Ein Held hinter den Treppenstufen
Ein Held hinter den Treppenstufen
Er stand vor uns. Er wirkte viel stärker. Er war für einen Moment wieder jung. Und doch so schwach, denn seine Erinnerung war erdrückend. Die sechzig Jahre, die schon vergangen waren, kamen ihm vor wie nur wenige Tage.
Er spürte die kalte Holzwand an die er sich damals mit seinem ganzen kindlichen Körper lehnte. Es kam ihm vor, als schaute er wieder durch den engen kleinen Schlitz zwischen den zwei Holzstämmen. Seine Augen wirkten angespannt, als versuchten sie etwas ganz scharf zu sehen, was nicht da war.
Es waren ganze sechzig Jahre vergangen, und doch schaffte es dieser alte ehemalige Soldat und Held diesen Tag, der über sein und unser ganzes Leben entschied nahezu bis ins letzte Detail in seinem Kopf zu rekapitulieren.
Ich war mit meiner Schwester nach Estland gereist, das Land, wo ich geboren wurde, da mein Cousin uns zu seiner Hochzeit eingeladen hatte.
Meine Famlie war fünfzehn Jahre davor nach Deutschland übergesiedelt, weil meine Eltern es in Estland nicht mehr für sicher hielten aufgrund der Situation nach der Auflösung der Sowietunion. Es kam nämlich zu Übergriffen auf den russischen Teil der estnischen Bevölkerung, weil die Estnischstämmigen uns die Schuld an der Misere gaben, die sie - aber natürlich auch uns - während der Sowiet-Zeit plagte. Die Unabhängigkeit war im August 1991 gekommen, und die vielen immer noch in Estland lebenden Russen wollte man einfach nicht akzeptieren, und vor allem jugendliche Esten mit ihrem neunationalen Stolz versuchten uns sogar mit Gewalt einzuschüchtern und zu vertreiben.
Ich bekam davon natürlich nichts mit, denn zum Zeitpunkt unserer Immigration in die Bundesrepublik Deutschland war ich erst 6 Jahre alt gewesen.
Diese weite Reise ohne Rückkehr zerriss die Verbindung zu dem restlichen Teil meiner Familie, zu meiner Tante, meiner Cousine und meinem Cousin, und zu meinen Großeltern. Erst zehn Jahre nach unserer Ausreise konnten wir sie das erste mal wieder sehen aufgrund von Problemen mit Aufenthaltstiteln und Ausreisegenehmigungen.
Seit unserer ersten Rückreise waren nun wieder vier Jahre vergangen, in denen wir einige Male in Estland waren.
Doch diese Reise sollte eine ganz besondere werden, denn mein Cousin lud zur Hochzeit ein. Davor mussten wir aber natürlich noch einen Besuch bei unserem Großvater machen, der mit der Hochzeit nichts am Hut hatte, da er zur väterlichen Seite gehörte, mein Cousin aber der Sohn der Schwester meiner Mutter war.
Meine Oma war schon vor sehr vielen Jahren gestorben, sodass mein Großvater schon lange Zeit allein lebte.
Er war eingesperrt in seiner Wohnung im obersten fünften Stockwerk und die riesige für ihn in seinem Alter schwer überwindbare Treppe trennte ihn von der Außenwelt.
Das einzige, was ihm einen Einblick nach draußen bot, war sein alter Fernseher, der – obwohl in Estland – dank Satellit Programme aus Russland empfing.
Er verbrachte seine Tage also mit Fernsehen. Die Sendungen, die auf seinen meist frequentierten Sendern liefen, handelten über die typischen melancholischen Themen.
Es wurden Reportagen über verstorbene einstige Größen Russlands gezeigt, alte zugeschminkte vergessene – und doch verehrte – Schauspielerinnen und Schauspieler weinten öffentlich ihren Kollegen nach, und alte Kriegshelden aus dem zweiten Weltkrieg wurden lebendig gehalten. Mein Großvater schuf sich so seine eigene Welt, in der er die Treppe nicht mehr als Hindernis sah, sondern als einen Wächter, der auf ihn aufpasste, damit er nicht in die neue ihm fremde und ihn nicht liebende Welt entschwellte.
