warten. Ihr Blick ging in Richtung Theke.

Sie war alleine.

Die Kamera hatte Mr. Hurst immer in seiner Jackentasche, und das zahlte sich an diesem Abend aus. Unbeobachtet hatte er die Blöße ihres glatten weißen Halses eingefangen. Gut konnte er die Halsschlagader erahnen, und auch Hüften und Busen zeichneten sich unter dem engen Pullover deutlich ab.
Er brauchte mehr Fotos. Unter dem Tisch ließ er es zweimal klicken.
Mr. Hurst konnte mit seiner Kamera umgehen wie die Westernhelden mit ihren Revolvern, die ohne Anvisieren aus der Hüfte schossen. Längst hatte er es sich angewöhnt, die Kamera in einer Hand haltend, auf den Auslöser zu drücken, ohne durch den Sucher zu sehen, und ohne dass das Bild später verwackelt war. Ihre Beine hatte er nun eingefangen. Der vierte Schnappschuss traf ihr Gesicht von vorne, lächelnd. Sie hatte ihn bemerkt, als er gerade knipste. Schnell nahm er die Kamera weg und umfasste sein Bierglas mit der rechten Hand. Auch jetzt hörte sie nicht auf, ihn anzulächeln, was Mr. Hurst dazu ermutigte, sie anzusprechen.
„Entschuldigen sie bitte“, sagte er, „ich hätte besser fragen sollen, ob ich Sie fotografieren darf“.
Jetzt lachte sie noch mehr, schüttelte den Kopf:
„Ist doch schön, wenn ich ihnen einen Abzug wert bin. Was werden Sie damit anstellen?“
„Wissen Sie, es ist nicht für mich. Die Kamera gehört meinem Freund, Gary Hurst. Seit ich gestern von diesem Zugunglück gehört hatte, befürchte ich, dass er unter den Opfern ist. Er hat oft in London zu tun. Er mochte Frauen mit langen schwarzen Haaren. Übrigens heiße ich Walter Smith.“
Verlegen lächelnd stand Mr. Hurst auf und gab ihr die Hand.
Sie nannte ihm nur ihren Vornamen, Cindy, und bot ihm den Platz an ihrem Tisch an.
„Was führt so eine schöne junge Frau wie Sie abends alleine in so ein verrauchtes Pub?“
„Ich bin im Hotel nebenan einquartiert“, antwortete sie, und Mr. Hurst verschwieg, dass auch er darin wohnte.
„Ich komme aus Schottland und bin auf Durchreise nach Hamburg.“
Gut möglich, dass ich sie einmal alleine vorfinde, dachte Mr. Hurst.
„Ich interessiere mich für die Schauspielerei, und in Hamburg findet ein Workshop statt.“
Mr. Hurst hörte ihr kaum zu. Während sie erzählte, inspizierte er die schlanke Nase, die blauen Augen und ihre tadellosen weißen Zähne.
Er dachte an die Fotos. Ihr blasses Gesicht würde er mit Lack bepinseln. In ihren Oberkörper könnte er ein Rautenmuster ritzen.
„Aber das mit Ihrem Freund tut mir sehr Leid für Sie.“
Wie würde er mit den Beinen verfahren, mit diesen langen, hellen Beinen? Das zu entscheiden hatte Zeit, bis er die Fotos bearbeitete. Zuerst bearbeitete er immer die Fotos. Das war die Vorspeise. Erst dann versuchte er, die Frauen einzufangen, und wenn ihm dies gelungen war, genehmigte er sich die Hauptspeise.
„Vielleicht war Ihr Freund gar nicht unter den Zugopfern.“ Höchste Zeit, dachte er, dass ich endlich meine Identität ändere. Drei Jahre und sechs Morde. Ich muss vorsichtiger werden.
„Sehen Sie, wenn man Ihren Freund nicht findet, wird die Polizei bestimmt sein Haus durchsuchen. Dabei werden oft wichtige Hinweise gefunden.“
Haus durchsuchen. Ein Hämmerchen nistete sich in Mr. Hursts Kopf ein. Das Haus durchsuchen. Die sechs Leichen. Für immer würden sie ihn einsperren. Der Leichengeruch, sobald man den Keller betrat.
Mr. Hurst trank sein Bierglas leer, bezahlte, verabschiedete sich von Cindy und ging zu der Telefonzelle im Hotel.

Zwischen dem Gespräch mit der Schwarzhaarigen und Mr. Hursts erneutem Anruf im Polizeirevier lagen nur Sekunden. In Panik hatte er sich von Cindy verabschiedet, in Panik die Nummer der Telefonauskunft gewählt und ohne lange nachzudenken mit dem Beamten gesprochen:
„Guten Abend. Hurst spricht hier. Mir geht es gut. Der anonyme Anrufer war ich. Es war nur ein Scherz. Brechen Sie die Suche nach mir ab.“


Drei Monate später war die Gerichtsverhandlung. Das Urteil traf Mr. Hurst schwer. Er machte sich Vorwürfe. Sein Plan war nicht nur schlecht durchdacht, sondern töricht und naiv gewesen.
Trotzdem empfand er sein Urteil als zu hart. Vierzig Tagessätze zu je einhundert Pfund. Das machte viertausend Pfund, sein gesamtes Erspartes. Dazu ein halbes Jahr zur Bewährung. Irreführung der Beamten, so lautete der Vorwurf. Und das wegen eines harmlosen Anrufes. Sicher, die Strafe würde ihn nicht umbringen, schließlich hatte er sein kleines Haus und die Kodak Retina. Ein junges Mädchen hatte er auch wieder im Visier, nicht älter als sechzehn Jahre, blond.
Für das, was ich im Keller mit den jungen Damen mache, hätte ich eine lange Haftstrafe verdient, dachte er. Aber die andere Sache...viertausend Pfund wegen eines Anrufes...ungerecht.
Seltsam und ungerecht.

