Mitglied
- Beitritt
- 06.07.2006
- Beiträge
- 62
Ein Haus mit Keller
Wie ein Vertriebener fühlte sich Mr. Hurst, als er die beiden größten Koffer, die er besaß, auf dem weichen Bett des Hotelzimmers ablegte. Als er den Kleiderschrank öffnete, kam ihm ein moderiger Geruch entgegen. Sorgsam behängte er ihn mit den Kleidungsstücken aus den Koffern. Es muss sein, dachte Mr. Hurst. Es ist eine einmalige Gelegenheit.
Vieles hatte er zurück lassen müssen in seinem Haus in einem Vorort von Manchester. Ein kleines und bescheidenes Häuschen zwar, aber es gehörte ihm ganz alleine.
Nachdem er Zahnbürste, Zahncreme, Seife, Old Spice und Rasierzeug auf den Rand der Badewanne postiert hatte, weil sich sonst kein Platz im Badezimmer fand, nahm er seine Kodak Retina aus dem Koffer. Seit drei Jahren war er im Besitz dieser zuverlässigen Fotokamera, und ihr Kauf hatte sich schon vielfach bezahlt gemacht. Er steckte sie in die Jackentasche, wo er auch sein gesamtes Bargeld – viertausend Pfund - verwahrte.
Da keine Stühle in dem Zimmerchen waren, setzte er sich auf die Bettkante. Tief eingesunken in die Matratze war sein Gesäß, und in dieser wackeligen Position versuchte er noch einmal an das Telefongespräch zu denken, dass er gleich würde führen müssen.
Noch dreißig Stunden zuvor hatte Mr. Hurst keinen Gedanken an den Plan gehabt, den er jetzt bereits ausführte. Erst als er die Bilder von dem Zugunglück auf der Strecke von London nach Manchester auf BBC gesehen hatte, entzündete sich in seinem Kopf der erste Funke dieser Idee.
Nachdem er sich eingerichtet hatte, verließ er ungeduscht das Zimmer und ging nach unten. Schnell wollte er das Telefonat hinter sich bringen, denn er hielt es für die größte Hürde auf dem Weg zu seiner neuen Identität. Der Rest würde dann von selbst passieren. Er war eben Mr. Smith, hatte seinen Ausweis verloren...ihm würde schon das Passende einfallen.
Gegenüber der Empfangstheke war eine Telefonzelle. Er wählte die Nummer der Telefonauskunft und ließ sich mit dem zuständigen Polizeibüro verbinden.
„Guten Tag. Ich vermisse seit gestern meinen Bekannten Gary Hurst. Er wollte mit dem Zug von London nach Manchester fahren. Bitte machen sie ihn ausfindig, vermutlich ist Mr. Hurst eines der Opfer des Zugunglücks.“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er auf.
Nach Mr. Hursts Plan würde man in den nächsten Tagen vergeblich nach ihm suchen. Da es keine Spur von seinem Verbleib gab, würde man ihn bald als Opfer des Zugunglückes verbuchen und für tot erklären. Als Mr. Smith würde er einen angeblich verlorenen Personalausweis neu beantragen, mit den viertausend Pfund sich so lange über Wasser halten, bis er einen Job gefunden hätte, in Manchester ein Haus mit Keller suchen und mit der gebotenen Vorsicht sein altes Hobby weiterführen. Das dachte er und betastete die Kamera in seiner Jackentasche.
Nun war also das Nötige eingeleitet. Früh war es dunkel geworden, und seit Stunden regnete es eintönig auf die alten Dächer von Manchester. Nach dem Telefonat hatte er ein wenig geschlafen und geduscht.
Gleich neben dem Hotel war ein verrauchtes Pub, in dem er jetzt sein zweites Guiness trank. Erst als die drei Männer am Nebentisch aufstanden, bemerkte er die junge, schwarzhaarige Frau in der Ecke. Sie hatte ein Glas Rotwein vor sich und schien auf ihr Essen zu warten. Ihr Blick ging in Richtung Theke.
Sie war alleine.
Die Kamera hatte Mr. Hurst immer in seiner Jackentasche, und das zahlte sich an diesem Abend aus. Unbeobachtet hatte er die Blöße ihres glatten weißen Halses eingefangen. Gut konnte er die Halsschlagader erahnen, und auch Hüften und Busen zeichneten sich unter dem engen Pullover deutlich ab.
Er brauchte mehr Fotos. Unter dem Tisch ließ er es zweimal klicken.
Mr. Hurst konnte mit seiner Kamera umgehen wie die Westernhelden mit ihren Revolvern, die ohne Anvisieren aus der Hüfte schossen. Längst hatte er es sich angewöhnt, die Kamera in einer Hand haltend, auf den Auslöser zu drücken, ohne durch den Sucher zu sehen, und ohne dass das Bild später verwackelt war. Ihre Beine hatte er nun eingefangen. Der vierte Schnappschuss traf ihr Gesicht von vorne, lächelnd. Sie hatte ihn bemerkt, als er gerade knipste. Schnell nahm er die Kamera weg und umfasste sein Bierglas mit der rechten Hand. Auch jetzt hörte sie nicht auf, ihn anzulächeln, was Mr. Hurst dazu ermutigte, sie anzusprechen.