Warum man ihn jenseits der Treppe nicht liebte? Er war im zweiten Weltkrieg Soldat gewesen. Ein Späher im zarten Alter von vierzehn Jahren in einem Krieg, der Millionen Opfer gefordert hatte. Und gerade dafür war man ihm nicht dankbar, ganz im Gegenteil, man hasste ihn dafür. Er hatte Estland befreit vor den Fängen Hitlers und seiner Streitmacht, er hatte sein Leben riskiert für sein Vaterland, er hatte seine von ihm geforderte Pflicht erfüllt. Doch nach Hitlers Niederlage überschattete die Sowietunion Estland, und natürlich war mein Großvater, der stolze pflichterfüllende Soldat, das Symbol dafür.
Das Symbol, das man fortan hassen würde, weil die estnische Kultur unterdrückt und misshandelt wurde in der kommenden Zeit.
Mein Großvater hatte mit dieser Misshandlung recht wenig wenn sogar nichts zu tun, doch wem kann man sonst dafür die Schuld geben, als nicht dem russisch sprechendem Nachbarn, der bis jetzt einem die Heizung repariert hatte und mit dessen Kindern die eigenen immer gespielt hatten. Der Mensch kann es leider nicht ertragen, wenn der echte Schuldige nicht in Reichweite ist. Es fällt zu leicht seinen Zwilling dann zu strafen.
Seit dem Tod meiner Großmutter und unserer Ausreise hatte mein Großvater also niemanden mehr, der die Treppe für ihn bezwingen würde, beziehungsweise dies überhaupt tun wollte.
Als meine Schwester und ich die besagten vierzehn Jahre später nur noch fünf Treppenstufen vor uns hatten, öffnete sich die Tür, und ein alter abgemagerter Mann mit ergrauten Haaren erstrahlte in riesiger Freude über das Wiedersehen.
Es war ein sehr schöner Tag im September, die Sonne strahlte mit lebensfrohem Licht und versuchte vergebens sich durch die dicken zugezogenen Vorhänge des Wohnzimmers durchzukämpfen, wo wir unser Gepäck abstellten um endlich unseren Großvater umarmen zu können.
Wir brachten viele Leckereien mit, Apfelstrudel von unserer anderen Großmutter, mit Reis und Pilzen gefüllte Stullen (eine russische Spezialität), eine Torte und noch mehr Sachen, die wir extra besorgt hatten, um mit unserem Großvater zu feiern, da er zu Hause leider niemals feierwürdiges Essen hatte. Nur guten Tee, den mussten wir nicht besorgen, da er uns in dieser Disziplin um Längen voraus war.
Wir schickten ihn in sein Zimmer um sich auszuruhen, solange wir alles fertig machten. Meine Schwester wusch die Teller, die schon lange nicht mehr richtig sauber gemacht wurden, und brachte sie auf Hochglanz. Ich deckte den Tisch mit einer Tischdecke, die ich erst einmal durchschütteln musste, da sie wohl seit vielen Jahren nicht mehr aus dem Schrank geholt worden war. Die Küchenbank musste auch noch einmal schnell abgewischt werden und das Decken konnte endlich beginnen.
Die Torte – verziert mit schönen Sternen, Schokostäbchen und Vanillehalbkreisen – kam zentral auf den Tisch, umringt von den leeren Tellern, neben denen Gabeln mit Messern lagen, die alle auf die Torte von mir sorgfältig gerichtet wurden.
Es sollte nämlich zuerst die Torte als Hauptgang der Feierlichkeiten gegessen werden, um dann in die weniger süßen Gerichte überzugehen. Dann nämlich erst würde ich die Löffel platzieren für die Gemüsesuppe, die wir bereits gekocht hatten. Wahrscheinlich untypisch für andere Familien war diese Reihenfolge für uns aber ganz normal.
