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Ein Jahr und zehn Sekunden
Der letzte Versuch
Es war wirklich eine gute Idee gewesen, dass Philippe mich zum abendlichen Treffen seines Leistungskurses mitgenommen hatte. Mit vielen Menschen um uns herum gerieten wir seltener in Versuchung, uns diese zweideutigen Blicke zuzuwerfen, die in einer Freundschaft eigentlich nichts verloren hatten. In letzter Zeit waren wir zu oft mit uns alleine gewesen.
Philippe saß mir nicht einmal gegenüber, sondern neben mir. So hatte ich nicht ihn, sondern seinen korpulenten Lehrer im Blickfeld, der mit dröhnender Stimme lachte und Anekdoten zum Besten gab. Ich drehte den Kopf, um Philippe nach einer Zigarette zu fragen. Er kniete auf dem Boden. „Philippe, was...?“ Er nahm meine Hand. Inzwischen waren ein paar Leute auf uns aufmerksam geworden und reckten neugierig den Hals. Mich erfasste eine ungute Vorahnung. „Chelli, willst du meine Frau werden?“ Ich starrte ihn an.
„Philippe, ich liebe dich.“
„Später, Liebling, jetzt halt mal kurz die Klappe, ich muss noch schnell...“ Er wandte den Kopf und fixierte mich. „Was hast du gesagt?“
„Ich liebe dich.“
Philippe öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Das meinst du nicht ernst.“
„Doch, eigentlich schon. Was meinst du? Liebst du mich?“
„Nein, Liebling, ich liebe dich nicht. Wir sind befreundet. Schon vergessen?“
„Nun, du bist mit mir befreundet. Ich bin in dich verliebt.“
„Scheiße.“
Philippe und ich lösten das Problem, indem wir uns zwei Zigaretten drehten, uns schweigend ansahen und probehalber küssten. Ich habe heute immer noch Alpträume davon. Philippe lockerte unsere Umarmung und sagte: „Jetzt weiß ich definitiv, dass ich keine Gefühle für dich habe.“ Er sah sehr zufrieden aus. Dann steckte er sich die Zigarette an.
Jetzt kniete er vor mir und sein Blick verdüsterte sich zunehmend.
„Chelli, was ist los? Meinst du nicht, dass man auf eine solche Frage antworten sollte?“
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
„Auch eine Antwort. Etwas lang. Vorerst würde mir ein simples „Ja“ oder „Nein“ genügen.“
„Philippe, wie kommst du auf die absurde Idee, mich heiraten zu wollen?“
„Genügt dir nicht, dass ich es will?“
„Nein.“
Er seufzte.
„Du bist die Frau meines Lebens. Und ich habe nie verstanden, wo der Unterschied zwischen unserer Freundschaft und einer festen Beziehung ist. Also können wir auch heiraten.“
„Wir haben keinen Sex.“
„Vielleicht haben wir bis zur Hochzeitsnacht gewartet.“
Er zwinkerte mir zu. Ich war kurz davor durchzudrehen.
Es stimmte, dass Philippe und ich uns wie ein Pärchen verhielten. Fast jeden Tag saßen wir in unserem Stammcafé und redeten so lange, bis uns die Bedienung entnervt aufforderte zu gehen. Wir liefen händchenhaltend durch die Stadt und lagen auf Partys gemeinsam vor Lachen und Alkohol auf dem Boden. Waren wir müde, lehnte sich Philippe an mich und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Machten wir blau, kam Philippe vorbei und wir gingen gemeinsam frühstücken.
Dass ein derartiges Verhalten nicht unbedingt dazu beitrug, meinen Liebeskummer zu mindern, war natürlich klar. Trotzdem konnte ich nicht anders, als wenigstens das zu nehmen, was Philippe mir freiwillig gab.
Als wir beide eines Nachts betrunken auf Philippes Zimmerboden saßen, forderte ich ihn auf, die Augen zu schließen und alles um sich herum zu vergessen.
„Für zehn Sekunden.“
Philippe kicherte. Ich glaube nicht, dass er wusste, was auf ihn zukam.
Ich küsste ihn.
Philippe schreckte so schnell zurück, als habe er sich verbrannt. Sein bitterer Geschmack blieb auf meinen Lippen zurück.
„Was zum Teufel?“
Hatte er das gerufen oder war es meine Stimme gewesen?
Ich stand auf.
„Philippe, ich kann nicht mehr. Kann dir nichts mehr vorspielen, kann mir nichts mehr vorspielen. Ich kann niemandem mehr eine Freundschaft vorspielen, die es nie gab!“
„Das heißt konkret?“
„Philippe, ich werde jetzt gehen.“
Drohend wie ein Damoklesschwert erhob ich meinen Zeigefinger. Drohend verlies ich Philippes Wohnung. Drohend blieb meine Drohung im Hintergrund unserer Freundschaft. Aber sie war eben das, was sie war: Eine Drohung.
„Philippe, du liebst mich nicht!“
Wir standen inzwischen im Mittelpunkt der gesamten Kneipe, was nicht sonderlich verwunderlich war. Ich war laut geworden. Philippe kniete immer noch in einer sehr unbequemen Haltung auf dem Fußboden.
„Chelli, was ist denn Liebe? Was?“
Ich war sprachlos. Jetzt noch eine Grundsatzdiskussion?
„Schau mal. Du glaubst mich zu lieben. Glaubst du. Und warum? Aufgrund einiger, sehr fadenscheiniger Indizien. Du freust dich darauf, mich zu sehen. Du verspürst oft das Verlangen, mich zu küssen. Du magst meine Fehler und meine Frisur. Dazu kommt ein tiefes Gefühl der Zuneigung. Und das ist Liebe?“
Die Antwort blieb ich ihm schuldig. Ich hatte das Lokal verlassen.
Philippe rannte mir hinterher.
„Hey Chelli, jetzt bleib doch mal stehen. Okay, das mit der Hochzeit war eine dumme Idee. Ich dachte, du fändest es ganz lustig, einen guten Freund zu heiraten. Anscheinend ist das nicht der Fall. Bleib jetzt stehen. Hey!“
Ich drehte mich ruckartig um. Philippe hätte mich fast über den Haufen gerannt.
„Du glaubst also, meine Liebe besteht darin, dass ich deine Frisur mag?“ Meine Stimme war angestrengt ruhig. „Du hältst diese ganze Geschichte wohl für eine lustige Unterhaltung, wie? Nimmst mich nicht ganz ernst in meiner pubertierenden Liebe? Und dann hältst du es für einen gelungenen Witz, mich zu fragen, ob ich dich heiraten will?“
„Chelli, ich...“
„Jeden Morgen frage ich mich, warum ich nicht neben dir aufwache. Jeden Abend suche ich deinen Arm, der sich beim Einschlafen um mich legt. Ich habe jede verdammte Nacht Alpträume von dir. Reicht das nicht? Muss ich jetzt auch noch eine Phobie vor Heiratsanträgen entwickeln?“
„Nein, ich...“
„Philippe, lass uns diese Freundschaft beenden. Mir tut sie nur weh und dich bringt sie auf dumme Gedanken.“
„Chelli!“
Zu spät. Ich hatte mich schon umgedreht und war im Begriff zu gehen. Er folgte mir nicht. Also ging ich tatsächlich.