„Entschuldigen sie bitte“, sagte er, „ich hätte besser fragen sollen, ob ich Sie fotografieren darf“.
Jetzt lachte sie noch mehr, schüttelte den Kopf:
„Ist doch schön, wenn ich ihnen einen Abzug wert bin. Was werden Sie damit anstellen?“
„Wissen Sie, es ist nicht für mich. Die Kamera gehört meinem Freund, Gary Hurst. Seit ich gestern von diesem Zugunglück gehört hatte, befürchte ich, dass er unter den Opfern ist. Er hat oft in London zu tun. Er mochte Frauen mit langen schwarzen Haaren. Übrigens heiße ich Walter Smith.“
Verlegen lächelnd stand Mr. Hurst auf und gab ihr die Hand.
Sie nannte ihm nur ihren Vornamen, Cindy, und bot ihm den Platz an ihrem Tisch an.
„Was führt so eine schöne junge Frau wie Sie abends alleine in so ein verrauchtes Pub?“
„Ich bin im Hotel nebenan einquartiert“, antwortete sie, und Mr. Hurst verschwieg, dass auch er darin wohnte.
„Ich komme aus Schottland und bin auf Durchreise nach Hamburg.“
Gut möglich, dass ich sie einmal alleine vorfinde, dachte Mr. Hurst.
„Ich interessiere mich für die Schauspielerei, und in Hamburg findet ein Workshop statt.“
Mr. Hurst hörte ihr kaum zu. Während sie erzählte, inspizierte er die schlanke Nase, die blauen Augen und ihre tadellosen weißen Zähne.
Er dachte an die Fotos. Ihr blasses Gesicht würde er mit Lack bepinseln. In ihren Oberkörper könnte er ein Rautenmuster ritzen.
„Aber das mit Ihrem Freund tut mir sehr Leid für Sie.“
Wie würde er mit den Beinen verfahren, mit diesen langen, hellen Beinen? Das zu entscheiden hatte Zeit, bis er die Fotos bearbeitete. Zuerst bearbeitete er immer die Fotos. Das war die Vorspeise. Erst dann versuchte er, die Frauen einzufangen, und wenn ihm dies gelungen war, genehmigte er sich die Hauptspeise.
„Vielleicht war Ihr Freund gar nicht unter den Zugopfern.“ Höchste Zeit, dachte er, dass ich endlich meine Identität ändere. Drei Jahre und sechs Morde. Ich muss vorsichtiger werden.
„Sehen Sie, wenn man Ihren Freund nicht findet, wird die Polizei bestimmt sein Haus durchsuchen. Dabei werden oft wichtige Hinweise gefunden.“
Haus durchsuchen. Ein Hämmerchen nistete sich in Mr. Hursts Kopf ein. Das Haus durchsuchen. Die sechs Leichen. Für immer würden sie ihn einsperren. Der Leichengeruch, sobald man den Keller betrat.
Mr. Hurst trank sein Bierglas leer, bezahlte, verabschiedete sich von Cindy und ging zu der Telefonzelle im Hotel.
Zwischen dem Gespräch mit der Schwarzhaarigen und Mr. Hursts erneutem Anruf im Polizeirevier lagen nur Sekunden. In Panik hatte er sich von Cindy verabschiedet, in Panik die Nummer der Telefonauskunft gewählt und ohne lange nachzudenken mit dem Beamten gesprochen:
„Guten Abend. Hurst spricht hier. Mir geht es gut. Der anonyme Anrufer war ich. Es war nur ein Scherz. Brechen Sie die Suche nach mir ab.“
Drei Monate später war die Gerichtsverhandlung. Das Urteil traf Mr. Hurst schwer. Er machte sich Vorwürfe. Sein Plan war nicht nur schlecht durchdacht, sondern töricht und naiv gewesen.
Trotzdem empfand er sein Urteil als zu hart. Vierzig Tagessätze zu je einhundert Pfund. Das machte viertausend Pfund, sein gesamtes Erspartes. Dazu ein halbes Jahr zur Bewährung. Irreführung der Beamten, so lautete der Vorwurf. Und das wegen eines harmlosen Anrufes. Sicher, die Strafe würde ihn nicht umbringen, schließlich hatte er sein kleines Haus und die Kodak Retina. Ein junges Mädchen hatte er auch wieder im Visier, nicht älter als sechzehn Jahre, blond.
Für das, was ich im Keller mit den jungen Damen mache, hätte ich eine lange Haftstrafe verdient, dachte er. Aber die andere Sache...viertausend Pfund wegen eines Anrufes...ungerecht.
Seltsam und ungerecht.