Der Tee war endlich fertig und füllte die alte gemütliche Küche mit schönem Ambiente. Es wurde schon langsam dunkel, und das Fenster bot eine schöne Aussicht, denn die Hochhäuser gegenüber lieferten ein schönes Lichtspektakel. Es gingen nahezu gleichzeitig fast alle Lichter an in den gegenüber liegenden Wohnungen, und man konnte Familien sehen, die bereits zusammen zu Abend aßen. In mir breitete sich ein Gefühl der Geborgenheit aus, das ich bisher bei dem Trip durch mein eigentliches Heimatland, welches mich nicht wollte, zu vermissen schien.
Es war nun fertig gedeckt. Wir riefen Großvater und er kam sofort, natürlich nicht ohne sich die Hände zu waschen. Er setzte sich auf den ersten Stuhl, der von der Eingangstür stand, und bedankte sich herzlich, nahezu mit Tränen, für den gedeckten Tisch.
Unglaublich, wie man jemanden erfreuen kann mit Fertiggerichten, einer Suppe und
einer Torte.
Wir tranken den Tee, aßen die sehr leckere Torte und redeten kurz bevor es zur Suppe kam. Er erzählte von den Sendungen, die er gesehen hatte, von den verstorbenen Schauspielerlegenden Russlands (oder Sowietunion besser gesagt), und sogar von einer neuen Telenovela, die erst seit kurzem lief, ihm aber sehr gefiel.
Obwohl wir nicht hergekommen waren, um uns eine Programmzusammenfassung des russischen Fernsehens anzuhören, hörten wir mit großer Aufmerksamkeit zu und versuchten viel auf sein Reden einzugehen. Wir wussten, dass er leider nicht viel zu erzählen hatte, da sich in seiner Wohnung nicht viel änderte, und sie so aussah wie vor mindestens zwanzig Jahren.
Wir fragten ihn, ob wir die Suppe servieren sollten, überraschenderweise lehnte er es ab und sagte, er wolle viel lieber noch einen Tee und ein Stück Brot mit Butter, fast sein Lieblingsessen aus seiner Kindheit. Ich packte das Brot aus dem Schrank und schmierte los, während meine Schwester Karten unter der Tischdecke hervorhob und sagte, wir könnten ja eine Partie „Durak“ spielen, das wohl beliebteste Kartenspiel Russlands.
Mein Opa meinte aber, er wollte nicht, da er sich nicht mehr so gut konzentrieren könne wie in seinen frühen Jahren.
Doch wir hielten es für eine sehr gute Idee ihn so lange zu überreden, bis er einwilligte. Wir hatten den Plan ihn gewinnen zu lassen, aber wir merkten schnell, dass nicht einmal schlechte Karten ihn aufhalten konnten. Er spielte sehr intelligent und trickreich, versuchte aber niemals bei einem Angriff meiner Schwester auf mich mir noch extra Karten reinzuwerfen, damit für mich nicht allzu früh jegliche Hoffnung auf den Sieg verloren ging. Ich hatte ehrlich gesagt noch nie eine so spannende Partie gespielt, da sie zu keinem Zeitpunkt vorhersehbar war, und jeder Angriff eine Überraschung lieferte. Vermutete ich zum Beispiel, dass mein Großvater sehr gute Karten hatte, spielte ich niedrige, da ich dachte, er würde sowieso jede schlagen. Dann kamen aber sehr niedrige zurück, und gerade das schlechtmöglichste, um meiner Karte genüge zu sein. Wer das Spiel kennt, wird verstehen, wie man sich bei einer solchen Situation ärgert. Spielte ich sehr hohe Karten, so nahm er sie auf um mich kurz vor Schluss mit diesen bloßzustellen und vernichtend zu schlagen. Unser Großvater hatte wohl noch ziemlich viel in sich, was wir nicht geahnt hatten bei dem ersten Anblick von ihm, als wir ihn auf der Treppe mit seiner gebrächlichen Statur erblickten.