 

Hallo Bacardi,

so ganz kann ich Hursts Entscheidung, die Polizei ein zweites Mal anzurufen nicht nachvollziehen. Gerade nach Cindys Aussage müsste er ja noch mehr darauf hoffen, die Identität zu wechseln. Oder wollte er trotz des fingierten Ablebens den Ruf nicht gefährdet sehen?
Okay, der Plan war natürlich trotzdem schlecht durchdacht, denn sollten sie die Leichen im Haus gefunden werden, würden weitere Morde oder Vermisstenmeldungen nach diesem Muster sicherlich auffallen. Und obwohl ich kein CSI sehe weiß ich, dass es trotz der verlorenen Papiere Möglichkeiten der Identifizierung gibt.

Unabhängig davon würde ich mir in einem spannenden Krimi natürlich ein bisschen Katz und Maus Spiel wünschen, selbst, wenn der Mörder am ende unerkannt und ungeschoren davon kommt. Aber der Gegenpart fehlt, die von Hurst ermordeten Personen scheint niemand zu vermissen.
Stilistisch war es gut.
Details:

versuchte er noch einmal an das Telefongespräch zu denken, dass er gleich würde führen müssen
das er gleich (steht ja für das Telefongespräch)
„Entschuldigen sie bitte“,
Sie
„Aber das mit Ihrem Freund tut mir sehr Leid für Sie.“
leid inzwischen wieder klein

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,

vielen Dank fürs Rezensieren.

zu der Unklarheit: er bekam eben Panik, als er die Frau von Hausdurchsuchung sprechen hörte. Vorher hatte er nicht bedacht, dass das Haus im Todesfall durchsucht wird. Und durch die Rücknahme der ganzen Aktion wollte er eben die Hausdurchsuchung verhindern, denn, wie Du ja auch sagst, wäre die Gefahr, dass er dann trotzdem geschnappt wird, schon groß.

Gruß
Bacardi

 

Hallo Baccardi,

ein sehr schöner Plot. Eine paar gute Ideen, die Du da eingearbeitet hast.

Leider vermisse ich:
- den Höhepunkt: als Hurst die Frau trifft geht es zur Sache. Es geht um sein Überleben. Hättest Du das nicht spannender / intensiver erzählen können?
- das Ende: das ist nacherzählt. Entweder formulierst Du das aus oder Du lässt es weg, denn es hat mit der Sapnnungskurve kaum noch was zu tun. Und der Clou ist eher bescheiden.

LG
Wolfgang Urach

 

Hallo Urach,

danke für den Kommentar. Was den ersten Einwand betrifft, gebe ich Dir schon absolut Recht...beim Zweiten nicht so. Hätte man zwar Szenisch darstellen können, aber so ist es eben zusammenfaßend, die Moral von der Geschicht quasi, ich find das kann man machen.

LG
stefan

 

OK kann man so sehen. Ich finde, hier verschenkst Du was.

 

Hallo BacardiFreezer,
irgendwie habe ich den Eindruck, als sei die Geschichte schnell geschrieben worden. Das liegt sicher daran, dass ich die Atmosphäre als nicht sehr dicht empfinde. Zum einen konzentrierst Du dich auf den sachlichen Teil und dann kommt da so was wie: >Tief eingesunken in die Matratze war sein Gesäß, und in dieser wackeligen Position versuchte er noch einmal an das Telefongespräch zu denken, dass er gleich würde führen müssen.<
Das ist nicht elegant, meine ich.
Oder: >Nachdem er sich eingerichtet hatte, verließ er ungeduscht das Zimmer.<
Jup… warum auch nicht? Ist für die Geschichte total unwichtig und bringt atmosphärisch nix.
Besser hätte ich einen Blick gefunden, den er auf den Flur wirft, um zu sehen, ob man ihm nachschaut.. oder so.
Oder auch, dass seine Nerven blank liegen und er unruhig im Zimmer herumläuft.
Ok, mag ja auch Geschmackssache sein.
Dass der aber ein neues Leben anfangen will und sich selbst als vermisst meldet, die Leichen aber im Keller rumstinken lässt und dann doch wieder zurückkehrt, finde ich unlogisch.
Selbst wenn man diesen Schritt spontan tut, überlegt man so was.
Und kostet ein falscher Anruf wirklich so viel Geld? Dazu noch eine Gefängnisstrafe zur Bewährung? Foltern die in England auch noch?
Unabhängig davon, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Fremder eine Frau heimlich fotografiert und sie ihn so einfach gewähren lässt (normal hätte sie ihn wohl angezeigt und bei der Justiz hätte er dafür lebenslänglich bekommen), ist die Erklärung für die Fotos, die Kamera gehöre nicht ihm, extrem dünn.
Trotz der Kritik kann ich nicht sagen, dass ich die Geschichte nicht gern gelesen habe, meine aber, dass da noch einiges zu tun ist.
Viele Grüße 3

 

@ Dreimeier

danke für die Rezension. War hilfreich, wirklich nachvollziehbar...und lachen musste ich auch noch :-)

 

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