Und so saßen wir, spielten, redeten dazwischen, wurden lauter, schrien, ärgerten uns. Es war schon längst ganz abgedunkelt, gegenüber im Haus leuchteten nur noch wenige Lampen, und wir fühlten uns schon müde nach der sehr langen Fahrt von Tallinn nach Tartu. Wir wollten aber so lange aufbleiben, wie es ging, da wir schon am nächsten morgen abreisen mussten. Das hätte wieder einen Abschied für mindestens ein halbes Jahr bedeutet, und bei dem schlechten Gesundheitszustand meines Großvaters musste man leider immer Tschüß sagen mit dem Gedanken, dass es das letzte sein könnte.
Als er nicht mehr Karten spielen wollte, blieb uns also nichts anderes übrig – da wir nicht noch mehr über das russische Fernsehen hören wollten – ihn über seine jungen Jahre auszufragen. Dies war aber sehr heikel, da wir keine bösen Erinnerungen wecken wollten, da er viele Verwandte verloren hatte im Weltkrieg und lange mit diesen Verlusten zu kämpfen hatte.
Er erzählte einige Sachen, wie sie zum Beispiel wochenlang nichts zu essen hatten, oder hunderte Kilometer weit fliehen mussten vor den Deutschen, wie auf dieser Flucht viele erfroren und an Hunger starben. Diese Geschichten hatten wir schon sehr oft gehört, von ihm, von unseren anderen Großeltern, und obwohl es schrecklich war, konnten wir dazu nichts mehr sagen und nahmen die Worte auf und dachten uns nichts mehr dabei.
Plötzlich kam mir in den Kopf, dass wir ihm noch gar nicht die gefüllten Stullen gegeben hatten, die Großmutter speziell für ihn gebacken hatte. Ich sprang auf und öffnete die kleine Box, in der sie sich befanden. Ein leckerer Geruch breitete sich schnell aus in der Küche, und ich erinnerte mich schlagartig an meine Kindheit in Estland, als ich diese schmackhaften Dinger jeden Tag essen durfte, wenn ich bei Oma zu Besuch war.
Es ist unglaublich, dass unsere Erinnerungen durch unterschiedliche Sinnesreize plötzlich anspringen können, und in uns Bilder hervorrufen können, die wir
Eigentlich verloren hatten. Jede Erinnerung wird in der Form abgespeichert, dass sie mit irgendeiner Sinnesinformation assoziiert werden kann, meistens ist dies ein Laut, bzw. Geräusch oder ein Bild. Fantastisch ist aber, dass der Geruchssinn die langwierigste Assoziation ist, er übertrifft das Hören und Sehen, und es gab schon viele Menschen, die sich 50 Jahre oder später daran erinnern konnten, wie sie im Nebenzimmer der Küche auf dem braunen verzierten Teppich an einem sonnigen unbesorgten Nachmittag mit einer kleinen Eisenbahn spielten, weil sie an zufällig derselben Hagebutte rochen, deren Geruch vor etlichen Jahren aus der Küche in dieses Zimmer strömte und sie ihn immer wahrnahmen, während sie sich so darauf konzentrierten einen guten Lokomotivfahrer abzugeben. Selbst die kleinsten Details können einem nach einem halben Jahrhundert noch wiederkommen. Zum Beispiel die Verzierungen der Eisenbahnwagons, wie viele Häuschen man an den Schienen aufgebaut hatte, oder wie man die Wagons immer gegeneinander fahren lies und dabei versuchte, mit vielen lauten „Bäm“s und „Boom“s das Geräusch des Unfalls nachzuahmen.
Ich war an diesem Abend jedenfalls nicht der einzige, dessen Geruchssinn einem Bilder vor den Augen abspielte. Mein Großvater stand auf, ging zum Fenster und legte seine Hand auf die kalte Wand. Er schaute einige Sekunden raus und holte einen tiefen Seufzer.
Er sagte: „Ich weiß, dass ihr all meine Geschichten schon oft gehört habt, und auch ich habe sie schon selbst gehört. Ich weiß schon gar nicht, welche Geschichten meine sind, und welche ich aus dem Fernsehen habe. Mein Kopf ist alt, er täuscht mich oft. Ich habe aber eine Geschichte, die ich noch nie jemandem erzählt habe. Ich musste viel zu lange damit kämpfen, ich habe damals wochenlang geweint, vor Freude, Trauer oder Wut, ich weiß es nicht mehr. Ihr seid nun alt genug Kinder, und bevor ich aus endlich sterbe...“
Meine Schwester rief seufzend dazwischen: „Aber Großvater...“, er lies sich aber nicht unterbrechen. „Bevor ich sterbe, will ich sie weitergeben. Damit ihr sie vielleicht in weiteren sechzig Jahren euren Enkeln erzählt, erzählt von dem Tag, an dem sich ihr Schicksal um Haaresbreite gegen sie entschieden hätte.“
Er holte noch einmal tief Luft, in seinem Kopf schienen sich viele Bilder zu überschlagen, seine Augen schauten links, rechts, runter, rauf, wieder links, wieder rechts, er war beinahe so aufgeregt wie an dem Tag, von dem er jetzt sprechen würde.
„Es war 1941. Ich war 13 Jahre alt, also ein Jahr bevor ich als Späher selbst in den Krieg ziehen sollte. Die Deutschen waren schon einige Zeit lang in dem Dorf, wo ich lebte. Sie hielten es besetzt und waren keine schönen Besatzer. Jeden Partisanen, der Widerstand leistete oder jeden, der auch nur ein Wort gegen sie sagte, erschossen sie vor den Augen seiner Kinder und Eltern. Und das schlimmste, sie holten eben diese Kinder und Eltern auch auf die Straße, riefen laut, dass alle anderen auch rauskommen sollten, und richteten die ganze Familie der Widerständler hin. Vor all unseren Augen. Die Kinder zuerst, damit die Eltern dies sehen könnten. Damit sie auf die Beine fielen und flehten. Damit wir alle sahen, was passieren würde, wenn wir Widerstand leisten würden.
Dann wurden wir wieder nach Hause geschickt. Und als wir ihnen den Rücken zukehrten hörten wir nur ihr Lachen und spürten die Steine im Nacken, die sie uns nachschmissen.
Es konnte keine Heldentat mehr sein, hier Widerstand zu leisten, denn wer dies tat, brachte nicht nur sich in Gefahr, sondern auch seine Kinder und Eltern.
Mein Bruder Wanja – möge Gott ihn schützen, wir werden uns sowieso sehr bald wieder sehen – dachte, es wäre seine Pflicht, das Mutterland zu beschützen, und alles zu riskieren, um nachher als Held dazustehen. Naja, er war eben erst sechzehn Jahre und begriff es nicht.“
Großvaters Augen glitzerten uns in ihrer grauen Farbe an. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der ein Meer aus Tränen weinte ohne dabei auch nur eine echte Träne zu vergießen.
„Wir hatten eine kleine Hütte am Rand des Dorfes, daher kannten uns die Soldaten noch nicht gut vom sehen. Wir lebten auf engstem Raum zu zwölft zusammen. Es war immer kalt, aus dem Wald Holz holen um unsere Häuser zu heizen durften wir nicht. Essen gab es gerade noch genug um nicht am eigenen Fleisch anfangen zu nagen. Unser Vater fing an zu trinken, denn das einzige was bei uns vorhanden war, war der versteckte Keller, nicht mit Wurst gefüllt war, sondern mit Wodka. Unsere Mutter war eine starke Frau, sie hielt unsere Stube immer sauber und kümmerte sich um uns Burschen und Mädchen. Wir waren eine echte Rackerbande. In der Hütte konnten wir ungestört sein, während unser Vater besoffen in der Ecke lag hüpften wir in der Mitte hin und her und spielten Krieg. Die eine Hälfte waren die bösen Deutschen, die andere die guten Russen. Natürlich endete es immer damit, dass die bösen Deutschen alle auf dem Boden lagen und sich tot stellten. Sogar ohne, dass die guten Russen „Bäng“ schrien. Die ließen sich einfach gleich fallen. Dann lachten wir und pieksten die auf dem Boden liegenden. Eines Tages, ich erinnere mich sehr genau, hatte Mutter Stullen gemacht, gefüllt mit Reis und Pilzen. Die Pilze hatten wir Kinder verbotenerweise im Wald gesammelt, hätte man uns erwischt... Jedenfalls war der Hunger größer als die Angst. Und der Reis, ich habe keine Ahnung mehr woher er kam. Jedenfalls sollte es ein Festtag werden mit einem Festmahl. Damit die Deutschen nichts mitkriegten verschlossen wir alle Fenster und machten keinen Laut. Kein Laut und kein Geruch sollten uns verraten.
Wir saßen am Ofen und wärmten unsere Hände, es war kälter als sonst. Ich hätte meine Hände am liebsten ins Feuer gesteckt. Trotzdem kicherten wir alle und lachten unsere Seelen wund. Der Geruch der Stullen füllte unsere Lungen. Ich hätte nicht glücklicher sein können. Ich ergriff die erste Stulle. Ich wollte gerade reinbeißen. Und genau da hörte ich Schüsse. Viele Schüsse, sechs oder sieben. Die Deutschen schrien irgendetwas. Ich glaube, sie riefen um Verstärkung. Dabei war es doch nur ein einziger dummer Junge, der nicht verstand, was für eine große Dummheit er machte.
Wir rannten sofort zur kalten Wand und pressten unsere Körper dagegen. Unser Haus war aus vielen aufeinander gestapelten Holzstämmen. Und auf der Südseite war eine kleine Lücke zwischen dem zweiten und dritten Baumstamm von unten. Durch diesen kleinen Schlitz konnten wir beobachten, dass die Deutschen mit mindestens zwanzig Mann kamen. Ich glaube, hätten sie gewusst, dass es sich um einen einzigen sechzehn jährigen Jungen handelte mit einer Pistole, die er irgendwo gefunden hatte, und noch nicht einmal wusste, wie er sie zu benutzen hatte, ja dann hätten sie noch mehr Männer gebracht um ihn zu umringen und mit ihm zu spielen.
Es war Wanja, mein dummer, dummer Bruder, der sich als Held aufspielen musste. Er schrie „Mutter, ich liebe dich!“, nachdem die Kugel ihn getroffen hatte, und er die letzten Luftzüge nahm. Mutter war schon an der Tür, wir mussten sie alle zurück zerren. Wir Kinder schienen die Erwachsenen in dieser Situation zu sein. Mein Vater, in der Ecke kullernd und nichtsbegreifend wie ein dummes Baby, und meine Mutter, der ihr Leben und das von uns allen weniger wert war als das von Wanja.
Ich musste meiner eigenen Mutter den Mund zuhalten. Damit die Schreie um ihren ältesten Sohn die Deutschen nicht erreichten. Meine Hände wurden feucht von ihren warmen Tränen. Ihre warmen Tränen, sie waren wärmer als jedes Feuer das ich mir hätte wünschen können um meine Hände zu wärmen. Ihre warmen Tränen...
Und meine kalten Hände. Ich schäme mich richtig. Armer Wanja, er begriff einfach nicht. Er schrie noch einmal „Mutter!“ bevor ihn die anderen Kugeln trafen und verstummen ließen. „Mutter!“, ich werde nie vergessen, wie zusammengekauert ich da saß, nachdem sich Mutter beruhigt hatte, und ihren Schmerz auf dem Boden liegend, mit ihrem Kopf nach unten, ausweinte. Ich beobachtete lange. Minuten, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Stunden sagen. Sogar Tage.
Er lag da, die Deutschen trauten sich nicht zu nähern. Sie dachten vielleicht, es handelte sich um einen geplanten und organisierten Angriff von einer ganzen Truppe. Aber nein, der Partisan war alleine und längst besiegt bevor er überhaupt einen Schuss abgegeben hatte. Ich sah ihn dort liegen. Ich sah sein Gesicht. Er hatte Tränen auf seinen roten dünnen Backen. Seine Hand lag weit neben der Pistole. Seine von den Schüssen zerrissene Jacke war überall nass vom Schnee. Und da sah ich es.
Den Pass. Das kleine Büchlein, welches all unseren Tod bedeuten würde, wenn sie ihn fänden. Sie kannten Wanja nicht, ausgeschlossen, aber würden sie erst einmal den Pass sehen, so wüssten sie, dass er ein Bermatov war, und das ganze Dorf würde uns verraten, da keiner seine eigene Familie erschossen werden sehen will.
Der Pass lag halb raus schauend in der Brusttasche. Ich begriff wie ernst die Situation war und meine Tränen wandelten sich schnell in Wut um über Wanjas Dummheit.
Die Deutschen trauten sich immer noch nicht. Es war schon eine Stunde vergangen, und der Geruch der Stullen war schon längst weg. Ich fror am ganzen Körper, und meine Nase spürte ich gar nicht mehr, weil sie durch den Schlitz halb rausschaute. Ich konnte nicht aufhören zu beobachten. Ich erwartete jeden Moment, dass ein Deutscher den Pass finden und sofort einen Trupp in unser Haus schicken würde.
Erst nach zwei oder drei Stunden trauten sich zwei sehr junge Deutsche an die Leiche, sie waren gerade so alt wie Wanja. Wahrscheinlich hatte sie ein feiger General vorgeschickt, da ihm ihre Leben egal waren. Ein Schritt, zwei Schritte, es schien zwischen jedem eine halbe Ewigkeit zu vergehen. Ich konnte sehen, wie sie zitterten in der Kälte, wie sie sich fürchteten vor mehr Partisanen. Noch ein Schritt. Noch einer in unsere Vernichtung.
Auf einmal schrie irgendjemand etwas und die Deutschen feuerten aus dem Hintergrund. Diese Idioten. Ich weiß nicht wer geschrien hatte, jedenfalls kein Partisane. Und diese Feiglinge erschossen vor Aufgeregtheit ihren eigenen Mann, der gerade so ein Junge war wie Wanja. Der andere, der verschont blieb, stand immer noch. Starrer Blick gerade aus, und keine Ahnung, was um ihn geschah. Alle schrien aus dem Hintergrund irgendetwas. Immer lauter. Endlich streckte der junge Soldat seine Hand in Richtung Wanja. Er drehte ihn um und schrie etwas zurück. Wahrscheinlich, dass es nur ein junge war, jedenfalls schien es die Situation zu beruhigen. Die Deutschen kamen alle heraus aus ihren Verstecken und gingen zu Wanja. Sie durchsuchten den Körper, fanden die Pistole, zogen ihm die Jacke aus, stocherten überall herum. Ich konnte nichts mehr erkennen, weil meine Sicht von den vielen Deutschen versperrt war. Als sie gingen lag der Pass auf Wanjas Brust.
Sie ließen ihn einfach liegen. Ich wusste, dass es unser Ende war. Sie wussten nun , dass er ein Bermatov war. Sie würden bald herausfinden, wo wir wohnten, und dann würden sie elf Kugeln durch unsere Köpfe jagen.
Doch es kam stundenlang niemand. Die Nacht brach ein. Immer noch niemand.
In dieser Nacht schloss ich für keine Sekunde meine Augen. Jeden Moment würde die Tür aufbrechen und die Deutschen würden über uns schreiend herüber fallen. Ich hörte sie schon kommen. Ich hörte das Bellen der Hunde. Das Knattern der Gewehre.
Ich würde dann zum Schlitz aufspringen und in die Dunkelheit rausschauen. Minutenlang. Aber ich sah nichts. Niemand kam. Nur Wanja lag immer noch da.
Und ich wunderte mich, warum sie nicht kamen.
Auch den ganzen nächsten Tag kam niemand. Kein Laut im ganzen Dorf. Nur meine weinende Mutter und ein fluchender Vater, der endlich erfahren hatte, was passiert war, nur um sich die nächste Flasche zu gönnen.
Die nächste Nacht brach herein.
Ich beschloss, mich zu Wanja zu schleichen und den Pass zu nehmen, bevor die Deutschen unsere Schrift lesen lernten und endlich kommen würden. Als alle schliefen kroch ich langsam raus und durch den kalten Schnee. Zu Wanja. Sein Körper war längst gefroren, er fühlte sich an wie ein toter Baum. Irgendwie schien ich nicht zu weinen, aber ich hatte ein bitteres Gefühl in mir, was ich nie wieder so stark in meinem Leben fühlte, außer beim Tod meiner Mutter. Dennoch war ich immer noch wütend auf Wanja, dass er so dumm gehandelt hatte, und vor allem, dass er seinen Pass dabei hatte.
Ich nahm also den Pass, der ebenfalls ganz gefroren war. Ich merkte aber, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Und ich verstand, dass der älteste unserer Bande, der schlauste und zuverlässigste doch nicht so dumm war. Er war zwar dumm genug gewesen um hoffnungslosen Widerstand zu leisten, aber nicht um unsere Familie in Gefahr zu bringen.
Alle Seiten im Pass waren ausgerissen oder bis auf Unkenntlichkeit zerritzt. Die Deutschen hätten nie im Leben herausfinden können, was da stand. Deshalb ließen sie den Pass auch liegen und die Leiche, weil sie damit nichts erreichen hätten können.
Deshalb war Wanja in diesem Moment mein Held. Er hatte unsere Familie gerettet.
Er hatte wahrscheinlich sogar gewusst, dass er sterben würde, und deshalb die Seiten ausgerissen. Ich umarmte ihn noch einmal und gab ihm einen Kuss auf seine Backe, und schlich dann zurück in mein Bett.
Ich erzählte alles meiner Mutter am nächsten Tag.
Und Wanjas Aktion hatte doch etwas gebracht. Nach seiner vermeintlichen Heldentag schlossen sich immer mehr Partisanen in unserem Dorf zusammen und lehrten den Deutschen das Fürchten. Auch wenn viele von ihnen noch fallen sollten, so trauten sich die Deutschen nicht mehr die Familien zu ermorden, da sie Angst hatten, all unsere Wut würde noch stärker zurückkommen.
Wanja hatte etwas Großes vollbracht. Und bald werde ich es ihm persönlich sagen können.
Aber jetzt gehe ich ins Bett. Es ist spät für so einen alten Mann wie mich.
Und ihr Kinder solltet auch schlafen gehen. Seid dankbar dafür, dass ihr einen ruhigen Schlaf haben könnt. Ich hätte damals alles dafür gegeben.“
Mit diesen Worten lies Großvater endlich ab von der Wand und dem Fenster und wandte uns den Blick zu. Er lächelte und umarmte uns zum Abschied.
In der kommenden Nacht konnte ich wegen dieser Geschichte nicht schlafen.
Ich dachte die ganze Zeit: Was wäre, wenn Wanja die Seiten damals nicht ausgerissen hätte. Was, wenn er überhaupt niemals ein Partisan geworden wäre, wäre er auch hier gefangen im obersten fünften Stockwerk.
Und was, wenn die Sowietunion sich niemals aufgelöst hätte, ob Großvater dann immer noch ein Leben hinter den Treppen führen würde.